PROLOG
14. NOVEMBER 1889
Hoboken, New Jersey
SIE WAR EINE JUNGE FRAU IM KARIERTEN MANTEL UND MIT einer Kappe auf dem Kopf, weder groß noch klein, weder dunkelhaarig noch blond und nicht so hübsch, dass man sich nach ihr umdrehte: die Sorte Frau, die, falls notwendig, in einer Menge untertauchen konnte. Bereits zu so früher, noch kühler Stunde quoll der Anleger der Fähre von New York nach Hoboken von Passagieren über. Der Hudson River – oder North River1, wie er damals noch genannt wurde, ein Überbleibsel aus den Zeiten der Holländer – war ebenso belebt wie die Straßen der Stadt, und die Fähre bahnte sich vorsichtig ihren Weg durch den Verkehr, vorbei an den bunt gestrichenen Kanalbooten und den allgegenwärtigen Schleppern, den flachen Dampflastkähnen voller Kohle aus Pennsylvania und den Dreimastschonern, deren Frachträume Tabak und Indigo und Bananen und Baumwolle enthielten, Felle aus Argentinien und Tee aus Japan: alles, so schien es, was die Welt zu bieten hatte. Die junge Frau mühte sich, ihrer Nervosität Herr zu werden, als die Fähre sich langsam den Lagerhäusern und Magazinen von Hoboken näherte, wo die Augusta Victoria2, ein Schnelldampfer der Hamburg-Amerika-Linie, bereits am Kai wartete. Möwen kreisten über dem Ufer und begutachteten die größeren Schiffe, denen sie übers Meer folgen würden. In der Ferne ragten die steinernen Türme von New York wie Felsklippen aus dem Wasser.
Den Großteil des Herbstes 1889 hatte New York nahezu ständigen Regen erdulden müssen, endlose Tage mit tief hängenden Wolken und kärglichem grauem Licht. Es war die Art Wetter, sagten die Leute, die nur dem Blues und dem Rheumatismus zuträglich sei; eine der Zeitungen hatte kürzlich behauptet, dass die Stadt, falls der Regen andauern sollte, gezwungen sein würde, auf dem Broadway Dampfer in Betrieb zu nehmen. An diesem Morgen dagegen war es zwar kalt, aber der Himmel war klar, ein gutes Omen für all diejenigen, die aufs Meer hinauswollten. Die Aussicht auf eine Ozeanüberquerung war immer aufregend, doch schlechtes Wetter bedeutete schweren Seegang und brachte außerdem das beunruhigende Bewusstsein drohender Gefahren mit sich. Eisberge lösten sich von grönländischen Gletschern und trieben stumm im Nordatlantik umher, Kolosse ohne Warnleuchten oder Nebelhörner, die nicht auswichen, um eine Kollision zu vermeiden; Wirbelstürme tauchten aus dem Nichts auf, und aus unzähligen Gründen konnten Feuer ausbrechen. Manche Schiffe verschwanden einfach, und man hörte nie wieder von ihnen.
Doch die Augusta Victoria wurde in der Presse als »praktisch unversenkbar« gerühmt – die Art von Lob, die auch hätte alarmieren können, obwohl sie beruhigend gemeint war. Als Doppelschraubendampfer modernster Bauweise hatte die Augusta Victoria erst vor sechs Monaten den Rekord für die schnellste Jungfernfahrt gebrochen, indem sie New York von Southampton aus in nur sieben Tagen und zwölfeinhalb Stunden erreichte. Bei ihrer Ankunft wurde sie von mehr als dreißigtausend Menschen begrüßt (»Es waren überwiegend Deutsche«, betonte die New York Times), die an Bord strömten, um sich den schwimmenden Palast genauer anzusehen: seine Kronleuchter und Seidentapeten, den Flügel im Musiksaal, die in Lavendel gehaltenen Damentoiletten, den mit grünem Saffianleder ausgekleideten Rauchsalon für die Herren. Die transatlantische Seefahrt hatte es weit gebracht in dem halben Jahrhundert, seit Charles Dickens nach Amerika gesegelt war und den zentralen Salon seines Schiffes angesichts dessen knapper Dimensionen und trister Ausstattung mit einem riesigen Sarg mit Fenstern3 verglichen hatte.
Auf dem Kai ging es in den Minuten vorm Ablegen eines Hochseedampfers immer ein wenig zu wie auf einem Volksfest. Die meisten Männer trugen dunkle Überzieher und seidene Hüte; die Kleidung der Frauen war mit Tournüren und Rüschen ausstaffiert. Am Rande der Menge boten Händler Waren an, die Passagiere womöglich einzupacken vergessen hatten; schwitzende Schauerleute mit nackten Armen vollführten ihr Ballett des Hochhievens und Verladens der Taue und Fässer, die die Pier übersäten. Das Rumpeln der Karren auf Kopfsteinpflaster mischte sich mit einem allgemeinen Stimmengewirr zu einem Geräusch, das wie Donner von überall und nirgendwo herzukommen schien. Irgendwo in dem Menschengewimmel stand die junge Frau in dem karierten Mantel. Sie wurde als Elizabeth Jane Cochran geboren – als Jugendliche hatte sie ihrem Nachnamen ein e hinzugefügt, um ihm eine elegante Note4 zu verleihen –, wurde aber von ihrer Familie und von alten Freunden weder Elizabeth noch Jane, sondern »Pink« genannt. Viele New Yorker Zeitungsleser – und bald sollten es nicht nur sie sein – kannten sie als Nellie Bly.
