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E-Book

Liebeserklärung an die Psychoanalyse

AutorWolfgang Schmidbauer
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl216 Seiten
ISBN9783688105120
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Ein Wort wie ?Liebeserklärung? nimmt sich merkwürdig aus im Titel eines Buches, das Vorgehensweise und Ergebnisse der Psychoanalyse darstellt. Aber die Psychoanalyse hat im Laufe ihrer Geschichte so viel gehässige Ablehnung auf sich gezogen, daß ich einmal herausstellen möchte, was an ihr anziehend und liebenswert ist ... Die amerikanische Forscherin Nancy Chodorow erkennt die ?weiblichen? Qualitäten der Psychoanalyse, ?den Anspruch ... Wissenschaft und Kunst zu sein, eine sozusagen sanfte Wissenschaft, die den provisorischen Charakter von Interpretationen betont, den Schwerpunkt auf Gefühle und eine zwischenmenschliche Interaktion? legt. Heute vielleicht noch mehr als zu Beginn meiner Tätigkeit zieht mich diese einzigartige Verbindung von Wissenschaft und Kunst so an, daß ich gerade wegen meiner langen Erfahrung in diesem Beruf eine Liebeserklärung an die Psychoanalyse geschrieben habe.» (Aus dem Vorwort)

Wolfgang Schmidbauer wurde 1941 geboren. 1966 promovierte er im Fach Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München über «Mythos und Psychologie». Er lebt in München und Dießen am Ammersee, hat drei erwachsene Töchter und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis.Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch eine Reihe von Erzählungen, Romanen und Berichten über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften.Außerdem ist er Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.

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Leseprobe

1 Das Unbewußte


Die Psychoanalyse ist die Wissenschaft vom Unbewußten. Manchmal liest man «Unterbewußtes», ein Begriff, den Freud ausdrücklich abgelehnt hat, weil er unklar sei und räumliche Verhältnisse unterstelle, wo es sich um Erlebnisqualitäten handelt. Freud hat nicht entdeckt, daß es ein Unbewußtes gibt. Das ist ein Wissen, das sich weit zurückverfolgen läßt und bei Schopenhauer und Nietzsche bereits recht ausführlich beschrieben worden ist. Aber er hat Methoden weiterentwickelt und zum Teil neu gefunden, mit deren Hilfe das Unbewußte erforscht werden kann. Er hat den intuitiven und unsystematischen Zugang der Künstler und philosophischen Schriftsteller verändert, ihm die Macht und den Nachdruck der empirischen Wissenschaft verliehen. Das war nicht nur nützlich und fruchtbar, sondern auch gefährlich. Es enthielt ein wohl nicht einlösbares Versprechen, man könne auf diesem Weg die Gewalten des Unbewußten auch beherrschen.

Kritiker gehen oft so vor, daß sie den eigenständigen Charakter der Psychoanalyse leugnen und auf diese Weise zu dokumentieren glauben, daß sie nichts taugt. Handelte es sich um einen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand, würde allen die Absurdität dieses Vorgehens auffallen, wie bei einem Autotester, der – weil ihm eine bestimmte Marke nicht zusagt – beschließt, ihre Eignung als Motorboot zu prüfen, und schließlich zu dem Ergebnis kommt, das von ihm geprüfte Fahrzeug sei untauglich. Der besondere Charakter des psychoanalytischen Wissens wird allerdings manchmal von den Analytikern selbst nicht erkannt und nicht beherzigt. Psychoanalytische Aussagen dürfen nicht mit dem Bewältigungs- und Reduktionsanspruch der experimentellen Naturwissenschaft ausgerüstet werden. Das tut zum Beispiel ein Analytiker, der einem Politiker ohne dessen Einwilligung unbewußte Beweggründe oder Charakterstörungen unterstellt, die ihm zum Verhalten dieses prominenten Mannes zu passen scheinen. Das naturwissenschaftliche Prestige wird dadurch gewonnen, daß Naturvorgänge entdeckt und – sobald ihre Gesetzmäßigkeit erkannt ist – auch vorausgesagt werden können. Das würde erfordern, daß Typen oder Klassen von Menschen nach äußeren Merkmalen rasch erkannt und einander zugeordnet werden könnten.

