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E-Book

Was geht da drinnen vor?

Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren

AutorLise Eliot
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl800 Seiten
ISBN9783492979733
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Bei der Geburt verfügt ein menschliches Gehirn über mehr als 100 Milliarden Nervenzellen, und doch beherrschen Neugeborene kaum mehr als die lebenswichtigen Funktionen wie Atmen und Saugen. Die Fähigkeiten zu sehen, zu hören, zu tasten und zu schmecken sind erst schwach ausgebildet. Höhere kognitive Funktionen wie Aufmerksamkeit, Sprache und bewusste Erinnerung fehlen noch ganz. Welche Rolle spielen nun äußere und innere Einflüsse bei der weiteren Gehirnentwicklung? Welche Risiken drohen? Wie Gehirn und Verstand sich ausbilden, hängt aus der Sicht der Neurobiologin Lise Eliot in gleichem Maße von genetischen Voraussetzungen ab wie von der Umgebung, die das Kind prägt. Erst die Erfahrungen und Reize, denen das Kind in den entscheidenden ersten Lebensmonaten und -jahren ausgesetzt ist, festigen die Nervenverbindungen und gestatten es ihm somit, immer vielschichtiger mit seiner Welt zu interagieren. Lise Eliot beschreibt, wie sich die Sinne, die motorischen Fähigkeiten, soziale und emotionale Verhaltensweisen und mentale Funktionen entwickeln. Darüber hinaus befasst sie sich mit Themen wie: * Welche pränatalen Faktoren beeinflussen die Gehirnentwicklung? * Was passiert während der Geburt mit dem Gehirn? * Welche Formen der Stimulation fördern besonders die kognitive Entwicklung? * Wie unterscheidet sich die Gehirnentwicklung bei Jungen und Mädchen? * Können Ernährung, Stress und andere körperliche und soziale Faktoren dauerhafte Auswirkungen auf das kindliche Gehirn haben? Mit beeindruckender Anschaulichkeit bietet Lise Eliot einen Überblick über den derzeitigen Wissensstand zur Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren.

Lise Eliot lehrt und arbeitet als Neurobiologin an der renommierten Chicago Medical School. Beim Berlin Verlag ist 2001 ihr Bestseller »Was geht da drinnen vor? Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren« erschienen (2010). Lise Eliot lebt mit ihrem Mann und den drei Kindern in der Nähe von Chicago.

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Leseprobe

1
Gene oder Umwelt? Das Gehirn ist beides


 

Hätte ich’s mir nicht denken können? Im selben Moment, in dem dieses wunderschöne, gesunde Neuron eingefärbt und bereit für die Darstellung ist, wacht Julia auf und fängt an zu weinen. Die Vorbereitung für das Experiment dauert sehr lange; ich habe mich fast den ganzen Tag damit beschäftigt und brauche jetzt nur noch zehn ungestörte Minuten. Sie war äußerst kooperativ – in ihrer gemütlichen, mit Decken ausgelegten Computerschachtel hat sie geschlafen wie ein Baby (ein neun Wochen altes, um genau zu sein), sicher und warm neben meinem Arbeitstisch in dem abgedunkelten Labor. Endlich stimmen die Bedingungen: Das mikroskopische Neuron leuchtet strahlend bis in seine winzigsten Verästelungen hinein, die Elektrode, die seine elektrische Aktivität messen soll, ist sorgsam eingeführt. Ich bin im Begriff, die Erregungsleitung der Nervenzelle zu reizen, um zu prüfen, ob sie aus simulierten Sinneserfahrungen »lernen« wird – als natürlich Julia aufwacht und Hunger hat.

Was soll’s. Ich hebe sie auf, streife mein Hemd hoch und fange an zu stillen, während ich mit der freien linken Hand an Knöpfen und Schaltern herumhantiere. Es ist eine großartige Zelle, ein geradezu ideales Experiment, bis Julia plötzlich den Kopf von meiner Brust nimmt (zweifellos weil das blinkende Licht auf dem Monitor ihre Neugier geweckt hat) und mit dem rechten Fuß gegen den hoch empfindlichen Mikromanipulator tritt, so dass die perfekte Elektrode aus der perfekten Zelle rutscht.

Die Zelle ist dahin, einen Sekundentod gestorben, und nur ich weine ihr nach.

