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Der Pubertist

Überlebenshandbuch für Eltern

AutorHelmut Schümann
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783644011410
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Das Überlebenshandbuch für Eltern: Schneller, als wir glauben möchten, sind sie groß, die lieben Kleinen, und der Pubertist ist geboren. Es beginnt eine schaurige Zeit - für die Eltern. Was macht man, wenn die Kinder alles vergessen, was sie gelernt hatten? Wenn das Pubertistenzimmer nur noch auf Stelzen zu betreten ist, mit Gasmaske und Augen, die nichts mehr schrecken kann? Oder wenn der Sprössling eine Mitpubertistin heimbringt, die Tür schließt und nicht mehr gestört werden möchte? Tief durchatmen und die Nerven bewahren - manchmal hilft Pädagogik, selten Strenge. Fein - und hintersinnige Tricks retten den einen oder anderen Tag, doch meist ist ein gesunder Stoizismus angeraten und die Hoffnung, dass die Hormonattacke des Nachwuchses irgendwann nachlässt. Ein Buch für Eltern, die in die Pubertät gekommen sind und trotzdem weiterleben möchten.

Helmut Schümann, geboren 1956 in Düsseldorf, ist Journalist. Er war Redakteur der «Süddeutschen Zeitung», des «Spiegel» und der «Berliner Zeitung». Seit 1999 arbeitet er als Reporter für den «Tagesspiegel». Sein Buch «Der Pubertist. Überlebenshandbuch für Eltern» (2004) wurde zum Bestseller.

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Leseprobe

Wann ist das Kind ein Mann?


Das Kind konnte Fragen stellen, jede Menge Fragen.

«Papa, wann bin ich groß?», hatte es zum Beispiel gefragt, und das alle naslang. Papa, wann komme ich in die Schule, Papa, wann bekomme ich ein Auto, Papa, wann einen Computer, und einmal – das Kind und die Mutter und der Vater, die große Katze und die kleine Katze lebten in einer großen Stadt im Norden –, als das Kind und der Vater über eine breite, berühmte Straße fuhren, an deren Seiten viele Lokale waren, über denen viele bunte Lichter blinkten und viele nackte Frauen, da fragte das Kind, was denn das für Lokale seien. Das Kind war damals so sechs Jahre alt.

Der Vater sagte, dass er auf den Straßenverkehr achten müsse.

«Ja, ja», sagte das Kind, «aber warum sind da so viele bunte Lichter, und Papa, hihi, warum sind da so viele nackte Frauen?»

Der Vater sagte, dass die Ampel rot sei.

«Ja, ja», sagte das Kind. «Und, Papa, sind die roten Lichter über den vielen Lokalen und den, hihi, nackten Frauen auch Ampeln?» Die Lichter blinkten rot und grün und gelb, überwiegend rot. «Nicht wahr, Papa, wenn Rot ist, darf man nicht rein in die Lokale?», fragte das Kind.

Gott, dachte der Vater da, was sagt man nun? Zum Beispiel könnte man sagen, du, lass uns Eis essen gehen. Das Kind wäre dann vielleicht abgelenkt und würde nicht mehr nach Lokalen mit blinkenden Lichtern und, hihi, nackten Frauen fragen. Aber finden Sie mal auf der Reeperbahn eine Eisdiele ohne blinkende Lichter. Oder man könnte sagen, du, das ist noch nichts für dich. Nur – hat man dann Ruhe? «Wieso?», würde das Kind fragen, und man wäre als Vater keinen Schritt weiter. Man wäre sogar, rein pädagogisch betrachtet, ein paar Schritte zurück, weil all die pädagogischen Ratgeber dem Vater und der Mutter beigebracht hatten, dass fragende Kinder kluge Kinder seien und man ihnen immer wahrheitsgemäß antworten sollte. Und altersgerecht auch. Wie antwortet man altersgerecht und wahrheitsgemäß, wenn das Kind sechs Jahre alt ist und sich nach Stripteaselokalen erkundigt?

Die Ampel zeigte immer noch Rot. Das Kind starrte aus dem Fenster. «Uii», sagte es, «rote Lichter.» Und:

«Uiiuiiuii, nackte, blinkende Frauen. Toll. Nun sag schon, Papa, was sind das für Lokale? Da will ich rein.»

