Gewünschte und wahrgenommene Teilhabe an medizinischen Entscheidungen – Empirische Befunde zu hämatoonkologischen Patienten (S. 147-148)
Jochen Ernst, Christina Schröder und Elmar Brähler
1 Einleitung und Fragestellung
Im Kontext der gesundheitspolitischen Diskussionen der letzten Jahre sind der Wandel der Patientenrolle und veränderte Interaktionsmuster im Arzt-Patient-Verhältnis zu einem zentralen Thema geworden. In diesem Zusammenhang hat das Konzept des „Shared Decision Making“ (bzw. Partizipative Entscheidungsfindung) auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung gefunden. Dieses Modell der Arzt-Patient-Beziehung hebt sich vom paternalistischen Entwurf ab, indem es ein gemeinsames, partizipatives Vorgehen von Arzt und Patient in den Vordergrund stellt. Es bezieht sich dabei vorrangig auf die Therapieentscheidungen und misst dem Informationsaustausch sowie dem Erkennen und Respektieren von Patientenpräferenzen seitens des Arztes große Bedeutung zu (Charles et al., 1997, Flynn et al., 2006, Makoul & Clayman, 2006).
Die Forschung hat in den letzten Jahren nach Wegen gesucht, eine gemeinsame Entscheidungsfindung vor allem im Bereich der chronischen Erkrankungen zu verbessern und Patienten Möglichkeiten zu eröffnen, sich zusätzliche Informationen und Entscheidungshilfen nutzbringend zu erschließen. Im Fokus standen dabei die Ermittlung des Patientenwunsches nach Entscheidungsteilhabe, die Sicht der Ärzte und die Implementierung von „ Decision Aids“, um Patienten und Mediziner bei der Umsetzung des Shared Desicion Making zu unterstützen (Ernst et al., 2007, O’Brien et al., 2009, Wirtz et al., 2006). Untersucht wurden hierbei unterschiedliche Krankheitsbilder (Härter et al., 2005), vor allem aber auch maligne Tumorerkrankungen. Gut befundet ist der Status quo bei Brust- oder Prostatakrebspatienten, da hier einerseits häufig gleichwertige Behandlungsalternativen mit entsprechenden Wahlmöglichkeiten existieren, andererseits aufgrund der höheren Inzidenz größere Stichproben erzielt werden und differenzierte Forschungsfragen geklärt werden können (Harcourt & Rumsey, 2004, Hawley et al., 2007, Janz et al., 2004, Vogel et al., 2008, Williams et al., 2008).
Für die soliden Tumore belegen umfangreiche empirische Befunde den Wunsch von Patienten nach Entscheidungspartizipation und Autonomie (Deber et al., 2007, Hack et al., 2006, Mandelblatt et al., 2006). Eine gemeinsame Entscheidung wird von 40 bis 89 % der onkologischen Patienten gewünscht, insbesondere hinsichtlich der Therapiewahl oder auch der Rahmenbedingungen der Behandlung (z. B. zu welchem Zeitpunkt die Behandlung erfolgen sollte, Kraetschmer et al., 2004). Über die Studien hinweg sind es etwa drei Viertel der Patienten, die an Therapieentscheidungen beteiligt sein möchten, rund jeder Fünfte wünscht dabei eine eher passive Rolle bzw. überlässt dem Arzt die Entscheidung allein (Deber et al., 2007). Als Einflussfaktoren für einen größeren Wunsch nach Einbeziehung in Behandlungsentscheidungen sind u. a. jüngeres Alter, bessere Bildung sowie eine höhere Gesundheitskompetenz beschrieben worden, wobei Interaktionseffekte, z. B. zwischen dem Alter und dem Bildungsstand, zu beachten sind (Bleicher et al., 2008, Hawley et al., 2007, Janz et al., 2004).
Vielfach werden positive Auswirkungen der Patientenbeteiligung berichtet, vor allem bei chronischen Krankheiten und einer längeren Entscheidungsabfolge (Joosten, DeFuentes-Merillas et al., 2008). So kann eine aktive Patientenbeteiligung mögliche Entscheidungskonflikte und psychische Belastungen mindern und die Compliance sowie Behandlungszufriedenheit verbessern (Mandelblatt et al., 2006). Auch Kliniker nehmen eine gemeinsame Entscheidungsfindung langfristig als hilfreich wahr und können somit vom Shared Decison Making profitieren (Joosten, de Weert et al., 2008).
Wenige Kenntnisse gibt es zur Patientenpräferenz und -mitwirkung in Bezug auf maligne hämatologische Erkrankungen. Dies dürfte vor allem auf die relativ niedrige Prävalenz dieser Erkrankungen (Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e.V. & Robert Koch Institut, 2006) und auf die erschwerte klinische Zugänglichkeit zu den Patienten (u. a. akute Beschwerden) zurückzuführen sein. Im Vergleich zu Patienten mit soliden Tumoren sind das Fehlen einer subjektiven körperlichen Verortung des Krankheitsgeschehens maßgebend, die Unabwägbarkeit von bestimmten Behandlungsstrategien (z. B. bezüglich der Risiken und Langzeitfolgen) sowie die Notwendigkeit, Entscheidungen mit einer hohen Antizipationsleistung zu erbringen. Letztlich sind getroffene Entscheidungen über einen großen Zeitraum und unter dem Einfluss „krankmachender“ Therapien und einer invasiven Begleitdiagnostik aufrecht zu erhalten (Koehler et al., 2006, Montgomery et al., 2002). Vereinzelte Befunde – meist auf der Grundlage kleiner Stichproben – legen den Schluss nahe, dass hämatoonkologische Patienten im Unterschied zu anderen Patientengruppen ein relativ passives Verhalten zeigen, sowohl hinsichtlich der Informationssuche als auch der Beteiligung an medizinischen Entscheidungen (Friis et al., 2003, Yogaparan et al., 2009). Ein Grund hierfür könnte die häufig berichtete extreme psychische Belastung dieser Patienten sein, sowohl infolge der Erkrankung als auch der zu erwartenden invasiven und komplexen Therapien (z. B. Knochenmarktransplantation). Unter diesen Bedingungen lassen sich eine latente Hilflosigkeit der Patienten und eine ausgeprägte Abhängigkeit vom medizinischen Expertentum beobachten. Dies schränkt den Wunsch nach aktiver Entscheidungsbeteiligung ein bzw. lässt eine Mitwirkung an medizinischen Entscheidungen möglicherweise als zusätzliche Belastung erscheinen (Montgomery et al., 2002). Onkologisch tätige Ärzte sind in einer australischen Studie zu eigenen Erfahrungen mit dem Entscheidungsverhalten ihrer Patienten befragt worden.