Heike Groos
Was haben wir bewirkt?
Warum dieses Buch notwendig ist
Ich habe neulich mit Blackburn gesprochen, und er hat mich gefragt:
»Was haben wir bewirkt, warum gehen wir nach Hause?«
Ich habe gesagt: »Gar nichts.«
Aber das stimmt nicht. Ich glaube, es hat sich alles geändert.
Zumindest habe ich mich geändert.
Eversmann zu seinem toten Freund in der
Leichenhalle in Mogadischu, Somalia
Aus dem Film Black Hawk Down
Neuseeland, Januar 2010
Es gibt Situationen, in denen kann man sich einfach nur betrinken, muss sich betrinken, man muss das Gehirn ausschalten, die Festplatte löschen und neu formatieren, wie wir bei der Bundeswehr immer gesagt haben. Da hält man es einfach nicht mehr aus und weiß sich keinen anderen Rat.
So ein Abend war gestern. Ich war von der Spätschicht in der Notaufnahme nach Hause gekommen. Es war kein schöner Dienst gewesen, eine schwangere Frau hatte ihr Kind verloren, zur ungünstigsten Zeit während der Schwangerschaft. Das Baby war schon so groß, dass sie fühlte, wie es sich bewegte, aber doch noch zu klein, um außerhalb des Mutterleibs überleben zu können. Ich hatte sie untersucht und sofort gewusst, hier gibt es keine Hilfe mehr, ihr Kind wird sterben, und auch wenn es ihr viertes war, so war es doch so traurig, so endgültig und unabwendbar, dass es kaum zu ertragen war. Für sie natürlich nicht, und für mich nicht, weil es nichts gab, das ich tun konnte, außer ihr meine Hand zu reichen, die sie nicht nahm, weil sie sich diesen Anflug von Nachgeben und Schwäche nicht leisten zu können schien. So versuchte ich, sachlich zu bleiben und bei meinen Aufgaben, was schwer war.
Ich untersuchte sie und fühlte das kleine Köpfchen an meinem Finger, es war warm und fest, und ich meinte sogar, kleine Härchen zu spüren, obwohl ich wusste, dass das eigentlich nicht sein konnte. Die Fruchtblase war gesprungen, der Muttermund bereits sieben Zentimeter geöffnet, die Geburt war in vollem Gange, nichts auf der Welt würde dieses kleine Lebewesen im Mutterleib zurückhalten und selbst wenn, würde es nicht überleben, sämtliches Fruchtwasser war abgegangen, es hatte dort keinen Lebensraum mehr. Einmal geboren, würde das Baby nicht lebensfähig sein, nicht mit allen Mitteln der modernen Technik, es war einfach zu klein und unreif. Unserer Menschenmedizin sind Grenzen gesetzt, und allen Beatmungsgeräten und Medikamenten auch.
Und doch konnten wir beide, seine Mutter und ich, fühlen, dass es lebte. Wie es mit den Beinchen strampelte und zappelte, und später im Ultraschall konnten wir sogar sehen, wie das kleine Herz schlug. Es schlug mit einer Frequenz von einhundertundfünfzig in der Minute, was, wie ich sehr wohl wusste, normal war, aber es sah so schnell aus und fühlte sich an, als ob es mit aller Kraft kämpfte und sich wehrte und vielleicht sogar so, als habe es Angst. Ich merkte, dass ich zu projizieren begann, schob die Gedanken beiseite und versuchte, mich zusammenzunehmen. Ich sagte ihr, was ich sagen musste, dass sie das Baby auf die Welt bringen, den Fötus ausstoßen musste, und dass er dann sterben würde. Erst als ich zu Hause war, fiel mir ein, dass wir nicht nachgesehen hatten, ob es ein Junge oder Mädchen gewesen war.
Ich hatte sie in der Obhut des Gynäkologen und der Hebamme zurückgelassen. Sie war Maori, und ich glaube nicht, dass es das weiße Kopfkissen und die weißen Laken waren, die ihre von Natur aus olivfarbene Haut unter dem schwarzen Haar so durchscheinend aussehen ließen. Ihre Gesichtszüge blieben unbewegt, nur die Augen waren dunkel und ließen keine Tränen durch. Ich wusste, dass sie mit der Hebamme allein bleiben würde. Der Arzt würde nach Hause gehen, wie es in diesem Land Sitte ist, und auch ihr Mann konnte nicht bei ihr sein, er musste zu Hause auf die drei anderen kleinen Kinder aufpassen, sie hatten sonst niemanden.
Ich war nach Hause gefahren, hatte mir ein Glas Rotwein eingeschenkt und meine E-Mails aufgerufen. Es gab wieder neue, so wie ich sie jeden Tag erhalten habe, jeden einzelnen Tag seit der Veröffentlichung meines Buchs »Ein schöner Tag zum Sterben«.
So viele Schreiben von so vielen Menschen. Ehemalige Kameraden, aber auch Soldaten, die ich nicht kannte, Ehefrauen, Freundinnen, Mütter von Soldaten schreiben mir, und jeder einzelne Brief freut mich von Herzen, bedeutet es doch, dass ich mit meiner Wahrnehmung nicht allein bin. Sie alle sagen mir, dass sie sich in der einen oder anderen Weise in meinem Buch wiedergefunden haben, dass es ihnen half, sich selbst oder einen Menschen, der ihnen lieb und teuer ist, besser zu verstehen, und sie danken mir auch dafür, dass ich es wagte, mit diesem Thema an die Öffentlichkeit zu gehen, und machen mir Mut.