Dies ist nach den Ergebnissen der psychoanalytischen Methode keineswegs der Fall. Leider wird häufig ein Mißbrauch der Psychoanalyse, der auf ungenügender Einsicht in ihre Eigenständigkeit beruht, von den Kritikern mit ihr identifiziert. «Psychoanalytiker werden weiterhin die fürchterlichsten Schnitzer machen, solange sie an ihrem unverschämten und intellektuell lähmenden Glauben kleben, sie besäßen einen ‹privilegierten Zugang zur Wahrheit›.» Rein mengenmäßig werden sicher mehr Kranke mit «objektivierenden» chemischen und chirurgischen Mitteln geschädigt als mit den «subjektivierenden» der Psychoanalyse. Aber dennoch ist jeder Versuch problematisch, psichoanalytische Aussagen mit dem Machtanspruch auszurüsten, der in unserer naturwissenschaftlich geprägten Medizin steckt. In diesem Fall schmückt sich die Psychoanalyse, ihrer Identität unsicher, mit des Kaisers neuen Kleidem.

In solcher teils tatsächlicher, teils unterstellter Anmaßung wurzelt auch die Anmaßung der Kritik. Der Psychoanalytiker mit dem Röntgenblick, der jedem Menschen, unabhängig von der analytischen Situation und von einem therapeutischen Vertrag, Komplexe und Verdrängungen nachweisen kann, der schier allwissende Voyeur und Entlarver, ruft die Entlarver des Psychoanalytikers auf den Plan. Wie Hans Jürgen Eysenck schleudern sie ihm den Vorwurf ins Gesicht, seine Methode richte nur Schaden an, seine Theorie erlaube keinerlei Voraussagen. In der Tat erlaubt die Psychoanalyse nur in der analytischen Situation Voraussagen. Warum ein Mikroskop zerschlagen, weil die Dinge, die es zeigt, nicht auch mit bloßem Auge sichtbar sind? Wieder hinkt der Vergleich, weil die wissenschaftliche Arbeit des Analytikers nicht sinnlich augenfällig ist, nicht technisch nachgeahmt, im Idealfall von einem Apparat übernommen werden kann. Die Macht der Psychoanalyse ist in Wirklichkeit sehr gering. Im Gegensatz zur Reflextheorie sind psychoanalytische Einsichten bisher noch nie von Diktaturen mißbraucht, als Mittel zu systematischer «Gehirnwäsche» verwendet worden. Die Reflexlehre bietet Instrumente an, die zumindest im Prinzip auch gegen das Einverständnis der Betroffenen funktionieren. Sie teilt die mit experimenteller Disziplin oft nur legitimierte, nicht wirklich in ihr wurzelnde Macht der technischen Naturwissenschaften. Die Psychoanalyse ist anders. Obwohl keineswegs alle Analytiker aus politischer Überzeugung den Faschismus oder Stalinismus abgelehnt haben, ist doch keiner von ihnen zu den machtvollen Positionen in der Behandlung von Nervenkranken (als die in Diktaturen nicht selten auch politische Gegner eingestuft werden) aufgestiegen, die «naturwissenschaftlich» orientierte Nervenärzte oder die Schüler Pawlows gewonnen haben.

Ich sehe darin gewiß keinen Ausdruck einer moralischen Überlegenheit der Psychoanalytiker. An Versuchen, sich bei den Nazis anzubiedern, hat es auch unter ihnen gewiß nicht gefehlt. Aber die Tatsache, daß sich die Psychoanalyse schlecht dazu eignet, Macht zu stützen und zu rechtfertigen, sollte doch festgehalten werden. Solche historischen Überlegungen können die Unterstellung zurechtrücken, die Psychoanalyse sei nur deshalb erfolgreich, weil sie ihrem Adepten «den vollkommenen Durchblick oder die Illusion eines solchen» verschaffe; «wer mit einigen ihrer Begriffe zu hantieren weiß, signalisiert schon, daß er etwas bis auf den Grund durchschaut hat. Die einzigen Gedankengebäude, die ähnliches leisten, sind der Marxismus und die Religion.» Es ist kurzsichtig, Omnipotenzgebaren und Machtmißbrauch durch akademisches Geschwätz einer und nur einer wissenschaftlichen Disziplin vorzuwerfen, sie gewissermaßen mit ihren Auswüchsen zu vermischen und zu verurteilen. Wer so spricht, macht aus einer bestimmten, ideologisch verhärteten Auffassung von Wissenschaft eine neue, ihrer selbst nicht bewußte und sich selbst nicht kritisierende Religion, die dann genau zu dem unschlagbaren Argument wird, dessen Besitz er seinen Gegnern vorwirft. Mir ist an der Psychoanalyse sympathisch, daß sie sich bisher als ungeeignet erwiesen hat, blutige Glaubenskämpfe oder Gulags zu rechtfertigen; vielleicht gelingt es ihr sogar einmal, sich von den ihr innewohnenden Verführungen zu einem dogmatischen Anspruch zu befreien.

