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Berufsrisiko Traumatisierung - Die verletzten Seelen der Lokführer

Über die Gefahr von Traumafolgestörungen nach Personenunfällen und die Wirkung von Resilienzfaktoren

AutorTatjana Suda
VerlagStudylab
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl139 Seiten
ISBN9783668525153
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
'Wenn ich groß bin, werde ich Lokomotivführer.' - Das ist der Traum vieler kleiner Jungen. In nicht wenigen Kinderzimmern findet man Miniatureisenbahnen, mit denen leidenschaftlich der Eisenbahnalltag nachgespielt wird. Nicht selten entsteht dabei der Wunsch, selbst einmal eine echte Lokomotive zu fahren. Doch ist es wirklich ein Traumberuf? Der Beruf des Triebfahrzeugführers ist stressig. Er trägt eine hohe Verantwortung und muss stets anpassungsfähig sein, denn es kann immer wieder zu Störungen im Bahnverkehr kommen. Unfälle kommen häufiger vor, als man annimmt, denn nur die wenigsten Unfälle werden in den Medien thematisiert. Personenunfälle sind für einen Lokführer ein tägliches Berufsrisiko. Ein großer Teil dieser Personenunfälle wird durch Suizidenten verursacht, die sich überfahren lassen. Machtlos und ungewollt werden Lokführer zu Beteiligten. Sie können dieser Situation nicht entfliehen. Sie können nicht ausweichen, nicht weglaufen und häufig aufgrund physikalischer Gesetze auch nicht rechtzeitig bremsen. Sie sind dieser Situation ausgeliefert. Diese Ausweglosigkeit führt dazu, dass ihre Seele leidet. Sie allein bleiben mit der Aufgabe zurück, mit diesem Erlebnis zurechtzukommen. Wie jedoch kann es gelingen, den Gedanken zu überwinden, dass sie an der Tötung eines Menschen beteiligt waren? Wie können Menschen angesichts derartiger Erlebnisse gesund bleiben? Warum sind einige Lokführer besser in der Lage, diese Unfälle zu überwinden als andere? Welche Faktoren haben dabei einen Einfluss? Die Autorin dieser Arbeit gibt Antworten auf diese Fragen. Aus dem Inhalt: - Posttraumatische Belastungsstörung; - Angststörungen; - Trauma; - Depression; - Resilienz

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Leseprobe

3 Stand der Forschung


 

Das einstige Tabu-Thema Schienensuizid rückt immer mehr in den Blickwinkel der Öffentlichkeit. Ein aktuelles Beispiel ist die Berichtserstattung in den Medien über den Suizid von Robert Enke im Jahr 2009. Der bekannte deutsche Fußballtorwart bereitete seinem Leben ein Ende, indem er sich vor einen herannahenden Zug warf. Schon damals blieb auch die Frage nicht unberücksichtigt, welche Bedeutung ein solcher Unfall für den Lokführer hat, der ungewollt zum Beteiligten wurde. Auch die Wissenschaft widmet sich zunehmend der Frage, welche psychischen Folgen ein solch traumatisches Erlebnis für den Lokführer hat. Nachfolgend werden drei Studien, die sich mit dieser Thematik befassen, vorgestellt.

 

3.1 Die Angst fährt immer mit


 

In der von der Psychologin Doris Denis verfassten Dissertation wurde untersucht, wie Berliner U-Bahnfahrer traumatisierende Schienenunfälle bewältigen. Ziel der Studie war es, die subjektive Bedeutung des Erlebten für die betroffenen Lokführer zu erfassen. Außerdem sollen Informationen über Art, Häufigkeit und Verlauf von posttraumatischen Symptomen geliefert sowie mögliche Bewältigungsstrategien und Unterstützungswünsche ermittelt werden. (vgl. Denis 2004, 15ff)

 

Zunächst wurden anhand des Studiums von Personalakten alle Zugführer der Berliner Verkehrsbetriebe ermittelt, die zwischen 1994 und 1996 an einem von 104 registrierten Fahrgastunfällen beteiligt waren. Letztlich erklärten sich davon 54 Lokführer bereit, in halbstandardisierten Interviews zu berichten, wie sie versuchte und vollendete Suizide erlebten und diese traumatischen Erlebnisse verarbeiteten. (vgl. ebd., 74ff)

 

