Zur Einführung: Weiterdenken – weitergehen
Evangelische Landeskirchen und katholische Bistümer befinden sich in einem epochalen Umbruch. Viele merken es: die bisherigen Aktivitäten erfahren geringere Resonanz, Strukturen tragen nicht mehr. Die weniger werdenden Pfarrerinnen und Pfarrer und auch Presbyterien ächzen unter der Last immer neuer, zusätzlicher Aufgaben. Leitung stößt an ihre Grenzen, erkennbar an Problemstau und Perspektivenschwäche. Die Frage nach dem Warum und Wozu, nach Sinn- und Funktion bisheriger kirchlicher Lebensformen und auch der Kirche selbst ist in ihrer Mitte angekommen.
Die Kirchengestalt, die in den letzten 50 Jahren kirchliches Leben geprägt hat, vergeht – nicht weil die Kirchen und ihre Mitarbeitenden versagt, zu wenig gearbeitet oder sich nicht genug bemüht hätten. Sie vergeht, weil sich die Rahmenbedingungen fundamental verändern. Die beiden großen Kirchen leben unter neuen Realitäten. Mit ihnen gilt es umzugehen.
Nachdem über 250 Jahre lang die Zahl der Kirchenmitglieder demographisch bedingt wuchs, sinkt sie seit 1968 – eine Entwicklung, die auch im Jahr 2050 noch nicht beendet sein wird. Nach über 100 Jahren Kaufkraftzuwachs geht die kirchliche Finanzkraft langfristig zurück. Und in den 2020er Jahren treten die Babyboomer in den Ruhestand ein, wodurch sich die Anzahl der Pfarrerinnen und Pfarrer deutlich verringern wird. Hinzu kommt, dass die Tradierungsprobleme des Glaubens seit langem anhalten und sich angesichts von Individualisierung und Pluralisierung zu verschärfen drohen.
Manche deprimiert das. Insbesondere Kirchenleitende sprechen vom »Bedeutungsverlust« der Kirche, andere von Niedergang. Gefordert wird good und best practice, Ausschöpfen von Einsparpotentialen, Verbesserung der Abläufe. Und vor allem reagieren Landeskirchen durch einen Rückbau von Strukturen und Einsparungen – häufig nach dem Rasenmäherprinzip und in der Absicht, vom Bisherigen so viel wie möglich zu erhalten.
Erneuerung, nicht Optimierung
Die Einschätzung, es ginge in den laufenden Reformen nur um eine Optimierung des Bestehenden, dürfte jedoch täuschen. Die Veränderungsnotwendigkeiten reichen tiefer.
Je nach Umfang und Tiefe ist der Wandel einer Organisation eher als Optimierung oder als Erneuerung zu charakterisieren. Während Optimierung mit einem Fine-Tuning innerhalb gegebener Strukturen und Muster verglichen werden kann, ist von Erneuerung zu sprechen, wenn
kollektive Denk- und Deutungsmuster,
das Selbstverständnis und die Identität,
die Einbettung in die Umwelt,
grundlegende Aufgaben und Leistungsangebote,
organisationale Routinen, Interaktionsformen und Haltungen im Blick auf Anspruchsgruppen,
Formen der Führung und Zusammenarbeit,
Prozessarchitektur und Prozessmuster
oder zumindest eine der genannten Kategorien mit erheblichen Auswirkungen betroffen sind.
Wie es scheint müssen sich die Landeskirchen in jeder dieser Hinsichten verändern. Der Wandel ist breit in seinem Umfang, denn es sind viele Arbeitsfelder, Tätigkeitsbereiche, Prozesse und Menschen gleichzeitig in die Veränderungen involviert, und dies flächendeckend. Der Wandel ist tief und von großer Tragweite, weil die strukturellen Festlegungen, das kulturelle Selbstverständnis und die organisationalen Routinen betroffen sind. Und der Wandel vollzieht sich mit hoher Geschwindigkeit, er ist intensiv.
Angesichts des dreifachen »Weniger« (Mitglieder, Finanzkraft, Personal) haben Landeskirchen und Bistümer die Wahl zwischen mangelinduzierter Restrukturierung und auftragsorientierter Reform, zwischen der Verwaltung des Ressourcenrückgangs und der Gestaltung der Transformation. Verwaltung des Ressourcenrückgangs heißt: weiter wie bisher, aber auf niedrigerem Level und unter erschwerten Bedingungen. Gestaltung der Transformation bedeutet, die Muster des Handelns, das Verhältnis zur Umwelt, die Identität, die Kultur und Arbeitsweise weiter zu entwickeln, um dadurch neue Möglichkeiten und Chancen einer Kirche im Werden zu entdecken und zu nutzen.
Soziale Systeme sterben, wenn sie an gewachsenen Formen festhalten. Lebendig ist eine Kirche, die sich an ihrem Auftrag orientiert, lebensfähig eine Organisation, die ihre Funktionalität durch Wandel wahrt.
Jeder Versuch, die bisherigen Handlungsmaximen und -muster beizubehalten, läuft zwangsläufig auf eine Mangelverwaltung hinaus. Der Mut zu neuen Handlungsmustern birgt die Chance erneuernder, auftragsgemäßer Selbstgestaltung.
Je länger eine Landeskirche oder eine Diözese als Organisation an bisherigen Maximen festhält, desto stärker dürfte sie in Bedrängnis geraten und umso härter wird sie irgendwann umsteuern müssen – sofern sie dann noch über die nötigen Mittel verfügt.