Seit zwei Jahren war Nellie Bly jetzt Reporterin bei der New York World, die sich unter der Leitung ihres Herausgebers Joseph Pulitzer zur größten und einflussreichsten Zeitung jener Tage entwickelt hatte. Keine Journalistin vor Nellie Bly war auf der Jagd nach einer Story je so waghalsig gewesen, hatte so bereitwillig ihre persönliche Sicherheit aufs Spiel gesetzt wie sie. Für ihre erste Enthüllungsgeschichte für die World täuschte sie (unter dem Namen »Nellie Brown«, ein Pseudonym zur Bemäntelung eines Pseudonyms) Wahnsinn vor, um aus erster Hand über die schlechte Behandlung von Patientinnen der Irrenanstalt auf Blackwell’s Island berichten zu können. Bly arbeitete für einen Hungerlohn in einer Kartonfabrik, bewarb sich um eine Stelle als Dienstmädchen und suchte eine Klinik für Arme auf, wo sie nur knapp der Entfernung ihrer Mandeln entging. Fast jeden Sonntag präsentierte die World ihren Lesern ein neues Abenteuer. Bly trainierte mit Boxchampion John L. Sullivan und trat mit großem Einsatz, aber wenig Erfolg an der Academy of Music als Tänzerin auf. In Boston besuchte sie eine taubstumme und blinde Neunjährige namens Helen Keller. Ihre Artikel waren mal unbeschwert, mal voller Entrüstung – manche sollten aufklären, andere einfach nur unterhalten –, alle aber waren gekennzeichnet von Blys Leidenschaft für eine gute Story und ihrer unglaublichen Fähigkeit, die Leser zu fesseln. Sie waren Zeugnisse ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit und Willenskraft, mit der sie von den Lesern verlangte, sowohl dem Unglück der Benachteiligten als auch ihr selbst ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken.
Jetzt, am Morgen des 14. Novembers 1889, trat sie zum sensationellsten Abenteuer ihrer Laufbahn an: dem Versuch, den Rekord für die schnellste Erdumrundung zu brechen. Sechzehn Jahre zuvor hatte Jules Verne in seinem populären Roman dargestellt, wie eine solche Reise in achtzig Tagen zu bewerkstelligen sei. Nellie Blie plante, sie in fünfundsiebzig Tagen zu schaffen.
Sie hatte den Redakteuren der World ihre Idee schon vor einem Jahr angetragen, aber man hatte dort dem Projekt zunächst ablehnend gegenübergestanden. Erst vor Kurzem hatte man endlich zugestimmt. Die letzten drei Tage war sie damit beschäftigt gewesen, einen Reiseplan auszuarbeiten, Reisebüros aufzusuchen, sich eine Garderobe zusammenzustellen, Abschiedsbriefe an Freunde zu schreiben, zu packen und wieder auszupacken. Bly hatte beschlossen, nur ein Gepäckstück mitzunehmen, eine kleine lederne Tasche, in der sie von Kleidung über Schreibutensilien bis zu Toilettenartikeln alles verstauen wollte, was sie unterwegs brauchte; sie würde die Tasche selbst tragen können und damit mögliche Verzögerungen verhindern, die sich durch die Einmischung oder Inkompetenz von Trägern und Zollbeamten ergeben könnten. Als Reisekostüm hatte sie ein gut geschnittenes zweiteiliges Kleid aus feinem dunkelblauem Wollstoff mit Kamelhaarbesatz gewählt. Darüber würde sie, falls nötig, einen langen schwarz-weiß karierten, zweireihig geknöpften Ulstermantel tragen, der sie vom Hals bis zu den Fesseln bedeckte. Statt des Huts mit Schleier, der bei den meisten seereisenden Damen ihrer Zeit Mode war, würde sie ihre Kleidung durch eine flotte wollene Jagdkappe im britischen Stil vervollständigen – ein ähnliches Modell, wie es später Sherlock Holmes in zahlreichen Filmen populär machen würde –, die sie in den letzten drei Jahren bei vielen Unternehmungen begleitet hatte. Das blaue Kleid, der karierte Mantel, die Jagdkappe: auf den ersten Blick keine besonders auffällige Tracht, die aber schon bald die berühmteste auf der Welt werden sollte.
Am Morgen des 14. Novembers war Nellie Bly sehr früh wach geworden – sie hasste es, früh aufzustehen –, hatte sich ein paarmal im Bett umgedreht, war wieder eingedöst und dann mit einem Ruck und der Sorge, womöglich ihr Schiff zu verpassen, erneut aufgewacht. Rasch machte sie Toilette und zog sich an. (Aufs Schminken musste sie keine Zeit verwenden, denn nur Frauen von abscheulich niedriger Moral oder unanfechtbar hohem sozialen Status wagten es, sich die Gesichter zu bemalen.) Sie versuchte, etwas Frühstück herunterzuwürgen, aber die frühe Stunde und die Nervosität machten ihr das Essen unmöglich. Am schwersten fiel es ihr, sich von ihrer Mutter zu verabschieden. »Hab keine Angst«5, sagte sie zu ihr, »denke einfach nur, dass ich Urlaub mache und die herrlichste Zeit meines Lebens verbringen werde.« Dann nahm sie ihren Mantel und ihre Reisetasche und eilte blindlings die Treppe hinunter, bevor sie die Reise, die sie noch gar nicht angetreten hatte, zu sehr bereuen konnte.
Ihre Wohnung lag in der West 35th Street nahe...