Wenn es weh tut, schlag zurück
(Bangkok)
Ein Dorf im Norden, früh am Morgen. Ich sitze in einer Hütte mit dem Rücken an der Wand. Mai Lin fragt mich, ob ich Schlangen zum Frühstück mag. Ich verneine das. Über meinem Kopf hängt ein kleiner Sack. Ich habe ihn vorher nicht wahrgenommen und sehe ihn erst, als Mai Lin ihn vom Nagel nimmt und öffnet. Vier oder fünf Schlangen sind darin. Ihre Brüder haben sie in der Nacht mit Steinschleudern erledigt. Jede ist so etwa einen Meter lang. Mai Lin beginnt, sie aufzuschlitzen. Und als sie mit den Schlangen fertig ist, holt sie die tote Ratte aus dem Sack. Ich verlasse sofort die Hütte.
Wenn du Thai-Boxen verstehen willst, dann mußt du dahin reisen, wo sie Ratten essen, hatte man mir gesagt. Da kommt es her. Mai Lins Eltern und Geschwister sind landlose Bauern, wie sechzig Prozent der Bevölkerung in den nordöstlichen Provinzen Thailands. Sie leben von gelegentlichen, wahnwitzig schlecht bezahlten Saisonarbeiten und dem, was sie fangen. Traditionell gibt es für diese Menschen, außer der immer wieder versprochenen und nie durchgeführten großen Landreform, nur eine Möglichkeit, das zu ändern: nach Bangkok zu gehen. «Die Armen verkaufen ihre Körper», sagt ein siamesisches Sprichwort. Die Frauen als Huren, die Männer als Muay Thai.
Die Voraussetzungen dafür erklärt der Reisbauer Tongdee, der im Nachbardorf eine Boxschule sein eigen nennt, seitdem der Dorfoberste die achthundert Baht für den Sandsack gestiftet hat. Trainiert wird auf nacktem Lehmboden. Der Reisbauer sagt, ein Boxer brauche: 1. Kraft, 2. Schnelligkeit, 3. einen guten Lehrer und 4. Gehorsam gegenüber dem Lehrer. Und was er den Dorfkindern als erstes lehrt, geht so: «Wenn es weh tut, zeig nicht, daß du Schmerzen hast – und schlag zurück.»
Bangkok, Lumpini-Stadion, am nächsten Abend. Hexenkessel, Abteilung Südostasien. Zweitausend Zuschauer, hohe Wetten, alle brüllen. Thais sind irgendwann mal ausgewanderte Südchinesen. Und alle Chinesen sind dem Glücksspiel und der Wettsucht verfallen. Die Fingerzeichen, mit denen sie sich verständigen, kann ich nicht entschlüsseln, aber die ganze Halle fuchtelt mit den Händen, während im Ring zwei Muay Thai der 150-Pfund-Gewichtsklasse aufeinander losgehen. Die Regeln: Beißen, Unterleibsattacken und Kopfstöße sind verboten; ansonsten sind sämtliche Boxtechniken erlaubt, Handrückenschläge, Tritte, Ellbogen- und Kniestöße dürfen zum Kopf, Körper und zu den Beinen ausgeführt werden. Die Tritte und Ellbogenstöße sind am K.o.-effektivsten, die meisten Punkte bringt der Krokodilschwanz-Schlag. Ein sehr schwieriger und deshalb selten ausgeführter Tritt, bei dem das Schienbein im Nacken des Gegners explodiert. Jeder Treffer wird von der Menge mit einem Kampfschrei honoriert, der so tief aus dem Bauch kommt, daß er sich wie aggressives Stöhnen anhört.
