Vorwort
I.
Es gibt einen Standardsatz, den Opernfreunde und Konzertbesucher wie eine Beschwörung aussprechen, wenn sie sich verweigern wollen. Wann äußern sie diesen ominösen Satz? Nun, falls sie das Pech haben, nach einer fesselnden Wagner-Aufführung oder während eines schwungvollen Beethoven-Konzerts ausgerechnet einem vermeintlichen Fachmann, im Härtefall gar einem gestrengen Herrn Musikkritiker, in die Arme zu laufen. Dann sagen sie stets: »Ich liebe Musik, aber ich verstehe nichts von ihr.« Und sind entwischt.
Früher ließ ich mich durch diesen Satz täuschen. Wer ihn äußert, glaubte ich, der wolle bescheiden mitteilen, er halte sich nicht für einen Fachmann, er nehme Musik mit Gefühl und Seele auf, statt sie kühl rational zu analysieren und zu bewerten. Mittlerweile begreife ich die Äußerung besser. Jemand, der offenbar freiwillig und gern Konzerte besucht, für Opern schwärmt, Schallplatten hortet – der hat nämlich durchaus einen Eindruck, in dem bildet sich gewiss ein Gefühlsurteil. Manchmal vielleicht ein richtigeres, zutreffenderes, als jene hochgestochenen Bewertungen, wie sie Fachleute, von Theorien erfüllt oder auch verstört, ausbrüten. Der leidenschaftliche Laie, der auf die Botschaft großer Musik mit emotionaler Hingabe reagiert (unmusikalisch, unsachlich verhielte er sich, wenn er die eigene Subjektivität nicht einbezöge, er ist schließlich Mensch und kein Messinstrument), ein solcher Laie fühlt schon, was ihn packt, was ihn kalt lässt, wo er Passion spürt und wo nur leeres Geklingel. Trotzdem zieht er sich manchmal zwanghaft auf die Formel zurück, er liebe Musik, verstehe aber nichts von ihr … Warum? Meine Antwort: Dabei handelt es sich um eine Schutzbehauptung. Um Selbstschutz. Wer etwas erlebt hat, möchte sich seinen Eindruck nicht gleich zerreden lassen. Als »Laie« ist man einem routinierten Profi natürlich terminologisch unterlegen. Darum flieht der engagierte Amateur, gerade wenn er feiner empfindet, musikalischer hört als ein Profi, der an das Hantieren mit Begriffen und technischen Standards gewöhnt ist, vor verbaler Vergewaltigung in die Formel, er liebe, aber er verstehe nicht. Als ob nicht »Lieben« durchaus etwas mit »Erkennen« zu tun hätte. Die alten Griechen hatten sogar ein Wort, das beides zugleich meinte.
II.
Nun muss man sich keineswegs in schreckliche theoretische Unkosten stürzen, um fähig zu sein, einen eigenen Musikeindruck nicht nur zu haben, irgendwie zu empfinden – sondern auch andeutungsweise vernünftig in Worte umsetzen zu können. Ohnehin spürt, wer mit großer Musik zwischen Monteverdi und Verdi, zwischen Bach und Berg irgend einmal in Kontakt kam, dass diese Werke viel zu schön, lebendig, aufregend, herzbewegend, ja »unter die Haut gehend« sind, als dass sie nicht doch dazu verlockten, über ihre Fülle zu reflektieren, Verschiedenheiten zu fixieren, die offenbare Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten zu bedenken. Musik: was für eine reine, den abnutzenden Alltagsrealitäten dank ihrer Kunstsprache so wunderbar entzogene tönende Welt! Viele Musikfreunde, die etwas von der Würde dieser Welt ahnen, die vielleicht sogar neidvoll mit ansehen, wie sicher und kundig sich die Musikprofis in dieser Welt zu bewegen scheinen, sehnen sich auch nach einem Zugang. Einer Initiation. Einer hilfreichen Information, die weder zuviel voraussetzt noch hochgestochen abschreckt.
Darum entstand die Woche für Woche in der Bunten erscheinende Kolumne Kaisers Klassik. Eine Serie für Leser guten Willens. So journalistisch gemacht wie möglich – und nah an den Werken wie nötig. Ein Wagnis. Das überraschenderweise viel mehr Leser zu schätzen wussten, verfolgten, sich sogar ausschnitten (und auch in Plattengeschäften ungeduldig nach den empfohlenen CDs fahndeten), als pessimistische Kulturkritiker je unterstellt hätten. In einer Wüste aus Steinen modisch-munterer Betriebsamkeit, die für sofortiges Vergessenwerden produziert wird, sehnen sich nicht wenige nach dem Brot einer eben nicht nur für baldigen Verbrauch bestimmten großen Musik.
III.
