II. Hilary
Porfirio Osborne lief mit hastigen Trippelschritten an den Bettlern am Carfaxturm vorbei und durch die Fußgängerzone der Cornmarket Street mit ihren Filialen von Boots, Waterstones und W. H. Smith. Er war ein sehr kleiner Mann in einer schwarzen Karotte und einer senfgelben Tweedjacke, der einen auffällig ungesunden Wanst vor sich herschob. Von seiner südamerikanischen Mutter hatte er Teint und Größe geerbt, von seinem irischstämmigen Vater den Leibesumfang und einen so feuerroten Schopf mit Bart, dass er sich zeitlebens gegen den Vorwurf verteidigen musste, er habe sich die Haare gefärbt.
Wo aus Cornmarket nach der Kreuzung St. Aldates wird, bog er nach links, einen Steinwurf von der Folly Bridge entfernt, die in südlicher Richtung über den Fluss Isis führt. Er überquerte die Straße und eilte, geschäftig nach beiden Seiten hin grüßend, durch das Tudortor unter einem Glockenturm, der die langgestreckte Mauer auf der anderen Seite wie ein Zeigefinger durchstach. Dahinter balancierte ein Götterbote auf Sandalen über einem ausgelassenen Brunnen. Um ihn herum wirbelten Schneeflocken wie in einer Glaskugel durch die immense Ödnis des Tom Quad von Christ Church College.
»The hireling and slave, from the terror of flight, or the gloom of the grave«, sang er in seinen Bart, während er durch das Gestöber hastete und auf eine der Türöffnungen in den kasemattenähnlichen Mauern des Hofs zuhielt. »And the starspangled banner in triumph doth wave – o’er the land of the free – and the home of the brave.«
Auf seinem Zimmer warf er seine Ledermappe in die Ecke, riss sich die Kleider vom Leib und sah auf die Uhr. Er streifte sich einen Bademantel über und tappte ins Bad, Seife und Rasierpinsel in der Hand. Wenige Minuten verstrichen, bis er wieder in sein Zimmer trat. Abgesehen von einem Paar abgestoßener Cordpantoffeln war er nun so nackt, wie ihn der Herrgott erschaffen hatte; seine Gliedmaßen leuchteten rosig und feist wie das Fleisch des trunkenen Silens.
Er setzte sich breitbeinig auf die Bettkante und frottierte seinen Nacken mit einem marineblauen Tuch. Kaum getrocknet, erhob er sich wieder, nahm frische Wäsche aus dem Schrank, schlüpfte in ein weißes Hemd mit Vatermörderkragen und drückte drei Metallstifte durch die Knopflöcher in die gestärkte Hemdbrust. Seine verschrumpelten Fingerkuppen schoben ein Tonband in den Kassettenrekorder. Während die Geisterhausklänge des Aquariums aus Camille Saint-Saëns’ »Karneval der Tiere« das Zimmer erfüllten, legte er sich die Fliege seines Smokings ungebunden um den Hals und nahm, seinen Hintern wetzend, mit einem selbstgefälligen Schauder an seinem Schreibtisch Platz. Darauf lagen Lifestylemagazine neben Immobilienkatalogen, mehreren Bilderrahmen, einer Schere, Briefen, Listen und einem Stapel vorgefertigter Einladungskarten mit dem Reliefdruck:
All Porfirios horses
to strangeness and champagne
Er blätterte so lange in den Prospekten, bis er auf das Bild eines Hauses in den Hamptons stieß, schnitt das Foto aus und befestigte es sorgfältig in einem der Rahmen. Er wiederholte den Vorgang mit dem Hochzeitsfoto eines gewissen Clayton Fotterall McMichael sowie der Abbildung eines Pferdes, das im Derby von Kentucky als Sieger von der Galopprennbahn geführt worden war. Nachdem er die Bilderrahmen an auffälligen Stellen seines Zimmers platziert hatte, kehrte er an den Schreibtisch zurück, nahm das nächste Blatt Papier, strich es glatt und machte sich mit gerunzelter Stirn erneut an die Arbeit. Abwechselnd nach Geschlecht und gegeneinander versetzt, hatte er dort Männer und Frauen mit altmodischem Federstrich um die Skizze eines Refektoriumstisches platziert, sich selbst und sieben Gäste.
Die Gästeliste war die Ausbeute wochenlanger harter gesellschaftlicher Arbeit am Ende von Michaelmas; Porfirio Osborne rieb sich die Hände. Thierry de Rastignac, Daniel Groß-Blotekamp und Arcangelo Distante – das klang beinahe so schön wie der halbe »Debrett’s«! Doch dann verdüsterte sich Porfirios Miene wieder: Seit der Absage von Emma und Tara waren Frauen in Unterzahl; die bunte Reihe ging nicht mehr auf. Für was für einen Gastgeber würden sie ihn halten? Er steckte sich seinen Füllfederhalter in den Mund und begann, geräuschvoll an dessen Kappe zu lutschen. Dann durchkreuzte er zwei Namen, tauschte zwei andere aus und zählte noch einmal Männer und Frauen.