Dazu spielt eine zehnköpfige Gruppe auf Trommeln und Blasinstrumenten. Der Sound der Flöten bewirkt auf der Stelle Trance, die Trommeln sind in etwa so schnell wie Technobeat. Nach diesem Rhythmus fallen die Schläge. Denn das ist das Prinzip. Wenn es weh tut, schlag zurück, hatte der Reisbauer gesagt. Jede blitzschnelle Attacke wird mit einer Gegenattacke beantwortet; während eines Schlagabtauschs drischt jeder Kämpfer gut ein dutzendmal auf den anderen ein, dann schnappen sie nach Luft, hüpfen ein bißchen auf der Stelle und explodieren ein weiteres Mal. Von zehn Schlägen führen sie sieben mit dem Schienbein aus. Das Schienbein ist der Hammer im Muay Thai, leider ist es auch der schmerzempfindlichste Teil des Beins. Früher, als es noch keine Sandsäcke gab, haben sie ihren Schienbeinen an Bananenstauden die Pingeligkeit abtrainiert, daß es die ganz Harten auch an Eisenstangen tun, wird immer wieder erzählt, aber ich kenne keinen, der es gesehen hat oder gar fotografiert. Doch der Unterschied zwischen Eisen und Knochen ist in diesem Ring ohnehin kaum auszumachen.
Ich sitze in der ersten Reihe, und die erste Reihe ist so nah dran, daß man sein Bier am Rand des Ringes abstellen kann. Das tun auch alle, und alle rauchen, und keinen scheint die Dusche aus Schweiß und Blut zu stören, wenn sich der Kampf in seiner Ecke abspielt oder, besser, abspult. Uralte Bewegungsabläufe. Die burmesischen Mönche, die den Kampf im 15. Jahrhundert entwickelten, und die siamesischen Könige, die ihn für ihre Soldaten perfektionierten, sind längst tot. Aber Muay Thai lebt. Muay Thai ist ein unsterbliches Wesen. Denen, die sich ihm opfern, schenkt es ohne Ende Schmerzen, aber auch eine gewisse Tödlichkeit. Ansonsten fallen mir an diesem Abend im Lumpini-Stadion noch drei Dinge auf. Erstens: Die Kämpfer sehen dem Gegner nicht in die Augen, nicht auf die Fäuste und nicht auf die Beine, sondern auf die Bauchmuskeln, denn die Bauchmuskeln zucken vor jedem Schlag. Zweitens: Nicht weit von mir sitzen drei Touristinnen aus dem Westen. Alle drei mit dem gleichen Gesichtsausdruck. Versunken und doch erregt. Drittens: Nachdem die nunmehr beide blutenden Muay Thai fünf Runden lang wie Tollwutkranke aufeinander eingehämmert haben, fällt nach dem Schlußgong der Sieger auf die Knie, um dem Verlierer die Füße zu küssen.
Bangkok, am Nachmittag, die goldenen Buddhastatuen eines großen Tempels ragen in den Himmel. In direkter Nachbarschaft zu den Experten der Gewaltlosigkeit liegt der Aumanun-Boxstall, einer der größten und berühmtestesten des Landes. Er hat zahllose Champs hervorgebracht. Fünf sind es zur Zeit. Hier trainieren an die dreißig Kämpfer jeder Altersstufe und Gewichtsklasse, es gibt mehrere Trainer und zwei Cheftrainer. Unter den Boxern sind auch zwei Japaner, doch sie werden, wie alle ausländischen Kämpfer, von den Thais nicht ernst genommen. Der weltweite Boom des Muay Thai eröffnet den thailändischen Boxern zwar internationale Karrieren, aber umgekehrt kommt hier keiner weit. Denn das ist das Leben der Muay Thai. Jeder in diesem Boxstall trainiert seit seinem achten Lebensjahr sechs Stunden pro Tag. Kein Alkohol. Keine Drogen. Sie essen im Boxstall, sie schlafen im Boxstall, ihn zu verlassen, egal ob am Tag oder in der Nacht, ist verboten. Also auch kein Sex. Ausnahme: Nach jedem Kampf dürfen sie für vier Tage nach Hause.
