Zwölf verschiedene Ärzte und rund elf Jahre dauernde Schmerzen haben Menschen mit Fibromyalgie im Schnitt hinter sich, bis ein Arzt die richtige Diagnose stellt. Die Ursachen dieser unheilbaren Krankheit sind bis heute nicht bekannt. Die Fibromyalgie gehört leider zu den Krankheiten, über die wir im Vergleich zu anderen wenig wissen. Welche Fortschritte die Medizin macht und welche Erkenntnisse sie über den Zusammenhang von Stress und Schmerz gewonnen hat, erfahren Sie in diesem Kapitel. Auch wenn sich Fibromyalgie nicht heilen lässt, so gibt es doch viele Möglichkeiten, wie Sie einen guten Umgang mit der Erkrankung finden.
Die Diagnose Fibromyalgie oder Fibromyalgie-Syndrom (FMS) bedeutet für viele Betroffene im ersten Moment Genugtuung oder gar Erleichterung. Die andauernden Schmerzen, die mit wechselnder Intensität an mehreren Körperstellen auftreten, die Angst vor schmerzhaften Berührungen, die Schlafprobleme bei Nacht und ständige Müdigkeit am Tag, angeschwollene Gliedmaßen und aufgedunsenes Gesicht, nervöser Magen oder Darm, begleitet von Heißhungerattacken, der ständigen Angst zu versagen und Phasen mit quälender depressiver Stimmung: Für diese Vielzahl und Vielfalt unterschiedlicher Symptome konnten die Ärzte endlich einen gemeinsamen Nenner finden: Fibromyalgie oder Faser-Muskel-Schmerz.
Der Begriff Fibromyalgie bezeichnet erst einmal nur, wo die Schmerzen auftreten. |
Der Begriff setzt sich zusammen aus dem lateinischen Wort fibra für Faser und den griechischen Wörtern mys für Muskel und algos für Schmerz. Doch so, wie die Bezeichnung Bauchschmerzen noch nichts über deren Entstehung aussagt, beschreibt auch der Begriff Fibromyalgie lediglich, wo die Schmerzen auftreten: Nicht die Gelenke oder zentrale Bereiche der Skelettmuskulatur schmerzen, sondern vorrangig die gelenknahe Region am Übergang zwischen Muskel und Sehnen. Die genaue Beschreibung des Leitsymptoms ist notwendig, um die Erkrankung zu erkennen.
Weitere Beeinträchtigungen der Gesundheit, die Sie sicherlich kennen und die von Betroffenen und auch von einigen Ärzten nicht immer mit den Schmerzen in Verbindung gebracht werden, sind ebenfalls FMS-Symptome und damit wichtige Hinweise für die Diagnose. Erst seitdem verstanden wurde, dass auch diese Symptome zur Schmerzerkrankung gehören, gelingt eine zuverlässige Diagnose und reift in der Medizin das Verständnis für die psychologisch-physiologischen Zusammenhänge beim FMS.
Die Medizingeschichte der Fibromyalgie ist eine Abfolge von Erklärungsversuchen und Irrtümern, die heute noch nachwirken. Eine erste systematische Beschreibung der Fibromyalgie im Jahr 1816 ging davon aus, dass es sich dabei um eine Entzündung des Bindegewebes handele. 1904 vermutete man dagegen eine Faserentzündung und sprach folgerichtig von „Fibrositis“. In den 1930er- und 1940er-Jahren ergänzte man die Entzündungstheorie durch den drucksensiblen Effekt aufgrund vermehrter Zellteilung im schmerzhaften Gewebe (Hyperlapsie) und sprach nun von einer „Fibromyositis“ (Muskelfaserentzündung) oder einem „myofaszialen Schmerzsyndrom“.
Aus dieser Zeit rührt auch die, wie wir heute wissen, falsche Zuordnung des FMS zu den generalisierten Entzündungserkrankungen, auf die der Titel „Weichteilrheuma“ zurückgeht. Zwar wurde bereits in den 1950er-Jahren erkannt, dass auch psychische Belastungen am FMS beteiligt sind, doch bis in die 70er-Jahre hinein hielten viele Experten an der Zuordnung zu den rheumatischen Erkrankungen fest.
Erst in den späten 1980er-Jahren erkannte man, dass Schlafprobleme und chronische Müdigkeit sowie eine depressive Grundstimmung zum Krankheitsbild gehören. Seither setzte sich immer mehr die heute allgemein anerkannte Charakterisierung des FMS als Störung der Schmerzwahrnehmung und Schmerzverarbeitung durch.
Inzwischen kann man die Erkrankung also beschreiben, den Betroffenen kann der Begriff Fibromyalgie als Ursache für ihr Leiden genannt werden. Doch das bedeutet noch nicht, dass man die Erkrankung tatsächlich verstanden hat. Die Vielzahl und Vielfalt der Symptome ergibt leider noch kein einheitliches Bild, um eine „Theorie der auslösenden Ursachen“ (die sogenannte Ätiologie) zu formulieren und den Krankheitsverlauf vorherzusagen. Das ist auch das Fazit der aktuellen medizinischen Leitlinie „Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgie-Syndroms“ vom Juni 2017. Darin wurde unter Leitung der Deutschen Schmerzgesellschaft und Mitwirkung von zwölf medizinischen und heilberuflichen Fachgesellschaften sowie von Patientenorganisationen wie der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung der aktuelle Wissensstand zum FMS zusammengetragen und kritisch bewertet.