In der Transformationskrise ist eine Verunsicherung über Wesen, Wege und Formen christlichen Lebens eingetreten: Wer sind wir als Kirche? Was ist unser Auftrag? Wohin soll es gehen?
Diese Fragen stellen sich nicht zum ersten Mal. Vieles, was an kirchlichem Leben und kirchlicher Organisation heute normal ist, stellte ursprünglich eine zunächst ungewohnte Reaktion auf ähnliche Verunsicherungen dar.
Die Gründung diakonischer Einrichtungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa war eine solche Innovation kirchlichen Lebens. Die Motivation Bedürftigen zu helfen ist so alt wie das Christentum, die Form von privaten Stiftungen und modernen Vereinen war damals etwas Neues. Auch unsere heutigen, territorial kleinräumigen Kirchengemeinden, die ihren eigenen Pfarrer, ihre eigene Kirche und vor allem ihr eigenes Gemeindehaus haben, galten um 1900 als »revolutionäres« Gemeindekonzept.
Diese wenigen Beispiele zeigen: Was heute vergeht, war vor gar nicht allzu langer Zeit eine Innovation, die sich gegen Widerstände durchsetzen musste. Vor allem aber zeigen sie: Das Christentum war immer innovativ. Warum soll heute nicht gelingen, was damals gelang?
Seit Mitte der 1990er Jahre führen viele Landeskirchen und Bistümer Rückbaumaßnahmen und Strukturreformen durch. Doch wenn es nicht um eine Optimierung, sondern um eine Erneuerung kirchlicher Organisation und kirchlichen Lebens geht, dann heißt das, alle Aspekte kirchlichen Lebens und kirchlicher Organisation sind weiter zu entwickeln und aufeinander zu beziehen. Es hilft nicht, »geistliche Erneuerung« und »Strukturreform« als Gegensätze zu konstruieren. Ein ganzheitlicher Blick ist gefragt und nötig.
Wenn das Bisherige fragil wird, tut man gut daran, inne zu halten, sich des eigenen Standorts zu vergewissern und sich zu besinnen. Soll Gemeinde weitergehen, muss sie weiter denken.
Weiterdenken
Der erste Teil des Buches stellt sieben Überlegungen an, die auf die Ermöglichung neuer Gestalten kirchlichen Lebens zielen. Sie beziehen sich auf den Kirchenbegriff, die bisherige Entwicklung der Landeskirchen als Organisationen, ihre Struktur, Leitung, Politik und Kultur.
Kapitel eins skizziert einen dreifachen Kirchenbegriff, um deutlich zu machen: Es ist der Auftrag, dem unsere Kirche und unsere Gemeinden treu bleiben sollen, nicht die aktuellen sozialen Formen und organisationalen Strukturen. Die sind veränderbar und gehen weiter.
Der zweite Abschnitt hilft einzuschätzen, wo unsere Gemeinden und Landeskirchen als Organisationen stehen, wie sie dorthin gekommen sind und wohin es gehen kann.
Das dritte Kapitel erläutert die Vorzüge von Netzwerkstrukturen gegenüber der aktuellen territorialen und funktionalen Versäulung.
Kapitel vier beantwortet die Frage, warum sich auch kirchliche Leitung weiterentwickeln muss und unter den Bedingungen von Dynamik und Komplexität eine Steuerung durch Leitbilder und Konzepte weiter führt.
Das fünfte Kapitel beschreibt, was grundlegend für die Entwicklung kirchlicher Konzepte ist: die Orientierung am kirchlichen Auftrag und an den Lebensräumen und Lebenswelten der Menschen.
Eine Kirche, die sich nicht verändern will, obwohl doch alles um sie herum sich ändert, wird niedergehen. Lebendig ihrer Aufgabe nachkommen wird sie, wenn sie sich neu in ihren gesellschaftlichen Bezügen positioniert, indem sie sich auf ihren Auftrag besinnt. Von besonderer Bedeutung ist deshalb die Frage, wie christliche Spiritualität und theologische Reflexion in den Prozess kirchlicher Selbstgestaltung implementiert werden kann. Das sechste Kapitel beschäftigt sich damit unter dem Stichwort »auftragsorientierte Wahrnehmung«.
Keine Kirche kann die notwendige Erneuerung leisten, wenn die Mitarbeitenden dies nicht wollen. Kapitel sieben fragt nach Grundhaltungen kirchlicher Mitarbeitender, die Grund, Gestalt und Bestimmung der Kirche entsprechen.
In einem Zwischenschritt finden Sie zunächst eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Überlegungen, und danach einige methodische Hinweise, für den Fall, dass Sie mit ihrer Gemeinde, ihrer Region, ihrem Kirchenkreis weitergehen wollen.
Weitergehen
Basierend auf den in Teil I angestellten Überlegungen bietet Teil II eine Arbeitshilfe, die sieben Schritte auf dem Weg der Weiterentwicklung von Kirche in regionaler Vernetzung beschreibt. Ziel sind erneuerte und neue Konzepte und Gestalten kirchlichen Lebens. Wir laden Sie ein, diesen Schritten zu folgen.
Damit Sie auf gutem Weg bleiben und Kurs halten, erläutert der letzte Abschnitt ein noch ungewohntes, aber wichtiger werdendes Thema: Controlling in der Kirche. Nicht »Kontrolle« steht im Focus, sondern die Frage: kommen wir unserm Ziel näher oder müssen wir nachsteuern?
Den ersten Schritt tun
Der Leitfaden in Teil II...