Niemand hat je behauptet, dass es leicht sein würde, Mutter und Neurowissenschaftlerin in einem zu sein. Aber die Doppelbelastung hat bisweilen auch ihre Vorzüge. Hier bin ich damit beschäftigt herauszufinden, wie sich die Neuronen im Gehirn einer jungen Ratte durch Erfahrung verändern, und direkt vor meiner Nase läuft mein eigenes kleines Experiment ab. Auch wenn mich Julias Gymnastik noch so sehr ärgert – wer könnte ihrem Babyhirn einen Vorwurf machen, das einfach nur versucht, seine sich entwickelnden motorischen Leitungsbahnen auszuprobieren und zu trainieren? Alles, was ich an Rattenkindern zu erforschen versuche, läuft ebenso in ihrem kleinen Kopf ab, milliardenfach, in jeder Sekunde jedes Tages.

Zehn Jahre habe ich damit zugebracht, die Plastizität von Neuronen zu untersuchen – die Art, wie sich Nervenzellen, und damit unser Gehirn, durch Erfahrung verändern –, ehe Julia auf den Plan trat. Dass ich Kinder haben wollte, war mir immer klar gewesen, doch wie eng mein Beruf, meine Forschung mit der Elternschaft verknüpft ist, hatte ich nicht geahnt, bis ich es am eigenen Leib erfuhr. Wie die meisten Eltern war ich auf einmal fasziniert von der Kontroverse »Gene oder Umgebung?«, nämlich der Frage, inwieweit Julias künftige Begabungen und Schwächen angeboren oder erlernt sind, ein Ergebnis ihrer Erbanlagen oder ihrer Erfahrung. Die Streitfrage ist so alt wie die Menschheit selbst, aber sie ist keineswegs nur eine akademische Debatte. Für unsere Auffassung von Kindererziehung – sowohl als Eltern wie als Gesellschaft – macht es einen enormen Unterschied, ob wir uns auf die Seite der »Gene« oder die der »Umwelt« stellen.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts schlug das Pendel nach der Seite der »Umwelt« aus. In einer berühmten Studienreihe aus den vierziger Jahren verglich der Psychiater René Spitz zwei Gruppen benachteiligter Kleinkinder miteinander: Die eine Gruppe wuchs in einem Waisenhaus auf, das nach damaligem Verständnis als durchaus angemessen galt, die andere bestand aus Kindern inhaftierter Mütter, die in einem an das Gefängnis angeschlossenen Kinderheim aufgezogen wurden. Obwohl sich beide Institutionen auf den ersten Blick ähnelten – beide waren sauber, und in beiden erhielten die Kinder ausreichend Nahrung, Kleidung und medizinische Betreuung –, unterschieden sie sich erheblich in dem Maß an Zuwendung und Stimulation, die sie jeweils boten.

Die Babys im Kinderheim des Gefängnisses wurden von ihren leiblichen Müttern gefüttert, gehegt und gepflegt und mit Liebe und Aufmerksamkeit überschüttet. Diese Kinder entwickelten sich normal, obwohl sie in einer Anstalt lebten und die Zahl der Stunden, die sie mit ihren Müttern verbringen durften, begrenzt war. Hingegen erfuhren die Kinder aus dem Waisenhaus so gut wie keine Stimulation; eine einzige Pflegerin war für acht Kinder zuständig, und abgesehen von den kurzen Fütterungs- und Wickelzeiten lag jedes Baby isoliert in seinem Bettchen, rechts und links mit Vorhängen abgeschirmt, um der Ausbreitung von Infektionskrankheiten vorzubeugen. Ohne optische Anreize, ohne Spielsachen und, am allerschlimmsten, ohne ausreichende menschliche Kontakte und Zuneigung vegetierten diese Babys dahin. Sehr viele von ihnen überlebten nicht einmal das zweite Lebensjahr. Bei den anderen war die körperliche Entwicklung verzögert, sie waren extrem anfällig für Infektionen und sowohl geistig wie emotional stark zurückgeblieben. Im Alter von drei Jahren konnten die meisten weder laufen noch sprechen, und im Gegensatz zu den Babys aus dem Gefängnis-Kinderheim, die wuchsen und gediehen, waren sie auffällig introvertiert und apathisch.