In vielen populären Darstellungen der Psychoanalyse – vor allem in den Freud-Filmen – hat die Entdeckung des Unbewußten etwas Theatralisches. Plötzlich taucht die vergessene Kindheitserinnerung, die verdrängte Phantasie auf, alle Beteiligten sind erleuchtet und erleichtert, das Symptom verschwindet wie ein böser Spuk. Der Wissenschaftler tritt als Varieté-Zauberer auf, der bald die Neutronenbombe, bald die Herztransplantation, in diesem Fall eben den «Komplex» vorweisen kann.

Solange eine Gesellschaft von einer ganzheitlichen, mythisch oder religiös bestimmten Auffassung ihrer selbst bestimmt ist, wird niemand auf den Gedanken kommen, dem Begriff des Unbewußten allzuviel Aufmerksamkeit zu schenken. Erst zwei Umwälzungen, die sich in Europa vollzogen, schufen die Voraussetzungen dazu: die Aufklärung und die bürgerliche Revolution. Die Aufklärer setzten an die Stelle der überkommenen, traditionsgeleiteten und hierarchischen Strukturen die Autorität der persönlichen Vernunft. Ein Modell dafür ist das «ich denke, also bin ich» des René Descartes. Dadurch wurde die emotionale Seite des Menschen gespalten. Es gab erwünschte und unerwünschte, der Vernunft widersprechende Gefühle. Im Gegensatz zu den Bräuchen des Mittelalters wurde es zu einem medizinischen Problem, wenn jemand «unvernünftig» war. Ärzte sollten den Grad dieser Unvernunft beurteilen und Wege finden, mit ihr umzugehen. So wurde die wichtigste Vorstufe der Psychoanalyse entdeckt: die Erforschung der Macht unbewußter Vorstellungen durch Hypnose.

Charcot, der in Paris die wissenschaftliche Neurologie mitbegründet und sich später ausgiebig mit der Hysterie beschäftigt hatte, war aufgefallen, daß die Symptome der Neurose oft eine Art Gegenpersönlichkeit ausdrücken. Fromme Nonnen werden zu verführerischen Kurtisanen, wohlerzogene Knaben zu Gassenbuben. Freud verwendete zwar zunächst Charcots Methoden, hypnotisierte seine Patienten und versuchte, sie durch eindringliches Zureden wieder gesund zu machen, was ihm in vielen Fällen auch gelang. Aber er war damit nicht zufrieden. Er wollte nicht nur etwas bewirken, sondern verstehen, was vorging. Und er war bereit, über seine eigene Rolle in diesem Erkenntnisprozeß nachzudenken. In seiner ersten «psychologischen» Arbeit aus dem Jahr 1892 teilt er nicht nur mit, wie er eine «hysterische» Symptomatik geheilt habe, sondern auch, was dabei in ihm selbst geschah.

Es ging um eine sonst seelisch gesunde Frau, die bereits vor einigen Jahren ein Kind geboren hatte, aber es trotz besten Willens nicht zustande brachte, dieses auch zu stillen. Nach der zweiten Geburt fand Freud die Wöchnerin hochgradig erregt vor. Sie konnte nichts essen, das Anlegen des Kindes gelang nicht, weil die Brust sie schmerzte, sie fürchtete, wieder zu versagen. Freud gelang es, sie durch «beständiges Einreden der Symptome des Schlafes» in einen hypnotischen Zustand zu versetzen. Dann sagte er ihr: «Haben Sie keine Angst, Sie werden eine ausgezeichnete Amme sein, bei der das Kind prächtig gedeihen wird. Ihr Magen ist ganz ruhig, Ihr Appetit ausgezeichnet, Sie sehnen sich nach einer...

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