Editorial
Sprechen und Handeln im Deutschunterricht
Follow! Follow! Follow! – Das war der Name der Ausstellung mit der Kunstinstallation »Climbing up the Mountain, Climbing down the Mountain«, die wir als Cover unseres ide-Heftes zur Kultur des Performativen ausgewählt haben. Sie stammt von dem in Shanghai lebenden KünstlerInnenpaar Ji Wenyu und Zhu Weibing und wurde 2011 bei einer Gruppenausstellung in der Galerie ShanghART in Shanghai ausgestellt. Vordergründig ist die Doppeldeutigkeit des titelgebenden Sprechaktes: Zum einen verweist der autoritäre Befehl »Follow!« auf die Gehorsamkeit, die wiederholt, also mit besonderem Nachdruck gefordert wird. Zum anderen zielt der Folgeimperativ auf Nachahmung, die in der Installation wie auch durch die Wiederholung in Szene gesetzt wird. Jemand soll an die gleiche Stelle folgen, an der man selbst oder ein anderer bereits ist. Hier zeigt sich die dialektische Dimension des Performativen, die zwischen Zwang und Freiheit oszilliert, wenn es darum geht, eine Handlung auszuführen. Das wird auch in der Materialität der Installation deutlich: Der Stoff der Figuren lässt sich formen, verändert sich und zeigt, dass Identitäten nicht festgeschrieben sind, sondern einer konstanten Veränderung unterliegen. Die Ansammlung der Figuren lässt ein Bild entstehen, das auf den ersten Blick eine gleichgeschaltete Menge darstellt, bei genauerer Betrachtung jedoch auch Individualität erkennen lässt. Die Installation macht deutlich, dass wir Menschen aufgerufen werden zu handeln und dass es notwendig ist, sich über die Kultur des Performativen Gedanken zu machen.
Dieses ide-Heft ist Teil jener Themenreihe, die unterschiedliche Kulturen des Deutschunterrichts in den Blick nimmt: Nach dem Lesen (1/2006), dem Schreiben (1/2007), dem Hören (1/2008), dem Sehen (2/2012), dem Erinnern (2/2015) geht es hier nun um die Kultur des Performativen als eine – wie wir meinen – zentrale Dimension pädagogischen und didaktischen Handelns, die wesentliche Bereiche des Deutschunterrichts betrifft. Der Begriff des Performativen wird seit Ende des 20. Jahrhunderts quer durch unterschiedliche Disziplinen (u. a. Sprach- und Literaturwissenschaft, Philosophie, Soziologie, Theaterwissenschaft) verwendet und ist vor allem in den Kulturwissenschaften zu einem Schlüsselbegriff geworden, durch den auch eine Wende, der sogenannte »performative turn«, eingeleitet wurde. Das Performative ist dabei weniger ein neues Phänomen als eine andere Art und Weise, bekannte Phänomene zu betrachten, zu begreifen, zu reflektieren. Hier setzt das ide-Heft an, wenn es die Deutschdidaktik in Hinblick auf performative Aspekte perspektiviert und dabei unterschiedliche Kulturen des Aus- und Aufführens im Kontext des Unterrichtens beleuchtet: etwa die Ausführung von Sprache im Akt des Sprechens und Schreibens, die schulische Aufführung von theatralen und sozialen Handlungen, die Inszenierung von Körperlichkeit und Materialität bei der Vermittlung von Sprache und Literatur. Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist dabei, dass kulturelle Phänomene und Prozesse neue Wirklichkeiten hervorbringen und nicht lediglich als Zusammenhänge von Zeichen zu begreifen sind, die es zu dechiffrieren gilt und die mit Bedeutung auszufüllen sind. Mit der Perspektive des Performativen werden Ausführungs-, Inszenierungsund Aufführungspraktiken sozialen Handelns, deren wirklichkeitskonstitutive Prozesse wie auch das Verhältnis von Sprache, Körper, Sozialität und Macht in den Blick genommen.
Welche Anknüpfungspunkte sich daraus für die Deutschdidaktik und die schulische Praxis des Deutschunterrichts ergeben, wird entlang folgender Fragestellungen erörtert: Welche performativen Praktiken werden im Unterricht in Szene gesetzt, um fachliches Lernen zu ermöglichen und domänenspezifische Kompetenzen zu entwickeln? Welche Rolle spielt dabei der Körper in der leiblichen Ko-Präsenz von Lehrenden und Lernenden? Welche Bedeutung haben Objekte, Texte und Medien in ihrer spezifischen Materialität und Performativität? Was kann der Deutschunterricht zum Aufbau von Kompetenzen des Performativen beitragen? Welche Kompetenzen von Inszenierung und (Re-)Präsentation können im Deutschunterricht vermittelt werden?