Spitz’ Erkenntnisse führten langfristig zu einer Änderung der Adoptionsvorschriften – so wurden die langen Wartezeiten abgeschafft, die man einst für notwendig gehalten hatte, damit sich die »natürliche« Persönlichkeit und die geistigen Begabungen eines Kindes entfalten könnten. Eine möglichst frühe Adoption gilt heute allgemein als die beste Lösung für Waisen und unerwünschte Babys, obwohl nach wie vor in vielen Teilen der Welt Kinder in Heimen verkümmern, in denen viel schlimmere Verhältnisse herrschen als die von Spitz beschriebenen.1

Spitz wies nach, dass frühe Zuwendung und Stimulation für die Entwicklung des Kindes entscheidend sind, und mit dieser Ansicht stand er nicht allein. In der Psychologie herrschte damals die Theorie des Behaviorismus vor, die unser gesamtes Verhalten, vom schlichtesten Lächeln bis hin zum kompliziertesten Schachzug, als Ergebnis eines durch Belohnung oder Strafe, durch Versuch und Irrtum im Umgang mit anderen Menschen und Gegenständen motivierten Lernprozesses auffasst. Nach behavioristischem Verständnis werden Babys als »unbeschriebene Blätter«, ohne irgendwelche Veranlagungen geboren und sind durch elterliches Feedback und Unterricht grenzenlos formbar. John Watson, der Begründer des modernen Behaviorismus, verstieg sich sogar zu der Behauptung:

Geben Sie mir ein Dutzend gesunde, wohlgestaltete Kinder und ein bestimmtes Milieu, in dem ich sie aufziehen kann, und ich garantiere Ihnen, dass ich aufs Geratewohl eines von ihnen herausgreifen und zu jedem beliebigen Spezialisten heranbilden werde, der mir einfällt – Arzt, Anwalt, Künstler, Unternehmer, und ja: sogar Bettler und Dieb, ungeachtet seiner Begabungen, Neigungen, Fähigkeiten, Stärken und der Rasse seiner Vorfahren.2

Watson hat hier zweifellos übertrieben, doch die Betonung der Milieueinflüsse in den ersten Lebensstadien führte letztlich zur Begründung wichtiger sozialpolitischer Programme wie dem sozialen Netz und der staatlichen Ausbildungsförderung. Wenn Kinder tatsächlich in solchem Maß formbar sind, dann besteht die beste Methode, eine perfekte Gesellschaft zu verwirklichen, in der Verbesserung der Umgebung ihrer jüngsten Mitglieder.

Heutzutage hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt, und wir sind ins Zeitalter des Gens eingetreten. Die Molekularbiologen bestimmen mit täglich größerer Genauigkeit, welcher Abschnitt welchen Chromosoms für eine gefürchtete Krankheit oder ein komplexes Verhalten verantwortlich ist – Alkoholismus, Alzheimer-Krankheit, Brustkrebs, Legasthenie, sexuelle Orientierung. Das internationale, staatlich geförderte Human-Genom-Projekt hat uns den Kopf verdreht, indem es uns verspricht, dass wir demnächst den vollständigen Bauplan jedes Individuums »dekodieren« und herausfinden werden, wo unsere Stärken und Schwächen liegen, mit welchen künftigen Problemen wir zu rechnen haben und schließlich wie unsere Erbkrankheiten zu behandeln sind. Diese rasanten Fortschritte und Entdeckungen sind gewiss sehr spannend, doch die neuerliche Betonung der Gene hat auch ihre negative Seite – die von Büchern wie The Bell Curve3 und The Nurture Assumption4 genährte Annahme, die Eltern und die Gesellschaft spielten praktisch keine Rolle, sondern das Schicksal eines Kindes sei in erster Linie durch seine Erbanlagen bestimmt, so dass wir wenig tun könnten, um die Situation zu verbessern.

Ein Neurowissenschaftler kann diesen Standpunkt nur schwer akzeptieren. Natürlich sind die Gene wichtig, aber jeder, der sich je mit Nervenzellen beschäftigt hat, wird bestätigen, wie bemerkenswert formbar sie sind. Das Gehirn selbst wird buchstäblich von Erfahrungen geprägt: Jeder Anblick, jeder Laut und Gedanke hinterlässt auf bestimmten neuronalen Schaltkreisen einen Eindruck und verändert damit die Wahrnehmung künftiger Anblicke, Laute und Gedanken. Die Hirnstruktur ist keineswegs von Geburt an festgelegt; vielmehr ist das Gehirn ein lebendes, dynamisches Gewebe, das sich fortwährend auf den neuesten Stand bringt, um die jeweils gegebenen sensorischen, motorischen, emotionalen und geistigen Anforderungen zu erfüllen.

Meine Begeisterung für die Formbarkeit der Neuronen nahm noch zu, als ich die neugeborene Julia in den Armen hielt. Wenn es je eine Phase gab, in der Erfahrungen ihr Gehirn prägen konnten, dann jetzt. Zwar wissen wir aus Untersuchungen des Lernprozesses bei Erwachsenen, dass...

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