Zwölf vor fünf
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit meinen Suizidversuchen. Ich habe zu ihnen mittlerweile ein emotional distanziertes Verhältnis aufgebaut. Darüber bin ich froh, denn ansonsten würde ich an der Schuld, die ich auf mich geladen habe, da ich meiner Familie dadurch viel Leid und Kummer aufgebürdet habe, und den unangenehmen, traumatisierenden Erinnerungen zerbrechen. Wenn ich über die Suizidversuche schreibe oder an sie zurückdenke, dann kommt es mir vor, als würde ich die Geschichte einer fremden Person erzählen, denn glücklicherweise ist mir die Vera von damals fremd geworden.
Warum heißt das Kapitel »Zwölf vor fünf«? Nun, ich habe mir als Mahnmal meiner Suizidversuche eine Taschenuhr tätowieren lassen, die auf fünf vor zwölf Uhr stehen sollte. Sie sollte verdeutlichen, dass es eben kurz vor knapp bei mir war, vor allem in Bezug auf den ersten und dritten Suizidversuch, die ich einfach nur durch Glück und ein wohlwollendes Schicksal überlebt habe.
Kurz nach den Suizidversuchen dachte ich immer: »Jetzt hast du ständig versucht, dich umzubringen, und bist doch kläglich gescheitert. Bist du einfach zu blöd dazu?« Heute weiß ich, dass es ein Geschenk des Himmels war, sie zu überleben. Ich bin der höheren Macht dankbar, dass sie mich so gut beschützt hat.
Aber zurück zur Uhrzeit auf meiner Taschenuhr, die am rechten Oberarm eintätowiert ist: Sie sollte ja eigentlich auf fünf vor zwölf stehen. Ich habe es meinem Tätowierer auch damals so in Auftrag gegeben, mich aber, während er am Werke war, durch mein Smartphone ablenken lassen, ohne zur Abwechslung einmal alles – zwanghaft – zu kontrollieren. Und als ich den Fehler schließlich bemerkte, war es schon zu spät. Die Uhr stand unerbittlich auf zwölf vor fünf. Mein Tätowierer hatte fünf und zwölf schlichtweg vertauscht. Da er aus Ungarn kommt und nur schlecht deutsch spricht, hat er meinen Auftrag missverstanden. Zuerst habe ich mich natürlich geärgert, vor allem über mich selbst, weil ich nicht aufmerksamer die Ausführung der Tätowierung verfolgt habe. Nun ist es aber eben schiefgelaufen und ich bin im Nachhinein sogar über die falsche Uhrzeit auf meiner kleinen Taschenuhr froh. Auf diese Weise ist ein verschlüsseltes Rätsel entstanden und ich werde oft gefragt, was diese Uhrzeit denn bedeuten solle. Vertrauten Personen erzähle ich die Geschichte. Zwölf vor fünf oder fünf vor zwölf, ich weiß, was es damit auf sich hat, und das zählt. Außerdem ist die Ernsthaftigkeit des Symbols meiner Suizidversuche damit etwas aufgelockert. Beachtlich ist aber doch Folgendes: Haben mich meine Gewissenhaftigkeit, Kontrollsucht und Genauigkeit in die Angststörung und damit auch in die Suizidversuche getrieben, so ist diese Taschenuhr als Symbol meiner dunkelsten Momente durch einen gewissen Kontrollverlust so geworden, wie sie jetzt auf meinem Arm zu sehen ist. Und das deute ich mit meiner Vergangenheit als ein freundliches Augenzwinkern des Schicksals.
Die Uhr tickt …
Der erste Suizidversuch
Ich sitze auf dem Beifahrersitz im Auto neben meiner Mutter, die ununterbrochen auf mich einredet. Ich höre gar nicht zu, da ich viel zu sehr mit meinem sich immer wieder drehenden Gedankenkarussell beschäftigt bin. Alles in meinem Leben schien äußerlich perfekt, doch stehe ich nun vor einem tiefen Abgrund, verursacht durch einen innerlichen, gewaltigen Strudel, der mich immer weiter nach unten zieht. Wir sind gerade auf dem Nachhauseweg und die idyllische Landschaft zieht an uns vorbei. Doch auch wenn ich so tue, als würde ich die Landschaft betrachten, blicke ich letztlich ins Leere. Viel zu viele Gedanken kreisen in meinem Kopf, geprägt von Angst und Aussichtslosigkeit.
Ich muss an die Ereignisse dieses Tages denken. Wie ich am Morgen bei meinem damaligen Freund aufwache und das erste Gefühl, das ich empfinde, natürlich wieder Angst, ja eine regelrechte Panik ist. Vom Klingeln des Weckers aus dem Schlaf gerissen muss ich hinein in eine Realität, die mir als ungeheuer grausam erscheint.
Wovor ich Angst habe, kann ich nicht genau definieren. Eigentlich sollte ich mich freuen, denn ich darf heute für einen Ferienjob im Altersheim probearbeiten, aber wie so oft, oder eigentlich immer in den letzten Monaten, empfinde ich nur Angst. Angst ist zu meinem ständigen Begleiter geworden. Ein Begleiter, den ich nicht abschütteln kann, der immer bei mir ist und sich sofort lautstark zu Wort meldet, sobald ich einen kurzen Moment der Entspannung genießen kann. Diese Angst lässt sich nur durch ständiges Grübeln und Gedankenzwänge kurzzeitig reduzieren. Doch was ist das für ein Leben, in dem man nur damit beschäftigt ist, die inneren Dämonen und Ängste ruhig zu stellen?
