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Volksgemeinschaft in der Kleinstadt

Kornwestheim und der Nationalsozialismus

AutorThomas Großbölting
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl195 Seiten
ISBN9783170319660
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Wer verstehen will, wie der Nationalsozialismus in Deutschland an die Macht kam, darf nicht nur nach Berlin oder in andere Metropolen schauen. Ebenso aufschlussreich sind die Prozesse der Machtübertragung, der Selbstgleichschaltung und der aktiven Aneignung von NS-Ideologie und -Politik auf kommunaler Ebene. Das Buch erzählt, wie der Nationalsozialismus Politik, Gesellschaft und den Alltag einer Kleinstadt durchdrang. Es zeigt, wie sich die Gesellschaft unter den politischen Vorzeichen der Diktatur aktiv veränderte und wie eben diese Menschen nach 1945 mit ihrer Erfahrung der Diktatur umgingen. Gerade in den Strukturen des Kleinstädtischen konnte man sich für die Idee der 'Volksgemeinschaft' deshalb besonders öffnen, weil diese in vielem anschlussfähig war für die eigenen Traditionen, Wertmuster und Überzeugungen. In diesem gesellschaftlichen Mikrokosmos werden die Wirkmechanismen und die Herrschaftsstrukturen des nationalsozialistischen Regimes daher besonders augenfällig und der Aufbau der 'Volksgemeinschaft' an der Basis nachvollziehbar. Durch diese eingehende Beschreibung liefert der Band neue Zugänge zum Verständnis des Nationalsozialismus von der Weimarer Republik bis zum Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Professor Dr. Thomas Großbölting hält den Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Universität Münster.

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Leseprobe

 

2


»Volksgemeinschaft« als dreifaches Versprechen: Das Jahr 1933 als Revolution, als Kontinuität und als Einheitssuggestion


 

 

»Aus den Jahren der Geschichte unserer Stadtgemeinde«, so führte Bürgermeister Alfred Kercher gegenüber dem Gemeinderat am 1. Februar 1934 aus, »wird das Jahr 1933 immer emporragen, schicksalhaft und richtunggebend.«1 Warum das so sei, begründete der erste Bürger der Stadt vor allem mit Verweis auf den Kontrast, welches dieses Jahr zum vorangegangenen bot. Im Rechenschaftsbericht für 1932 sah sich die Stadt großen Problemen ausgesetzt: die Arbeitslosigkeit auf einem Höchstmaß »und immer noch im Wachsen begriffen«, die Fürsorgelasten so weit angeschwollen, dass die »Mittel für die Lebensnotwendigkeiten unseres Gemeinwesens« nicht reichten. Vor allem aber bescheinigte der Chronist dem Gemeinwesen eine desaströse Grundstimmung. Neben der »um sich greifenden Not« wucherten auch »Haß, Neid und Mißtrauen von Bürger zu Bürger«. Der erbitterte Kampf der »Parteien, Klassen und Stände« hätte die Bürgerschaft zerfleischt und ihr »so die Widerstandskraft gegen das Gift einer in den Jahren großgewordenen Hetze verantwortungsloser Elemente« genommen. Wer diese »Elemente« waren, daran ließ Kercher keinen Zweifel. Er thematisierte den Gegensatz zwischen denen, – so die Vorstellungen Kerchers – die besaßen und erwirtschafteten, und denen, die forderten: Auf der einen Seite standen die Bürger, die nur noch zur Aufbringung der Steuern da zu sein schienen, während im Gegensatz dazu die »andern« glaubten, »ohne Gegenleistung mit dem Druck der Straße über diese Gelder verfügen zu können.« Diese politische Spitze richtete sich vor allem gegen Links und damit gegen Kommunisten und auch Sozialdemokraten, die in den Jahren zuvor immer stärker darauf gedrängt hatten, die sozialen Verwerfungen in der Stadt, vor allem die Arbeitslosigkeit und die Wohnungsnot, durch Hilfen und Interventionen der Stadt zu lindern.

Folgt man dem Bürgermeister, dann war die Rettung aus dieser spannungsreichen Situation die nationalsozialistische Revolution. Das Gegenbild zur Zerrissenheit zu Beginn des Jahres 1933 und der Zeit davor war die »Volksgemeinschaft«, wie sie sich laut Kercher vor allem am 1. Mai 1933 gezeigt hatte: Am Tag der Arbeit »marschierten die Arbeiter der Stirn und der Faust, das Heer der geeinigten Stände und Klassen, durch die Straßen unserer Stadt, in denen sich vor noch kaum zwei Monaten Bürger und Bürger bekämpft und blutig geschlagen hatten.« Zudem, so fügte Kercher nicht zuletzt auch in eigener Sache hinzu, habe die nationalsozialistische Revolution nicht nur an der Spitze des Reiches einen Führer installiert, sondern auch in den Gemeinden und Städten die Voraussetzungen für Führer geschaffen, die auch tatsächlich führen konnten. Damit beschrieb Kercher nicht zuletzt seine eigene Rolle, war er doch vom kommissarischen Amtsverweser eingerückt in die Position des Bürgermeisters, nicht durch Wahl von Seiten der Bevölkerung, sondern auf Vorschlag der NSDAP-Einheitsfraktion im Gemeinderat und ernannt durch die Landesregierung unter dem Nationalsozialisten Wilhelm Murr.