Viele von ihnen erzählen mir ihre eigene Geschichte, und, obwohl mich auch das freut und ehrt, auf einmal sitze ich auch mit in ihrem Boot. Ich leide mit ihnen und ärgere mich mit ihnen. Manchmal sind die Geschichten von solcher Art, dass ich Zweifel habe, würde man sie veröffentlichen, ob sie jemand glaubt. Ich hingegen weiß, dass sie wahr sind. Ich weiß, welch haarsträubende Dinge sich in den Auslandseinsätzen ereignen und wie sehr man gerade mit den schlimmsten Geschichten alleine bleibt, eben weil es niemand glauben kann.
Ich selbst habe in meinem Buch auf die meisten solcher Geschichten verzichtet. Ich wollte, dass man mir glaubt, und ich wollte auch kein Nestbeschmutzer sein. Ich wollte nicht die Hand beißen, die mich gefüttert hatte.
Ein Freund von mir kannte Lothar-Günther Buchheim, der, als er »Das Boot« schrieb, einmal zu ihm gesagt hatte, er habe ungefähr neunzig Prozent dessen, was er wusste, weggelassen. Weil er wollte, dass man ihm Glauben schenkt. Und so dachte ich immer, was einem Buchheim recht ist, kann mir nur billig sein. Ob die Anekdote nun der Wahrheit entsprach oder nicht, mir schien es ein kluger Gedanke zu sein.
Als ich nun die E-Mails dieses Abends las, hatte ich endgültig genug von diesem Tag. Da war eine Geschichte eines Soldaten, der beschrieb, wie sie im Rahmen von ISAF bei Nacht-und-Nebel-Aktionen mit KSK-Soldaten, die offiziell gar nicht da waren, Munitionslager überfielen, was in jedem Fall über das politische Mandat hinausging, und dass er nie hatte darüber reden dürfen, weil es ja geheim war. Er wollte nicht einmal sagen, wer ihm das eigentlich verboten hatte, weil er dann ja preisgegeben hätte, wer es ihm befohlen hatte. Jetzt hielt er den Druck nicht mehr aus, und ich wusste, dass ihm ohnehin keiner glauben würde. Ich überlegte selbst kurz, ob er nicht vielleicht doch psychotisch geworden war oder zumindest Wahrnehmungsstörungen hatte, und so trank ich noch ein Glas Wein. Ich konnte nicht glauben, was ich da gerade gelesen hatte, und mit dieser Mail und der traurigen Fehlgeburt bei der Arbeit war das Fass nun einfach voll, und so genoss ich das zweite Glas nicht, sondern schüttete es hinunter.
Zum Glück war ein Freund zu Gast. Wenn man als Deutscher in Neuseeland lebt und dann noch direkt am Strand, hat man eigentlich immer Freunde zu Gast. Ein kluger, gebildeter Mann, er war loyal und war auch einmal Soldat gewesen, und er hatte durchaus nichts dagegen, dass wir uns gemeinsam betranken. Wir begruben den klugen Gedanken des Herrn Buchheim und fragten uns, ob man Frau Merkel nicht einfach wegen Hochverrat anklagen könnte wegen all der Dinge, die in den Auslandseinsätzen geschehen und die geeignet erscheinen, die innere Sicherheit und die verfassungsmäßige Ordnung unseres Staates zu zerstören. Auch eine Anklage wegen Landesverrat erschien uns gerechtfertigt, gerade die äußere Sicherheit und der Bestand unseres Landes erscheinen gefährdet durch Aktionen, wie sie in Afghanistan geschehen und durch unsere Kanzlerin abgesegnet sind.
Natürlich tut sie das nicht aus persönlichen Motiven, aber wir fragten uns in dieser Nacht, ob wir nicht die Mafia als Auftraggeber bevorzugen würden, bei der zumindest die Motivation transparent und leicht verständlich ist. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob es richtig gewesen war, »Ein schöner Tag zum Sterben« zu veröffentlichen und mich all dem auszusetzen, was seither über mich hereingebrochen ist.
Meine Pressefrau hatte mir vor ein paar Monaten das erste, noch druckfrische Exemplar in die Hände gelegt und damit einen wahren Gefühlssturm in mir ausgelöst. Seit Wochen und Monaten hatte ich auf diesen Moment gewartet, aber ich hatte nicht erwartet, dass es sich so anfühlen würde.
Ich öffnete es nicht, sondern strich mit meiner Hand über den Umschlag, drehte und wendete es, betrachtete es von allen Seiten und roch daran. Dann schlug ich es auf, blätterte es durch und betrachtete die Fotos.
Ich versuchte, ihr, die mich gespannt beobachtete, was ich trotz meiner Aufgewühltheit bemerkte, zu erklären, was ich empfand.
»Es fühlt sich beinahe so an wie bei der Geburt meiner Kinder, wie ein richtiges Wunder. Hier ist etwas, das ich erschaffen habe.«
Ich sah auf das Buch, auf meine Hand, die sich anfühlte, als ob sie nicht zu mir gehören würde, die das Buch so streichelte, wie sie damals über die zarten flaumweichen Wangen meiner Kinder gestreichelt hatte, und erstaunt wiederholte ich: »Tatsächlich ist es ein ähnliches Gefühl wie bei der Geburt meiner Babys. Die gleiche Überwältigung, die gleiche Begeisterung und auch eine gewisse Demut. Die Schmerzen waren vergessen, als hätten sie nie existiert.«
Ich machte eine Pause, die Pressefrau schwieg. Vielleicht gingen ihre Gedanken in die gleiche Richtung wie meine. Vergessen waren die Schmerzen nicht, die zu der Entstehung des Buchs geführt hatten, aber sie waren gelindert und mit dem...