70% der Lokführer, die einen Schienenunfall erlebten, waren durch das traumatische Erlebnis kurzfristig gesundheitlich eingeschränkt und dadurch arbeitsunfähig. 22% waren sogar von langanhaltenden gesundheitlichen Beschwerden so beeinträchtigt, dass sie längerfristig nicht in der Lage waren, ihren Beruf auszuüben. (vgl. ebd., 185)

 

Beim subjektiven Unfallerleben wurde deutlich, dass der Moment kurz vor dem eigentlichen Unfall die höchste Belastung ist. Die Gewissheit des Unausweichlichen, der Blickkontakt mit dem Suizidenten, sowie die Hilf- und Kontrolllosigkeit werden am schlimmsten erlebt. Lokführer schildern Entfremdungserlebnisse und intensive optische oder akustische Sinneseindrücke. In den ersten Stunden nach einem Unfall stellen Betroffene diverse intensive Veränderungen an sich fest. Etwa ein Drittel aller Befragten berichtete von physiologischen Reaktionen, die in Gefahren- oder Angstsituationen auftreten, wie bspw. einer erhöhte Pulsfrequenz, Atemnot oder einem Druckgefühl im Brustbereich. Auch von einer Veränderung der Emotionen wurde berichtet, so beschreiben 17% Wut, Gereiztheit und direkten Ärger über die Suizidenten. (vgl. ebd., 186ff)

 

In den ersten vier Wochen nach einem Unfall litten etwa 40% der Befragten unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Bei 9,3% wurden diese Beschwerden chronisch. Ebenfalls 9,3% entwickelten komorbide Angststörungen, depressive oder somatoforme Erkrankungen. Nahezu alle Untersuchungsteilnehmer litten bei Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit unter mindestens leichten bis mittleren Beschwerden, die sich bei 41,5% bis zum Zeitpunkt der Erhebung auch noch nicht vollständig normalisiert hatten. Als eine häufige dauerhaft negative Konsequenz beklagten zudem 73% der Betroffenen einen bleibenden Erregungsanstieg während ihrer Tätigkeit. Insgesamt gaben die Untersuchungsteilnehmer außerdem eine dauerhaft gesteigerte Ängstlichkeit an. Rund 40% der Befragten gaben aber eine positive Auswirkung auf den Beruf und rund 24% auch auf den Alltag an, indem das Erlebte als wertvolle Lebenserfahrung und Anstoß zu veränderten Lebensweisen gesehen wurde. (vgl. ebd., 190ff)

 

Die Bewältigung des Erlebten stellt sich bei den befragten Lokführern ganz unterschiedlich dar. Auffällig war, dass Freunde, Familie und die Kollegen für die meisten die wichtigste emotionale Unterstützung waren. Ansonsten zeigten sich eher unterschiedliche Bewältigungsstrategien. Lokführer mit geringen posttraumatischen Beschwerden entwickelten Copingmechanismen wie ‚Akzeptanz des Geschehenen‘ (41,9%) und ‚Ablenkung durch Aktivitäten‘ (41,9%). Sie gelten in der therapeutischen Praxis als stabilisierende und wichtige Schritte zur Normalisierung des Alltagslebens und Neubewertung des Erlebten. Betroffene, die langfristig unter einer PTBS litten, setzten als Copingstrategien eher Wunschdenken und abwartende Strategien ein. Untersuchungsteilnehmer, die zum Untersuchungszeitpunkt noch unter einer PTBS litten, setzten zudem emotionszentrierte Strategien ein, wie bspw. den ‚Wunsch optimistischer zu sein‘ (100%) oder ‚niemanden wissen zu lassen, wie schlimm es ist (80%). Diese Bewältigungsstrategien führen meist jedoch in einen weiteren Teufelskreis aus Schuldgefühlen, Unzufriedenheit und sozialen Rückzug. Allen befragten Lokführern gemein war, dass sie in den ersten Wochen nach dem erlebten Unfall darüber gesprochen haben. Insbesondere die, die diese Strategie ausgiebig nutzen, verarbeiteten das Trauma schneller. Im sozialen Leben gab es sehr vielfältige Strategien um das Geschehene zu verarbeiten: Die einen verbrachten ihre Zeit lieber alleine, die anderen suchten ständig Gesellschaft. Einige nahmen Medikamente, andere tranken Alkohol zur Beruhigung. Wieder andere reisten oder trieben viel Sport. (vgl. ebd., 198ff)

 