Für Patienten und Interessierte wurde eine allgemeinverständliche Fassung der Leitlinie formuliert. |
Die Bewertungen und Empfehlungen erstellte dieses Expertengremium nach intensiver Diskussion dann letztlich im Konsens, weiterhin strittige Punkte werden ausdrücklich benannt. Für Patienten und Interessierte wurde eigens eine allgemeinverständliche Fassung der Leitlinie formuliert, die weitgehend auf medizinische Fachbegriffe verzichtet. So können Sie und auch mittelbar Betroffene wie Ihre Angehörigen und Ihre behandelnden Ärzte sich anhand spezieller Versionen der Leitlinie zum aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand über das FMS informieren.
Chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafprobleme sowie geistige und körperliche Erschöpfung charakterisieren das FMS. Zudem belasten depressive Phasen das Leben vieler Menschen, die mit dieser Erkrankung leben müssen. Dabei betonen die Experten in der Leitlinie, dass die Klassifizierung als psychiatrische oder psychosomatische Erkrankung definitiv falsch ist. Sie sprechen dagegen von einer anhaltenden „somatoformen Schmerzstörung“: Das sind Schmerzen in mehreren Körperregionen, die eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität bewirken und zumindest ein halbes Jahr anhalten, für die aber keine körperliche Krankheitsursache gefunden wurde.
Das FMS ist eine Krankheit, die keine sichtbaren Spuren am Körper hinterlässt; dass Sie Fibromyalgie haben, sieht man Ihnen nicht an. Auch eine Betrachtung mit technischen Hilfsmitteln wie Röntgenapparat oder MRT (Magnetresonanztomografie) liefert keine eindeutigen Ergebnisse. Bislang sind keine Laborwerte bekannt, die eine klare Diagnose erlauben. Deshalb kann die Diagnose Fibromyalgie nur als Ausschlussdiagnose gestellt werden. Das heißt, alle anderen Erkrankungen, die vergleichbare Symptome hervorrufen, müssen sich als falsche Diagnose herausgestellt haben. Dieses Vorgehen erfordert viele Untersuchungen und Arztbesuche – wie Sie vielleicht selbst erlebt haben, ist das oftmals ein quälend langwieriges Verfahren. Zudem kann niemand seriös Auskunft darüber geben, wie sich die Beschwerden weiterentwickeln werden. Fibromyalgie ist eine sehr individuelle Erkrankung, mit einer Vielzahl und Vielfalt körperlicher und psychischer Symptome, doch dominant ist der Schmerz.
Auch wenn Fibromyalgie nicht geheilt werden kann, so gibt die Leitlinie Ärzten und Patienten doch eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten an die Hand. Grundsätzlich gilt: Die Entscheidung für eine Therapie sollten Arzt und Patient immer gemeinsam treffen.
Die aktuelle medizinische Leitlinie nennt eine Vielzahl von Therapieansätzen. |
Im Mittelpunkt der Empfehlungen stehen die körperbezogenen Therapien wie Ausdauertraining (Walking, Schwimmen oder Fahrradfahren) sowie ein niedrig dosiertes Krafttraining oder Funktionstraining. Ebenfalls hilfreich können Angebote wie Tai Chi, Yoga oder Qi Gong sein.
Empfohlen werden Patientenschulungen, in denen wichtige Themen rund um die Erkrankung behandelt werden. Wer beispielsweise weiß, wie Schmerzen entstehen und wie man damit umgehen kann, hat den ersten großen Schritt hin zu mehr Lebensqualität getan. Patientenschulungen werden im Rahmen von Reha-Maßnahmen, aber auch in Selbsthilfeverbänden durchgeführt.
Über die Gesprächs- und Verhaltenstherapie hinaus können Entspannungsverfahren wie Autogenes Training oder Progressive Muskelentspannung eingesetzt werden.
Eine zeitlich begrenzte Behandlung mit Medikamenten kann ebenfalls sinnvoll sein. Eines wird jedoch offensichtlich: Die FMS-Therapie erfolgt überwiegend ohne Medikamente – weil die meisten bei Fibromyalgie nicht helfen. Ziel ist weniger die Heilung als eine Linderung der einzelnen Symptome.
Wesentliche Therapiesäulen sind, um es nochmal auf den Punkt zu bringen, Aufklärung, Verhaltenstherapie, sportliche Betätigung sowie das Erlernen von Entspannungstechniken. Es sollen vor allem individuelle Strategien entwickelt werden, die dabei helfen, mit der Erkrankung, insbesondere mit den Schmerzen, gut zu leben. Arzneien wie NSAR,...