Der Vater antwortete wahrheitsgemäß und altersgerecht. «Das sind Lokale», sagte er, «in denen Frauen sich ausziehen und so, damit Männer sie sich ansehen können und so, und Kinder haben da keinen Zutritt, nur Männer.»

«Papa», fragte daraufhin das Kind, «wann bin ich Mann?»

 

Paul fragt jetzt kaum noch. Paul ist bald Mann, Paul ist groß. Noch nicht ganz groß, das nicht, aber was die Körpergröße angeht, hat er den Vater schon erreicht. Zumindest zu Anfang dieser Aufzeichnungen – kurz nach Anfang dieser Aufzeichnungen hatte Paul den Vater überholt. (War allerdings auch nicht so schwer, wie die Mutter sagt – das am Rande.) Inzwischen geht Paul zur Schule, lange schon, und fragt nicht den Vater, sondern die Welt, wann die Schule endlich vorbei ist, hat kein Auto, dafür einen Computer. Auch leben Paul und die Mutter und der Vater, die große Katze und die kleine Katze nicht mehr in einer großen Stadt im Norden, sondern in einer noch größeren Stadt im Osten, der Hauptstadt nämlich, und in der gibt es wohl auch Lokale mit blinkenden Lichtern und nackten Frauen, aber die interessieren Paul nicht mehr. Die Lokale zumindest.

Paul pubertiert jetzt, und so ein Pubertist geht selbständig auf die Pirsch. Gott, ja, denkt sich der Vater nun manchmal, was sagt man da. Früher, als der Pubertist noch Kind war und entzückend und süß und zart und klein, da war das leicht. Da konnte man ohne anzuklopfen ins Kinderzimmer kommen, und wenn das Kind mit seiner Flamme aus dem Kindergarten auf dem Boden hockte und die beiden Liebespaar spielten, dann fragte man zum Beispiel, ob sie noch Kekse wollten oder so etwas. Kakao vielleicht. Aber heute?

Neulich war es so: Da gingen Paul und Mitpubertisten auf Reisen, unter Aufsicht zum Skifahren, und schon beim Treffen vor den Reisebussen gab es ein großes Hallo. Die Pubertisten begrüßten sich, sehr lässig, sehr groß, mit erhobenen Händen klatschten sie sich ab, blieben anfangs unter sich und schauten nur hin und wieder über die Schulter zu dem Platz, an dem die Pubertistinnen standen. Die begrüßten sich ebenfalls, blieben anfangs unter sich, schauten nur hin und wieder über die Schulter, zu dem Platz, an dem die Pubertisten standen. Dann bewegten sich beide Grüppchen aufeinander zu und vermischten sich. Es gab da so eine kleine Blonde, die um Paul herumwuselte. Sah eigentlich ganz niedlich aus, die Kleine, dachte der Vater, flüsterte der Mutter jedoch vorsichtshalber zu: «Was macht sich da für eine blonde Schlampe an meinen Sohn ran?» Dafür erntete er einen Zeigefinger an der Stirn und den höhnischen Zusatz: «Neidisch, was?» Pff, hatte der Vater seinerzeit gedacht und «Mein Sohn soll’s ja mal besser haben!» gesagt. Ein Fehler. Der Rest des Tages war Schweigen. Überhaupt war es für lange Zeit das letzte Mal, dass sich der Vater in Pauls Irrungen und Wirrungen eingemischt hat. Außerdem hat Paul fürs Erste verboten, über Luise und Esther und Judith und Paula und Sophie zu berichten. Die Mutter hatte das Verbot ausdrücklich begrüßt.

Aber es gibt ja auch noch ein anderes erstes Mal im Leben eines Pubertisten. Paul trinkt keinen Kakao mehr, Paul und Mitpubertisten feiern Partys. «Und was macht ihr auf den Partys?», hatte der Vater mal beiläufig gefragt. «Och, dies und das», hatte Paul geantwortet – und der Vater sich gesorgt, was «dies» denn wohl sei, und besonders, was «das». Letzteres weiß er nun seit neulich.

Da war nämlich wieder Party. Verkleidungsparty. Grad lustig war es, als Paul, verkleidet als Scheich, Mitpubertist Markus, der Mafioso, und der fröhliche Kung-Fu-Kämpfer Lukas loszogen. Und als die drei spät in der Nacht vom Partyveranstalterinnenvater heimgefahren wurden, da waren sie immer noch grad lustig. Markus Corleone und Bruce-Lee-Lukas durften bei Paul übernachten.

