1 Die ersten Jahre – eine besonders wichtige Zeit
Bei Geburt bringt das Menschenkind bereits Millionen Jahre menschlicher Entwicklung mit, beispielsweise die Anlage zum aufrechten Gang oder das Bedürfnis, sich sprachlich mitzuteilen. Aus jüngerer Erbfolge erinnern Sie sich an Familienmerkmale wie die Nase des Vaters, die Intelligenz der Mutter – leider auch manchmal deren erbliche Krankheiten oder Lernstörungen.
Auf diese genetischen Faktoren wirken unmittelbare Einflussfaktoren aus der Schwangerschaft: die mütterliche Gesundheit, die sozioökonomische und seelische Lage der Familie. Trotz großer Fortschritte in der vorgeburtlichen Diagnostik bleiben die meisten Entwicklungsbedingungen des Kindes im Mutterleib auch heute noch im Dunklen, bis das Kind selbst das Licht der Welt erblickt.
Erst nach dem risikoreichen Ereignis »auf Leben und Tod« von Mutter und Kind, der Geburt, zeigt sich, zumindest äußerlich: Ist das Kind gesund? Ist »alles dran«? Ob alles drin ist, besonders im Gehirn, wissen wir, bis auf Ausnahmen, auch dann noch nicht: Wird es alle Blüten seiner mitgebrachten Fähigkeiten entfalten können oder nur einige und gerade die, die es sich selbst wünscht? Das hängt in starkem Maße auch von seinen äußeren Lebensumständen ab, die wir alle mitgestalten.
In grafischer Vereinfachung zeigt der »Entwicklungsbaum« (s. Abb.1, S. 18) auf der linken Seite biologische und gesundheitliche, rechts soziokulturelle Einflüsse, deren intensivster und erster die Familie des Kindes ist – im Guten wie im Schlechten. Der Baum illustriert auch die bio-psycho-soziale Komplexität kindlicher Entwicklung, denn alle diese Einflüsse verflechten sich während der kindlichen Entwicklung untrennbar miteinander zu einem komplexen Gewebe und beeinflussen einander. Gute oder schmerzhafte Erfahrungen werden später wie körperliche oder seelische Knoten oder Narben zu spüren sein. Andere verschwinden oder bleiben im Unbewussten verborgen, dennoch zeitlebens unser Handeln mitbestimmend.
Konzepte für Betreuung frühkindlicher Entwicklungsstörungen müssen diese Komplexität berücksichtigen und »ganzheitlich« sein.
1. Merksatz: In der frühen Kindheitsentwicklung sind alle Funktionen biologisch miteinander verbunden und voneinander abhängig.
Eine gerade Linie zwischen einem bestimmten Ereignis und einer Blüte des »Entwicklungsbaums« gibt es sehr selten, denn unzählige Faktoren wirken auf den kindlichen Organismus ein, der selbst in höchster Geschwindigkeit wächst und sich verändert. Während der Erwachsene einzelne Funktionen wie Denken, Bewegung und Emotion weitgehend unabhängig voneinander aktivieren, bremsen oder fördern kann, ist es eine biologische Besonderheit des Kleinkindes, dass alle Funktionen noch miteinander verbunden sind. Beispielsweise gerät beim Baby der ganze Körper in Bewegung, wenn es sich freut. Leider können sich deshalb Störungen auch komplex auf die gesamte Entwicklung auswirken.
Die Komplexität kindlicher Entwicklung erfordert interdisziplinäre Zusammenarbeit von Fachleuten, die ihr Spezialwissen zu einer ganzheitlichen Sicht kindlicher Entwicklung zusammenzufügen.
2. Merksatz: Das Gehirn wächst am Die Hirnforschung nennt die strukturelle und funktionelle Vernetzung von Nervenzellen im Gehirn »Konnektivität«. schnellsten in den ersten 3 Lebensjahren
Bei Geburt besteht das menschliche Gehirn schon aus mehr als 100 Milliarden Zellen. Es wächst dann sehr schnell: Am Ende des 3. Lebensjahres hat es bereits 80 % des Erwachsenen-Volumens erreicht. Aber nicht die Hirnzellen (= Neuronen) vermehren sich, sondern es sind ihre Verzweigungen (Dendriten), die enorme Netzwerke untereinander durch Aussprossung bilden und sich in ca. 100 Billionen Schaltstellen (Synapsen) verknüpfen. Dieses Netz funktioniert in komplexen Regelkreisen, die lange Zeit variabel bleiben, um stets neue Eindrücke verarbeiten zu können.