Hinsichtlich der Nachsorgeangebote und Unterstützungswünsche nach einem erlebten Bahnsuizid wurde deutlich, dass Hilfsangebote nicht ausreichend und zufriedenstellend sind. Zwar wurden mehr als Dreiviertel der Untersuchungsteilnehmer nach dem Schienenunfall in ein Krankenhaus gebracht, die Versorgung dort wurde jedoch als unzureichend und wenig unterstützend empfunden. Viele von ihnen würden eine erneute Behandlung im Krankenhaus in einem solchen Fall sogar ablehnen. In der Nachsorge war die Hemmschwelle wesentlich geringer einen Allgemeinmediziner zu konsultieren statt eines Facharztes oder Psychotherapeuten. Von ihrem Arbeitgeber wünschen sich die Befragten ebenfalls eine bessere Unterstützung: nicht nur im Akutfall eine fürsorglichere Haltung, sondern auch eine bessere Vorbereitung auf etwaige Unfälle im Vorfeld. Außerdem werden einer Verbesserung der Unterstützungsleistungen gefordert wie strukturelle Hilfen bei notwendigen Formalitäten oder Psychosoziale Beratung. (vgl. ebd., 206ff)

 

3.2 Unfreiwillige Helfer von Selbstmördern


 

Unter Verwendung von teilnehmenden Beobachtungen und Interviews verfassten Laube, Ernst-Kaiser und Baumgartner (2007) einen Artikel über die sozialen Bedingungen emotionaler Belastung von Lokführern durch Bahnsuizide und Formen ihrer Bewältigung. Das empirische Material wurde am Grazer Lokführer-Standort der Österreichischen Bundesbahn im Rahmen einer Feldforschung erhoben. Dabei erhielten die Forscher die Möglichkeit, Lokführer im Arbeitsalltag zu begleiten und ihre Arbeitssituation zu beobachten. Es wurden zwölf qualitative Interviews mit Lokführern sowie Experteninterviews mit Laienhelfern und Psychotherapeuten geführt. (vgl. Laube et al. 2007, 25ff)

 

Die Interviews lieferten folgende Ergebnisse: Bahnsuizide führen bei Lokführern zu einem Mangel an Ressourcen. Sie fühlen sich den Zusammenstößen mit Selbstmördern ohnmächtig und hilflos ausgesetzt. Doch nicht nur der Unfall an sich hinterlässt Spuren. Auch der Anblick der Leichen ist häufig unausweichlich, denn Erste-Hilfe ist laut Dienstvorschriften zwingend vorgesehen. Erschwerend belastend ist häufig, dass Lokführer im Zuge der Unfall-Ermittlungen routinemäßig unter den Verdacht der fahrlässigen Tötung geraten. So fühlen sich Lokführer häufig selbst als Täter, obwohl sie eigentlich die unfreiwilligen Beteiligten sind. Ohne eigene Handlungsressourcen zur Selbstbestimmung sind Lokführer dem Unfallereignis und seinen strukturellen Folgen ausgeliefert, ohne dass dies entsprechend als Belastung wahrgenommen wird. (vgl. ebd., 27ff)

 

Bei der Bewältigung von Bahnsuiziden scheinen Lokführer heutzutage offener mit dem Erlebten umzugehen. Während früher eher typisch männliches Verhalten wie Aushalten und Schweigen als angemessen galt, brechen die Lokführer heute eher ihr Schweigen. Das Benennen und Aussprechen eigener Gefühle, auch unter Zuhilfenahme psychologischer Hilfe, ist eine häufige Bewältigungsstrategie. Ehrliche Gespräche über das Erlebte sind kein Tabu mehr. (vgl. ebd., 34ff)

 

3.3 Posttraumatische Belastungsstörungen bei Lokomotivführern


 

Mitarbeiter des Institutes für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Köln (Siol, Schaefer, Thomas, Kaerger & Köhle) führten 1997 in Kooperation mit dem bahnärztlichen Dienst der Deutschen Bahn AG eine Studie mit sämtlichen Lokführern der Kölner DB-Betriebshöfe durch. Diese sollte sowohl Posttraumatische Beschwerden und ihren Verlauf nach Personenunfällen erfassen, als auch die Inanspruchnahme von therapeutischen Unterstützungsleistungen. An der Studie, die mittels Fragebögen durchgeführt wurde, haben von 942 Lokführer 429 letztlich teilgenommen. Die Fragebögen erfassten vorausgegangene berufsbedingte Unfälle mit Personen- oder Sachschäden, körperliche und psychische Beschwerden, sowie Möglichkeiten der sozialen Unterstützung. Von den Untersuchungsteilnehmern haben 64,3 %...

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