Nachdem ich mich schließlich aus dem Bett gequält habe, fahre ich zum Probearbeiten und komme 20 Minuten zu spät, da ich unfähig bin, mich zu beeilen, und meine Ängste mich behindern. Im Altersheim werde ich kurz von den Schwestern eingewiesen und soll nun im Tagesraum arbeiten. Meine Oma, die auch in diesem Heim lebt, ist ebenfalls im Tagesraum.
Zu meiner Oma ist zu sagen, dass sie ein unglaublich lieber und einfühlsamer Mensch ist, der es im Leben oft nicht leicht hatte, aber nie mit seinem Schicksal haderte, sondern immer versuchte, das Beste daraus zu machen. Ich bewundere sie dafür sehr. Später, nach dem Suizidversuch, erzählte sie mir, sie hätte mir irgendwie schon angesehen, dass etwas mit mir nicht stimmte. Wie recht sie doch hatte. Ich quäle mich also durch den Vormittag und bin entsetzt, wie schlecht ich mich auf die Arbeit konzentrieren kann. Es geht nur schleppend voran. Ich muss an die Zeit meines freiwilligen sozialen Jahres (FSJ) denken, das ich nach dem Abitur in einem anderen Altersheim gemacht habe. Damals hat mir die Arbeit mit alten Menschen noch immer Spaß gemacht. Nun stelle ich mich unbeholfen an, fühle mich ziemlich hilflos. Ich bin viel zu sehr mit meinen Grübelzwängen beschäftigt, als dass ich mich auf die Bewohner konzentrieren kann.
Endlich ist der Vormittag vorbei und ich kann nach Hause fahren. Doch der Tag ist noch nicht überstanden. Es steht noch mein erster Termin bei der Psychiaterin an, da ich vor Kurzem meinen Eltern und meinem damaligen Freund Manu erzählt habe, dass es mir psychisch nicht gut gehe, und meine Mama für mich daraufhin einen Termin in der Praxis vereinbart hatte. Warum ich es ihnen so spät erst erzählt und mich geöffnet habe, weiß ich nicht mehr.
Die Ängste hatten ja schon zu Abiturzeiten angefangen, wurden während meines FSJ und später während des Studiums Alltag. Ich studierte soziale Arbeit und hatte sogar das Fach psychische Störungen, in dem auch Angststörungen thematisiert wurden. Doch ich log mich selbst lange an und verleugnete vor mir selbst, was mit mir los war. Ich spielte die glückliche, ehrgeizige Studentin. Doch innerlich war ich zerbrochen. Erst als die Angststörung in den Semesterferien ihren Höhepunkt erreichte, fing ich zögerlich an, mich zu öffnen. Ich war zu diesem Zeitpunkt auch schon sehr depressiv.
Als ich der Psychiaterin gegenübersitze, erzähle ich ihr zwar ausführlich von meinen Problemen, habe jedoch nicht das Gefühl und die Hoffnung, dass sie, eine Therapie oder die Medikamente mir helfen könnten. Aber ich habe einen Plan. Einen Ausweg – meinen Ausweg.
Die Entscheidung treffe ich endgültig, als sie mir fachlich und medizinisch bestätigte, dass ich eine Angststörung und Depressionen habe. Diese Diagnose von einer Fachfrau zu hören, ist für mich, die sich selbst so lange und gekonnt angelogen hatte, wie ein Faustschlag ins Gesicht. Mir wird klar, dass Selbstmord der einzige gangbare Ausweg für mich sein wird. Ich lasse sie reden und blicke aus dem Fenster.
Den Begriff Selbstmord mag ich eigentlich nicht. Er klingt so grausam und irgendwie nach einer Straftat. Freitod, das klingt schon besser und beschreibt auch genauer, wonach ich mich sehne.
Kurioserweise habe ich ja vor allen Dingen Angst. Angst, etwas falsch zu machen, jemanden zu verletzen; Angst, krank zu sein, und Angst, jemanden zu verlieren. Die Liste ist endlos. Kurzum – ich habe eigentlich Angst vor allem. Außer eben vor dem Tod. Der Tod erscheint mir als etwas Wundervolles. Das alte Leben hinter sich lassen und frei sein von Angst und Panik, das erscheint mir noch das einzig Erstrebenswerte. Ja, ich denke mir, es ist für uns alle das Beste. Ich glaube zwar zu wissen, was ich meiner Familie und meinen Freunden damit antun würde, aber ich kann dennoch nicht im Entferntesten einschätzen, welches Leid ich damit über alle meine geliebten Menschen bringen würde.
Auch wenn es mir unglaublich schwerfällt, es zuzugeben: In diesem Moment sah ich nur mein Leid und wollte es beenden, koste es, was es wolle.
Während die Psychiaterin mir also Therapiemöglichkeiten und die Medikamenteneinstellung erläutert, bin ich in Gedanken nur noch...