Dendriten sprossen immer dann aus, wenn das Hirn Informationen aus der Außen- und Innenwelt des Säuglings als Nervenimpulse erhält und sie in den ihnen genetisch zugedachten Zentren eintreffen: Um einen Seheindruck zu verwerten, wird dieser beispielsweise im Sehzentrum, aber auch im Zentrum für Personengedächtnis verarbeitet. Bei wiederholter Benutzung dieser »Leitung« werden aus Einzeleindrücken bleibende Erinnerungsbilder, die sich – z. B. als das stets wiederkehrende Gesicht der Mutter – durch Dendriten und Synapsen biologisch fixieren. Nervenaussprossungen, die nicht weiter genutzt werden, verschwinden wieder.
3. Merksatz: Die biologische Fixierung von Lerneindrücken ist einzigartig für die frühe Kindheit
Die Zahl der Nerven-Aussprossungen im Gehirn ist abhängig von der Zahl der Impulse, die im Gehirn ankommen. Dadurch ist die Gehirnentwicklung von Mensch zu Mensch verschieden, wobei natürlich das menschliche Gehirn in der Grundausstattung bei jedem gleich ist. In der Computersprache könnte man das anatomische Gerüst mit »Hardware« beschreiben, die variablen Lernmöglichkeiten und ihre Vernetzungswerke mit »Software«.
4. Merksatz: In früher Kindheit zeigt die Hirnentwicklung umweltabhängige Variabilität, d. h. »Plastizität«.
Die umweltabhängige Variabilität des Hirnwachstums nennt man »Plastizität«. Sie birgt Gutes wie Schlechtes. Wenig Informationszufuhr lässt wenig sprossen: Hirn und Kopfumfang bleiben klein, die Hirnleistung bleibt begrenzt. Zu wenig Information erhalten Kinder, die in psychosozialen Problemsituationen »vernachlässigt« aufwachsen, etwa
• durch überforderte oder minderjährige allein erziehende Mütter,
• in anhaltender Familiendisharmonie,
• mit depressiven, abgelenkten Eltern in Situationen wie Armut, Arbeitslosigkeit, in Krisen wie Katastrophen, Krieg,
• in langen Krankenhausaufenthalten und
• als Frühgeburt in Inkubatoren (Maschinen statt Mutterleib).
Abb. 2: Schnell zunehmende Vernetzung der Nervenzellen im Gehirn
Entwicklungsrisiken durch mangelnde Zuwendung können aber innerhalb der ersten Lebensjahre gerade aufgrund der biologischen Plastizität durch gezielte Stimulation und Zuwendung nachweislich auch wieder ausgeglichen (kompensiert) werden. Dieses Aufholen ist nur in den ersten 3–4 Lebensjahren möglich!
Auch therapeutisch wird Plastizität genutzt: Hirnzellen können durch gezielte Stimulation zu kompensierender Aktivität angeregt werden. Viele Therapiearten, besonders »auf neurophysiologischer Grundlage«, wie Bobath, Vojta oder Basale Stimulation, nutzen diese Fähigkeit seit 30–40 Jahren.
Aber: Viel hilft nicht einfach viel! Die richtige Anregung muss in der richtigen Qualität zur richtigen Zeit kommen: Das Gehirn muss entwicklungsmäßig in der Lage sein, die Anregung verarbeiten zu können.
5. Merksatz: Jede Funktion hat eine optimale Zeit höchster biologischer Lernfähigkeit, die »Sensible Phase«, auch »Lernfenster« genannt. Nutzen Sie diese förderpädagogisch und therapeutisch!
Abb. 3: Beispiele für sensible Phasen, in denen diese Fähigkeiten besonders leicht erworben werden (Graphik mod. n. L. Wagner).
Diese Phasen gehen vorbei und kommen nicht wieder. Je später ein Förderangebot in Bezug auf die sensible Phase einsetzt, desto weniger effektiv und desto zeit- und kostenaufwändiger wird es verlaufen, von den seelischen Folgestörungen (Störungsbewusstsein bei Kind und Familie, soziale Stigmatisierung) ganz zu schweigen.
Plastizität, umweltabhängige Hirnentwicklung, sensible Phasen sind der wissenschaftliche Boden, auf dem die Maßnahmen von Früherkennung, Frühförderung, Frühtherapie und früher sozialer Integration wachsen.
Sie können nicht ohne den Hauptfaktor frühkindlicher Entwicklung wirksam werden, der das Medium jedes Lernens und jeder Stimulation ist: die liebvolle zwischenmenschliche Beziehung. Liebe und Zuwendung öffnen die emotionale Lernbereitschaft.
6. Merksatz: Gefühle bestimmen die Architektur des Gehirns.
Vokabeln Deprivation: Entbehrung Deprivationssyndrom: leiblich-seelischer Entwicklungsrückstand durch Zuwendungsmangel, fehlendes Geborgenheitsgefühl
Ohne Liebe blockiert Angst die...