Mit dem Geld sieht es so aus: Kampf- und Siegprämien bis fünftausend Baht gehen zu hundert Prozent an den Boxer, von jeder Summe zwischen fünf- und zehntausend Baht bekommt der Boxstall tausend, und ab zehntausend Baht wird halbe-halbe gemacht. Mit dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr ist in der Regel Schluß. Dann haben die Boxer kaputte Knochen und was gespart, oder sie haben kaputte Knochen und nichts gespart, oder sie machen es wie der Mönch, der dort in gelben Tüchern friedlich auf der Mauer sitzt. Er schaut den Kämpfern zu, denn er ist selber mal Kämpfer gewesen, Profi, Lumpini-Champ (Kampfname: Tiger). Weil ihn dann die Welt zu nerven begann, hat er vor etwa dreizehn Jahren bei Buddha eingecheckt. Als ich ihn frage, welches Leben härter ist, das des Mönches oder das des Boxers, lacht er lange und laut. Er beruhigt sich wieder. «Mönch ist tausendmal härter», sagt er.
«Er hat recht», sagt Thitipong Aumanun, der Besitzer des Boxstalls, und er sagt es, weil er ein guter Boxstallbesitzer ist. Die schlechten lassen ihre Boxer in den letzten drei Tagen vor dem Kampf bis zu zehn Kilo abschwitzen, damit sie ihre Gewichtsklasse halten. Zehn Kilo in drei Tagen. Nichts essen, nichts trinken, Schwitzanzug und endloses Joggen mit Begleitern, die sie auffangen, wenn sie umzufallen drohen. Gute Boxstallbesitzer machen das nicht. Für Thitipong Aumanun liegt die Grenze bei vier abzutrainierenden Kilo, und sein Mann, der heute abend antritt, braucht überhaupt nicht abzunehmen. Der hat Idealgewicht. Der kann die letzten drei Tage schlafen, soviel er will.
Wie wir hören, ist er gerade aufgewacht. Kampfname: Den Toranee. Held der Erde, aber Erde nicht im Sinne von Planet, sondern von Acker. Er kommt aus den nordöstlichen Provinzen, ist fünfundzwanzig Jahre alt, hat hundertfünfzig Kämpfe hinter sich, von denen er hundertzweiundzwanzig gewann. Er war bereits Lumpini-Champ in seiner Gewichtsklasse, wurde geschlagen, gehört aber noch immer zur Top ten. Bis zum jetzigen Zeitpunkt seiner Karriere hat er sechshunderttausend Baht verdient, und davon hat er im Heimatdorf für seine Familie (landlose Bauern) einen Acker, ein Haus und ein Auto gekauft. Er hofft, noch zwei Jahre kämpfen zu können. Heute abend geht es um fünfzigtausend Baht.
Lumpini-Stadion, am Abend, backstage. Die Boxer haben keine Kabinen. Irgendwo am Rand der Halle ist ihr Bereich, wo sie beten, sich umziehen und massieren lassen. Vier Masseure pro Mann. Akkordarbeit. Neun Kämpfe sind angesetzt. Die Boxer kommen und gehen. Mit ihnen Trainer, Freunde, Boxstallbesitzer. In der Luft liegt ein schwerer Teppich an Gerüchen. Billiges Kokosöl, teure Parfums, Zigaretten. Die Trommeln der Kampfmusik und die Schreie der Menge dringen aus der Arena. Und nur wenige Meter von mir entfernt verliert ein junger Boxer sein Gesicht.
Er ist gerade von seinem Kampf zurückgekommen. Er hat ihn verloren. Er sitzt mit gesenktem Kopf auf einem der Massagetische und sieht regungslos zu Boden, während sein Boxstallbesitzer ihn zuerst ohrfeigt und beleidigt und dann mit der flachen Hand direkt auf den Mund zu schlagen beginnt. Der Boxstallbesitzer ist ein reicher Mann und trägt schwere Ringe an der Hand, mit der er schlägt. Alle hier erstarren, und keiner sieht den Boxer an, weil jeder Blick auf seine Schmach ihm noch ein Stückchen mehr Haut vom Gesicht ziehen würde.
Guter Boß, schlechter Boß. Der gute steht neben...