Jede Serie hat ihre Gesetze und entwickelt sie weiter. Mir liegt daran, dem Leser gewisse Informationen in Form einer Geschichte, einer Anekdote oder einer These so darzubieten (»unterzujubeln«), dass er gar nicht merkt, wie er etwas lernt, sondern ein bisschen Spaß an der Anekdote oder an der handfesten These empfindet. Dann ist er gewonnen. Doch neben dem Stoff – »wie entstand das Werk?« –, neben dem Erklärungsversuch – »was hat es zu bedeuten?« – muss der Leser diesseits einer solchen passiven Haltung des braven Aufnehmens auch die Chance zum selbstständigen, ja widersprechenden, aufbegehrenden eigenen Urteilen haben. Sonst wendet er sich doch bald gähnend ab. Diese Provokation zum eigenen Urteil sollen meine wohlerwogenen Schallplattentips besorgen. Ich behaupte über die Werke und ihre Herrlichkeiten dies und das. Aber ich wäre widerlegt, wenn die von mir als »fesselndste« Interpretationen in wertender Reihenfolge genannten Schallplatten für den Hörer nicht halten, was mein einführender Text versprach; wenn meine Leser keine Beziehung spürten zwischen den geliebten Werken und den gelobten Interpretationen. Oft genug werden berühmte oder auch entlegene CDs hier ja nicht bloß genannt, vorgestellt, sondern ich belege konkret – mit präziser Angabe von Minute und Sekunde –, wo und wie sich das Besondere abspielt. Damit möchte ich nicht der Wunschkonzertbegeisterung für »schöne Stellen« Konkurrenz machen (obwohl »schöne«, aufschlussreiche Stellen auch keineswegs verachtenswert – nur eben nicht das Ganze sind). Sondern ich will mit derartigen Stichprobenmomenten die Neugier von Lesern und Hörern aktivieren. Donnerwetter, soll der Leser sagen, was da in der Durchführung des Kopfsatzes von Beethovens Symphonie Nr. 9 passiert, wenn Furtwängler sie gestaltet! (»Wer’s nachprüfen möchte: Take I, nach 9.32« – heißt es dazu in unserer allerersten Kolumne.) Vielleicht kann jene Emotionsgewissheit, die sich in Kunst meist ganz plötzlich herstellt (im Zusammenhang mit einem besonderen Satz oder Wort oder Kontrast), vielleicht kann solche Emotionsgewissheit sich mit Hilfe von konkreten, oft minuziösen Hinweisen ergeben und den Leser dazu bringen, dass er mehr, dass er das Ganze, dass er auch die Abweichungen oder interpretatorischen Variationen kennen lernen will. Dann wäre er gewonnen.
IV.
Es ist nicht leicht, »leicht« zu schreiben und dabei etwas zugleich Persönliches und sachlich Stimmiges zu bieten. Wenn von Musik die Rede ist, kann ich auf Ausdrücke wie »chromatisch« oder »Mollparallele« nicht völlig verzichten, falls ich nicht nur blumige Umschreibungen liefern möchte, sondern Mitteilungen über spezifisch Komponiertes. Aber der Terminus technicus lässt sich auch bieten und zugleich unauffällig umschreiben. Dann kapiert der Leser, ohne zu merken, dass er zugleich lernt. Vielleicht habe ich manchmal jüngeren Interessenten den Zugang erschwert, indem ich – wo es um die fesselndsten Interpretationen ging – weniger auf perfekte Tonqualität achtete als auf geistig-interpretatorische Qualität. Künstler wie Lotte Lehmann, wie Furtwängler, wie Cortot, Solomon, Rachmaninow, deren Aufnahmen oft älter sind als ein halbes Jahrhundert (und die manchmal klingen, als habe in dumpfem Keller eine Gießkanne als Mikrofon gedient), werden hier nicht aus bloßer Erinnerungspietät genannt – sondern weil mir die schöpferischen Leistungen mancher Giganten nach wie vor unüberholt scheinen.
Nun bin ich aber nicht so weit gegangen, auch Langspielplatten zu empfehlen (und nicht bloß CDs). Dies aus einer ganz praktischen Erwägung: Viele, zumal jüngere Interessenten besitzen keine Geräte mehr, um Langspielplatten oder gar die alten Schellackaufnahmen mit 78 Umdrehungen pro Minute abzuspielen. So beschränkte ich mich, manchmal seufzend, auf CDs. Viele wichtige Interpretationen liegen aber nur auf Langspielplatte vor, sind auf CDs nicht existent oder greifbar.
V.
Diese Klassikkolumne erschien seit mehr als zwei Jahren Woche für Woche. Mich braucht nun niemand sehr daran zu erinnern, wie kurz eine Woche ist. Man denkt, man hätte seine Pflicht getan, plant eine Reise, einen Ferienaufenthalt: Sogleich erhebt sich wieder lautes Weheklagen der Nachschub fordernden Redaktion. Die Beschränkung auf Kürze mag für die Leser angenehm sein. Mein alter Verleger und Freund Dr. Albrecht Knaus versicherte mir sogar (gehässig lachend), endlich müsse ich mich konzentrieren, könne Gott sei Dank aus Platzgründen meiner Manie der drei Pünktchen nicht mehr nachgeben. (Alte Verleger sind so hässlich …) Die immer gleiche Kolumnenlänge hat grausame Konsequenz: Ich kann über Wagners Parsifal nicht eine einzige Zeile mehr schreiben als über Chopins Balladeg-Moll oder Ravels Bolero. Na und? Nun, die Parsifal-Partitur ist fast 900 Seiten stark, die Handlung tiefgründig, verwickelt, symbolschwer, die Musik zarter als der blechgepanzerte Ring des Nibelungen, voller Klangwunder und Abgründe. Chopins Ballade, ein geniales Werk, dauert nicht einmal so lange wie das Vorspiel zum ersten Parsifal-Akt. Das schafft Probleme der Beschränkung, der Auswahl, des Weglassens.
Sie sind nur lösbar unter der Voraussetzung, dass hier keineswegs »erschöpfend« informiert werden kann und soll. Mein Ziel ist vielmehr: In...