Ausgehend von theoretischen Perspektivierungen werden dazu Befunde und Konzepte aus der Literatur- und Theaterdidaktik sowie der Lese- und Schreibforschung vorgestellt. Konkretisiert werden diese durch Beispiele aus dem Deutschunterricht mit dem Fokus auf sprachliches und literarästhetisches Lernen. Angesprochen werden dabei nicht nur performative Dimensionen eines identitätsorientierten Literaturunterrichts wie auch von handlungs- und produktionsorientierten Ansätzen, sondern auch methodische Zugänge u. a. zum literarischen Gespräch, zum epistemischen Schreiben und zur Inszenierung von Poetry Slams. Von Interesse sind dabei die performativen Praktiken selbst, die im Unterricht inszeniert werden, sowie jene Aspekte, die als analytisches Instrument für die Beschreibung des Unterrichts dienen, wenn sich das Klassenzimmer gleichsam als Aufführungsraum erweist.
Der erste Teil des Heftes bietet mit drei einleitenden Artikeln eine theoretische Fundierung zur Kultur des Performativen. So gibt Andreas Hudelist einen konzisen Überblick über unterschiedliche Perspektiven auf Performanz, Performativität und Performance. Ausgehend von Austins Sprechakttheorie werden philosophische Überlegungen zu sprachlichen und körperlichen Handlungen vorgestellt, diskursanalytische Fragen zu Körper und Macht aufgegriffen sowie theaterwissenschaftliche Aufführungstheorien präsentiert. Der Beitrag von Jörg Zirfas streicht die Relevanz von Performativität für pädagogisches Handeln hervor und nimmt damit spezifische Formen singulärer Handlung und mimetischer Wiederholung in den Blick, wie sie in den Bildungswissenschaften diskutiert werden. Eine wesentliche Erkenntnis beruht darauf, dass sich in pädagogischen Prozessen kulturelle Bedeutungen, Funktionen und Formen in Zusammenhang mit körperlichen Aufführungen, zeitlichen und räumlichen Rahmungen wie auch ritualisierten Interaktionen begreifen lassen. Hervorgehoben wird auch die performative Dimension unterrichtlicher Vermittlungs- und Aneignungsprozesse, die durchwegs in einem inszenatorischen Setting vollzogen werden. Stefan Krammer fokussiert auf deutschdidaktische Fragen, wenn er die Vermittlung von Sprache und Literatur als einen performativen Handlungsprozess beschreibt und ein Konzept für eine performative Deutschdidaktik entwirft, in dem die Arbeitsbereiche des Deutschunterrichts in Hinblick auf kulturelle Praktiken des Aus- und Aufführens untersucht werden. Neben sprach- und litera turdidaktischen Überlegungen finden sich ebenso Anregungen für einen identitätsorientierten Deutschunterricht.
Der zweite Teil des Heftes veranschaulicht durch didaktische Beiträge aus einzelnen Arbeitsfeldern, welche Bedeutung dem Performativen im Deutschunterricht zukommt. Gabriela Paule reflektiert in ihrem breit angelegten Beitrag verschiedene Formen von Aufführungen, die im Unterricht rezipiert bzw. selbst produziert werden. In Anlehnung an Konzepte des Schultheaters gibt sie konkrete Hinweise, wie im Deutschunterricht eine auf Körperlichkeit bezogene Wahrnehmungsschulung realisiert werden kann. Jürgen Struger zeigt auf, welche Rolle einem performativen Akt im Schreibunterricht zukommt und wie dieser für die Gestaltung von schulischen Schreibprozessen genutzt werden kann. Er betont dabei den performativen Charakter von Textsorten, die Informationen nicht nur bereitstellen, sondern in erwartbaren Formaten arrangieren und inszenieren. Anhand einer Übungssequenz wird veranschaulicht, auf welche Weise der Handlungsaspekt bei Schreibaufgaben hervorgehoben werden kann. Matthias Leichtfried widmet sich dem literarischen Gespräch und untersucht es in Hinblick auf Ko-Präsenz, Räumlichkeit, Körperlichkeit und Ereignishaftigkeit. Wesentlich erscheint ihm, dass das Gespräch über Literatur in der Schule als ergebnisoffener Prozess gestaltet wird, der sich als Aufführung im besten Sinne beschreiben lässt. Wie sich über Comics reden lässt bzw. wie diese aufgeführt werden können, zeigt Carolin Führer mit ihrem Konzept von Reading Panels, das das performative Potential multimodaler Texte hervorstreicht. Der Beitrag erläutert die Herausforderungen und Besonderheiten der impliziten, mentalen und performativen Ins zenierung von Comics und verdeutlicht, welch vielfältige Kompetenzen dabei entwickelt werden: u. a. Lesefertigkeiten, visual literacy, literarisches Lernen.
Der dritte Teil des Heftes gibt Einblicke in die unterrichtliche Praxis des Performativen. Vorgestellt werden hier Unterrichtsmodelle wie auch Anregungen von außerschulischer Sprachund Literaturvermittlung. Julia Malle liefert einen Beitrag zu einem identitätsorientierten Literaturunterricht, der sich dem (Un)Doing Gender verschreibt. Anhand von konkreten Übungen wird gezeigt, wie theaterdidaktische Methoden zur Entwicklung von Gendersensibilität eingesetzt werden können. Der Fokus liegt dabei auf der performativen Arbeit mit Gestik, Stimme, Szenen und Rollen. Zentral erweist sich der Aspekt der Wahrnehmung, wie ihn auch Paule in ihrem Beitrag stark gemacht hat. Von ähnlichen Prämissen geht auch der...