Seit Beginn der dritten Demokratisierungswelle in Südeuropa (1974) hat sich die Zahl der Demokratien bis zum Jahre 2001 weltweit vervierfacht. [27]In der Demokratieforschung sind sich die Wissenschaftler einig darüber, dass viele dieser Transformationsprozesse nicht in einer konsolidierten, rechtsstaatlichen Demokratie mündeten. [28]Der Transformationsprozess blieb oft rudimentär und führte zu „unvollständigen", „nicht-liberalen", „hybriden", „defekten" Demokratien. So kategorisiert Freedom House diese als „elektorale" und nicht „liberale" Demokratien, da diese Regime außer Wahlen kaum Strukturen aufweisen, die liberale Staats- und Demokratietheoretiker unter dem Begriff Demokratie subsumieren[29].
Zwischen den Jahren 1980 und 1993 hat sich der Anteil der Länder, die eindeutig einer Demokratie oder einer Autokratie zugeordnet werden können, deutlich reduziert. In den 1990er Jahren setzte sich dieser Trend fort. „Der Anteil der ,nicht-liberalen' Demokratien an den,elektoralen Demokratien' betrug 1991 etwa 38 Prozent. Bis zum Jahresanfang 2001 stieg er auf 41,6 Prozent."[30]
Das Signum der dritten Demokratisierungswelle scheint das Auftreten defekter Demokratien zu sein. Bei diesen defekten Demokratien handelt es sich nicht um einen homogenen Typ. Die unterschiedlichen Demokratiemessungen zeigen deutlich, wie heterogen das Spektrum der „nicht-liberalen" Demokratien ist.
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass durch die „nicht-liberalen" Demokratien die Grenze zwischen demokratischen und autoritären Regime zunehmend diffuser wurde. Regime, die sich in dieser Grauzone befinden (Grauzonenregime), lassen sich mit der bisherigen Regimetrias: totalitäre, autoritäre, demokratische Regime nicht klassifizieren.
Den unterschiedlichsten Demokratiemessungen zufolge handelt es sich bei der Türkei um solch ein Grauzonenregime.[31] Es existiert eine Vielzahl von verschiedenen Demokratietheorien, die sich mit dem Problem der Grauzonenregime befassen. Laut Manfred G. Schmidt sind die Studien zur Demokratiemessung von Vanhanen, Freedom House, Jaggers und Gurr wegweisend.[32] Bei allen drei Untersuchungen stimmen die verschiedenen Demokratieskalen in beachtlichem Maße überein. So wird die Türkei in allen drei Skalen als eine Demokratie mit Defekten aufgeführt.
Die Themenstellung der vorliegenden Arbeit beinhaltet auch die Frage nach dem derzeitigen Zustand des politischen Regimes in der Türkei. Die Theorie der defekten Demokratie von Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Puhle, Aurel Croissant, Claudia Eicher und Peter Thiery ermöglicht eine differenzierte Bestimmung des Zustandes der Demokratie in einem Land und zugleich die genaue Verortung der relevanten demokratischen Defizite. Durch dieses Konzept der defekten Demokratie können die hybriden Systeme sowohl theoretisch als auch konzeptionell erfasst werden. Die Unterscheidung zwischen liberalen Demokratien und defekten Demokratien wird möglich. Zusätzlich können verschiedene Subtypen defekter Demokratien identifiziert und klassifiziert werden.
Mit diesem methodischen und konzeptionellen Instrumentarium können die Demokratiedefekte der Türkei klar herausgearbeitet und die Politik der AKP dahingehend evaluiert werden, inwieweit sie diese Defekte strukturell zu verändern sucht.
Da jede Demokratieanalyse mit dem ihr zugrunde gelegten Demokratiebegriff steht und fällt, entwickeln die Autoren zunächst auf der Grundlage eines dreidimensionalen Demokratiebe-
griffs ein Basismodell demokratischer Regime, genannt „embedded democracy".[33] Aus diesem dreidimensionalen Konzept der liberalen Demokratie wird eine Vierertypologie defekter Demokratien entworfen.[34]
Das Wort Demokratie ist kein Begriff, der beliebig zu definieren ist. Die etymologische Wurzel des Wortes Demokratie liegt im griechischen demokratia. Demokratia setzt sich aus demos (Volk) und kratien (herrschen) zusammen. Dem Wortsinne nach bedeutet Demokratie demnach Volksherrschaft. Demokratie bezeichnet also einen bestimmten Typ der Organisationsform eines politischen Gemeinwesens.