Markus grinste lässig, Lukas schwer und Paul schief. Irgendwie schief, wie man halt grinst, wenn einem die Gesichtszüge entgleiten, weil das Blut zu schnell durch die Adern rauscht. Der Vater grinste nicht.

«Wassissnn?», fragte Paul.

«Mit mir nichts», sagte der Vater.

«Issjaaueal», sagte Paul.

«Lussigwars», sagte Lukas.

«Aha», sagte der Vater, «man sieht es, man riecht es, ihr alle drei seid ja betrunken!» Paul stritt das ab, Markus auch, und Lukas sagte, er sei doch immer lustig, «immerlussig». Dann fing Paul an zu erzählen, dass «Luise, Esther, Judith und Paula besoffen waren, die haben nur noch gekichert und gar nicht mehr aufgehört zu kichern, so gekichert haben die, die, die, ja die, die waren betrunken, die haben ja auch den ganzen Abend dieses Zeug … na, dieses Zeug eben, weiß jetzt nicht, wie das heißt, issjaaueal. Aber wir doch nicht, pff! Außerdem vertragen wir mehr und kichern auch nicht so rum. Genau.»

Paul, Markus und Lukas kicherten.

«Genau», sagte der Vater und wusste nicht recht, ob er nun auch kichern, zornig sein oder den Pubertisten pädagogisch kommen sollte. Die Mutter schlief ja gottlob schon und konnte nicht berichten, was die ältere Schwester vom ersten Rausch des Vaters so alles zu erzählen gewusst hatte. Andererseits, was nützt schon Pädagogik bei drei betrunkenen Pubertisten?

Was nützt überhaupt bei Pubertisten und gegen sie?

Manchmal sitzt der Vater mit Pilz zusammen, seinem alten Freund und Vater von Lene. Paul und Lene kennen einander aus Kindergartenzeiten, auf einem alten Photo wackeln die beiden Hand in Hand auf einem Feldweg von dannen. Inzwischen ist Lene Mitpubertistin, und die Geschichten, die Pilz von ihr zu erzählen hat, ähneln denen von Paul aufs Haar. Nach den Geschichten bestellen Pilz und der Vater meist ein Bier. «Aus der Haut fahren möchte man manchmal», sagt Pilz dann nach dem ersten Bier.

«Aber die waren doch vor kurzem noch so süß», sagt der Vater.

«Ja, ja», sagt Pilz. «Noch zwei Bier», sagt Pilz.

«Mir auch zwei Bier», sagt der Vater.

«Hilft einem ja auch keiner», sagt Pilz.

«Wer soll schon helfen», sagt der Vater, «so Ratgeber etwa, in denen unter dem Stichwort ‹Zicken› steht: ‹Zickt der Pubertist, sollte man ganz ruhig bleiben und besonnen›?»

«Hilft auch nicht», sagt Pilz, «eigentlich hilft nur, dass man das alles nicht so ernst nimmt. Zu wissen, dass es andern ähnlich geht, das ist das beste Handbuch. Und früher war man schließlich selber so – das gibt sich.»

«Issjaaueal», sagt der Vater, «noch zwei Bier.»

 

Aber der Vater wollte ja von den drei Pubertisten erzählen. Die hatten sich dann ihre Betten gebaut, und dem Vater war eingefallen, wie es war, wenn das Blut zu schnell durch die Adern rauschte und das Bett zum Karussell wurde und sich drehte, viel zu schnell drehte und viel zu lange, so lange, bis sich der Magen umdrehte. Eine Sauerei im Zimmer war nämlich anschließend, und am nächsten Morgen war es ganz schrecklich, weil man im Zustand der Übelkeit und der Peinlichkeit auch noch sauber machen musste. Also gab er Paul und Markus und Lukas den Tipp: «Wisst ihr, wenn das Blut zu schnell durch die Adern rauscht und das Bett zum Karussell wird und sich dreht, viel zu schnell dreht und viel zu lange, so lange, bis sich der Magen umdreht, dann setzt euch einfach aufrecht ins Bett, wenn ihr einschlaft, fallt ihr schon von selber um.»

Die...

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