Aus Keeble, wo sie eine Vorlesungsreihe über John Lewis Gaddis’ »Strategies of Containment« hielt, erwartete er Theda Skocpol, oder Oberstleutnant Theda Skocpol, wie sie im Sprachgebrauch der CIA hieß. Er hatte sie auf der Teeparty eines gewissen Potatoley Hawkins kennengelernt, der in den Räumlichkeiten von Mrs.Brandywines Pension in der Holywell Road eine Art inoffizielle Außenstelle des reaktionären Canning-Clubs betrieb. Beim Eintreten hatte ihn Potatoley Hawkins, der unter einer milden Variante des Downsyndroms litt, durch die Gläser seiner Legasthenikerbrille fixiert; dabei hatte der Flaum auf seiner Halbglatze gewippt und sein linker Zeigefinger sich, wie der Winkarm einer chinesischen Glückskatze, in dem Schälchen mit Cocktailsauce auf- und abbewegt, das neben Sellerie- und Karottenstreifen auf der Lederplatte seines Schreibtisches stand. Obwohl Porfirio Osborne sonst Linkshändern dieselbe Zauberkraft zuschrieb wie seine Großmutter den Faunen und Elfen von William Butler Yeats, hatte diese schamlose Geste seinen Sinn für Hygiene zutiefst beleidigt; zum tausendsten Mal hatte er an der Eignung des Vereinigten Königreichs zum unsinkbaren Flugzeugträger in dem Weltkampf der Systeme gezweifelt; zum tausendsten Mal hatte er sich gefragt, ob Langley nicht doch London zugunsten von Bonn und Westdeutschland aufgeben sollte.
In diesem Moment hatte ihn eine ihm unbekannte Frau so resolut am Oberarm gepackt, dass die Berührung Druckstellen auf seiner Haut hinterließ, von denen ein elektrischer Strom wie Kugelblitze durch seinen Körper gewandert war: »Theda Skocpol. Das ist Professor Potatoley Hawkins.«
»Potatoley Hawkins?«
Sie hatte schnell gesprochen, scharf, im Tonfall einer Gouvernante, die jedes Wort mit dem Kartoffelschäler moduliert. »Der brillanteste Altphilologe der Universität. Jeder glaubt, dass er die Dechiffrierabteilung von MI5 leitet; seine Operationen laufen unter dem Codenamen ›Bletchley Park II‹. Wie vulgär!« Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen, ihr Lachen klang wie das Meckern einer Bergziege. »Möglicherweise arbeitet Potatoley gar nicht für den Dienst. Geschähe ihm recht! Adrian Shamrack ist ein sicherer Kandidat, zumal er die kanadische Staatsbürgerschaft hat. Die Engländer lieben Zwitter, finden Sie nicht?«
Die rhombusförmige Gestalt hatte ein zweites Mal in ihre Richtung geblickt, ihr Finger sich weiterhin gehoben und gesenkt. Dann war Theda Skocpol aufgesprungen – Porfirio Osbornes Arm weiterhin in eisernem Griff –, hatte mit der anderen Hand gewinkt und durch den ganzen Raum gerufen: »Potatoley, huhu!«
Mit über den Wanst bis zum Bauchnabel gezogener Polyesterhose und bei jedem Schritt bedrohlich schwankend, hatte dieser sich auf sie zu bewegt und sich dabei bemüht, festgetrocknete Reste der Cocktailsauce aus den Mundwinkeln zu schlecken, bevor er jemanden begrüßte. In seinem hannibalesken Vormarsch war er von dem Vorsitzenden des Clubs gestoppt worden, und zwar indem dieser ein Sektglas in Richtung Zimmerdecke stieß. Hier spielt jeder sich selbst, hatte es Porfirio Osborne damals durchfahren, nun tatsächlich – ein Toast!
»Ladies and Gentlemen, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Ladies and Gentlemen – Please!«
Der Vorsitzende hatte eine bedeutungsvolle Pause gemacht.
»The Queen!«
»The Queen!«, hatte es von allen Seiten gedröhnt.
»Potatoley ist gerade zum fellow von All Souls gewählt worden«, hatte Theda Skocpol verschwörerisch geraunt. »Wissen Sie, was man ihn in seiner Aufnahmeprüfung gefragt hat?« Sie hatte ein Kostüm und Halbschuhe getragen und ihre Oberlippe zitterte wie die Nüstern eines Fohlens, das Witterung aufnimmt. Durch den kurzen Pony sah Porfirio Osborne ein Muttermal mitten auf ihrer Stirn. An wen, hatte er zerstreut gedacht, erinnert mich das bloß?
»Potatoley ist damals nur einfacher fellow von Brasenose gewesen, und da bitten sie ihn, einen Text aus dem Koptischen ins Altaramäische zu übersetzen. Leider gibt es in Oxford niemanden, der diese Arbeit korrigieren kann; so wird sie anonymisiert an die Universität von Nottingham weitergeleitet und tritt von dort eine Odyssee an bis nach St. Andrew’s in Schottland, um schließlich – wie ein Bumerang – wieder auf Potatoleys Schreibtisch zu landen. Päng! Natürlich haben es alle Beteiligten vorausgesehen. Das war ein klitzekleiner Streich, den man Potatoley Hawkins gespielt hat, mit dem kalkulierten Ausgang, dass er an der Aufgabe zerbricht, seinen eigenen Text zu korrigieren. Perfide, finden Sie nicht? Deswegen hat er vorsorglich Fehler in seine Übersetzung eingebaut; das Anagramm ihrer Korrekturen fügt sich zum ersten Satz einer bestimmten Neuinterpretation der anatomisch-balneologischen Sektion des Voynich-Manuskriptes, das Ihnen bekannt sein sollte.«
Porfirio Osborne hatte nur stumpf genickt, er wusste, dass sich die Geheimschrift dieses Dokuments den Deutungsversuchen der Kryptologie verschloss. Worauf wollte Theda Scopkol hinaus? Auf den Manuskriptseiten, umgeben von undechiffrierbaren Zeichen, trieben Gruppen leichengrüner Frauen durch die Wannen eines Badehauses wie Embryonen durch das Fruchtwasser, miteinander verbunden durch...