Durch die historischen Erfahrungen, die der Begriff Demokratie in sich trägt, hat er sowohl eine logische als auch eine historische Kernbedeutung: das Prinzip der Volkssouveränität, Freiheit der Bürger, Prinzipien der politischen Gleichheit und der Herrschaftskontrolle. Das Kernprinzip der Demokratie ist die Volkssouveränität und die vertikale Verantwortlichkeit politischer Herrschaftsträger gegenüber den Beherrschten.
Die Autoren definieren Demokratie in ihrem Konzept als eine politische Herrschaftsordnung, die auf den drei Pfeilern der politischen Gleichheit, der politischen Freiheit sowie des Rechtsund Verfassungsstaates ruht. „Demokratie (als Kurzform für liberale rechtsstaatliche Demokratie) soll definiert sein als ein Set institutioneller Minima, das erstens eine vertikale Dimension demokratischer Herrschaft bezeichnet, nämlich vertikale Machtkontrolle, universelles aktives und passives Wahlrecht und die effektive Gewährleistung der damit verbundenen grundlegenden politischen Partizipationsrechte; zweitens eine horizontale Dimension, also Herrschaftskontrolle im Rahmen der gewaltenteiligen Organisation der Staatsgewalt und der rechtsstaatlichen Herrschaftsausübung; drittens eine transversale Dimension, also die effektive Zuordnung der Regierungsgewalt zu den demokratisch legitimierten Herrschaftsträgern."[35]
Dieses Demokratiekonzept beruht (analytisch betrachtet) auf der Annahme, dass die moderne Demokratie ein komplexes Institutionengebilde ist. Die rechtsstaatliche Demokratie ist ein Gefüge aus independenten und interdependenten Teilregimen. Insgesamt existieren fünf Teilregime. Diese sind „einander so zugeordnet, dass sie die ihnen innewohnenden widerstreitenden Machtquellen in demokratischen Herrschaftssystemen mit konsistenten Spielregeln versorgen.[36]
Die drei Demokratiedimensionen und die Teilregime ermöglichen neben der Abgrenzung von Autokratie und Demokratie zusätzlich sowohl die begriffliche wie analytische Differenzierung zwischen einer liberalen und einer defekten Demokratie, denn selbst wenn nur eines dieser Teilregime verletzt ist, handelt es sich um eine defekte Demokratie.
Das Wahlregime nimmt in den Teilregimen der „embedded democracy" eine zentrale Rolle ein. Die Aufgabe des Wahlregimes besteht darin, den Zugang zu den zentralen staatlichen Herrschaftspositionen durch offenen Wettbewerb an die Stimmen des Volkes zu binden. Das Wahlregime umfasst vier Kriterien: Das aktive und passive Wahlrecht, das universelle Wahlrecht, freie und faire Wahlen und gewählte Mandatsträger.
Politische Teilhaberechte beziehen sich auf die Assoziationsfreiheit und die Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit. Das Kriterium Assoziationsfreiheit umfasst zwei Kriterien: Die ungehinderte Bildung von politischen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen und das Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Um den demokratischen Status zu gewährleisten, sind Einschränkungen der Assoziationsfreiheit nur zulässig, solange sie Organisationen betreffen, die sich eindeutig gegen demokratische Grundsätze aussprechen beziehungsweise dementsprechend handeln.
Quintessenz liberaler Rechtsstaatlichkeit sind die verfassungsmäßig verankerten materiellen Grundrechte (civil rights). In das Teilregime der bürgerlichen Freiheitsrechte fallen sowohl die individuellen Schutzrechte (rechtlicher Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum) als auch die bürgerlichen Grundrechte (gleicher Zugang zur Justiz, Gleichbehandlung vor dem Gesetz). „Bürgerliche Freiheitsrechte sind die Kernelemente einer effektiven Staatsbürgerschaft: Individuelle Schutzrechte von Leben, Freiheit und Eigentum schützen den Einzelnen vor willkürlicher Verhaftung, vor Terror, Folter oder sonstigen gravierenden unerlaubten Eingriffen staatlicher wie privater Akteure.[37]
Sowohl die Gewaltenteilung als auch die Gewaltenkontrolle sind zentrale und unverzichtbare Elemente einer liberalen Demokratie. „Die horizontale Verantwortlichkeit der Gewalten sichert die Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns und ermöglicht dessen Überprüfung aufgrund der Gewaltenteilung und -kontrolle im Sinne einer aufeinander bezogenen relativen Autonomie von Legislative, Exekutive und Judikative."[38]
Trotz wechselseitiger Kontrolle und Hemmung darf keine der drei Gewalten in den Funktionsbereich einer anderen hineinregieren oder diesen dominieren. Die Rückkopplung des politischen Handelns der Regierung an die Interessen der Wähler wird direkt durch Wahlen und indirekt durch Gewaltenverschränkung sichergestellt.
Die effektive Regierungsgewalt muss bei den...