Wie sich die neue politische Ordnung praktisch auswirkte, erläuterte Kercher am Beispiel der Arbeit des Gemeinderats: Mit der Auflösung des alten Gemeinderats und dessen Neukonstituierung seien jetzt nur noch nationalsozialistische Fraktionsmitglieder vertreten. »Jetzt erst war die Gewähr der geradlinigen und starken Führung der Gemeinde gegeben.« Zwar sei nur noch der Ortsvorsteher der Aufsichtsbehörde und der Fraktionsvorsitzende der Partei Rechenschaft pflichtig, aber doch arbeiteten alle Gemeinderatsmitglieder mit. »Alles was geschieht, muss geschehen für das Gesamtinteresse unserer Gemeinde, für unser Volk und unser Vaterland.«

Dankbar schaue die Stadt nun im Rückblick auf das Jahr 1933 auf »zu dem großen Staatsmann, der solches Werk geschaffen.« Zum Gelöbnis der Treue habe die Stadt »unserem Volkskanzler und Führer« die Ehrenbürgerschaft verliehen wie auch eine Reihe von Straßen nach nationalsozialistischen Vorkämpfern benannt. In der Reichstagswahl vom 12. November und bei dem damit verbundenen Volksentscheid über den Austritt des Deutschen Reiches aus dem Völkerbund habe Kornwestheim an der »Spitze der ›regierungstreuen‹ Industriestädte« gestanden. »Der neue Geist«, so resümierte Kercher, »war Gemeingut geworden.« Das Jahr 1933, begonnen in Not und Sorge, habe »die Wendung zum Besseren, neuen Glauben und neue Hoffnung« gebracht. »Das Jahr 1934 muß [sic!] mit geeinter Kraft das begonnene Werk vollenden. Alles was geschieht, muß [sic!] geschehen für das Gesamtinteresse, für unsere Gemeinde, für unser Volk und Vaterland.« Nach erneuten Ovationen für Hitler schloss Kercher seine Rede.

Das Bild, welches Kercher an dieser Stelle entwarf, war im Deutschland des Jahres 1934 weit verbreitet. Es entsprang vor allem der Darstellung und der Propaganda der NS-Bewegung selbst: Die Ereignisse in der ersten Jahreshälfte 1933 erklärten die NS-Autoren zur »nationalen« oder gar zur »nationalsozialistischen Revolution«.2 Synonym dazu verbreitete die eigene Propaganda die Bezeichnungen Machtergreifung und Machtübernahme, bevor dann der Reichsminister Goebbels auf eine andere Sprachregelung umschwenkte und ergänzend von der Regierung der nationalen Erhebung oder der nationalen Konzentration sprach.

Allen Bezeichnungen waren verschiedene Komponenten gemeinsam: die Betonung des Anbruchs einer neuen Zeit, die jetzt gekommen sei; der Aktivismus der Tat, der vom Willen und der Energie einer neuen Elite getragen wurde; das Versprechen von »Volksgemeinschaft « und, eng damit verbunden, Geschlossenheit und Sozialharmonie. Weg von den Klasseninteressen der Systemzeit, so eine gängige abwertende Bezeichnung für die Weimarer Republik, und hin zu einer neuen Gemeinschaft. Insbesondere der Begriff Gemeinschaft war hoch ambivalent, versprach er doch gleichermaßen wiederherzustellen, was verloren ging und zugleich eine offene verheißungsvolle Zukunft, in der eine erstrebenswerte soziale Ordnung zu erreichen sei.

In der Verheißung und der damit verbundenen Mobilisierung lag die Kraft des Ideologems »Volksgemeinschaft«. Die Ansprache Kerchers nahm viele dieser Elemente auf. Und auch darüber hinaus gab es zahlreiche Hinweise darauf, dass die Anhänger der Bewegung durchaus Veränderungen wünschten und verspürten. In diesem eingeschränkten Sinne war 1933 ein Einschnitt.

In der sozialen Realität blieb vieles zunächst beim Alten und entwickelte sich nur langsam in eine Richtung, die die NS-Diktatur wollte. Nach und nach prägte der Nationalsozialismus das Leben des Ortes Kornwestheim immer stärker, ohne dass er aber, wie behauptet, tatsächlich das Leben in kurzer Zeit umgekrempelt hätte.

Machtübernahme und Machtübertragung


Damit war die Idee von der Revolution eher eine nachträgliche Deutung, wie die Reaktionen vor Ort deutlich zeigen. Die nationalsozialistische Propaganda stilisierte den 30. Januar 1933 und die Ernennung Hitlers zum Kanzler zur Machtergreifung. Der Kornwestheimer Zeitung war dieses Ereignis lediglich ein schwarzer Kasten als Meldung wert, in der nicht nur Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, sondern auch die Riege der Minister genannt wurde. Fackelzüge, mit denen in Berlin der neue Reichskanzler gefeiert wurde, blieben hier aus.

Die Bildung des Kabinetts der nationalen Konzentration wirkte auf viele wie eine Neuauflage der Harzburger Front aus NSDAP und DNVP, der man ebenso wenig Stabilität zutraute wie den zahlreichen Präsidialkabinetten zuvor.

Die Märzwahl 1933 brachte den Nationalsozialisten zum ersten Mal die meisten Stimmen unter allen Parteien, ohne dass die NSDAP aber die absolute Mehrheit erreichte. Auch in Kornwestheim gelang ihr ein solches Ergebnis. Mit 1944 Stimmen war sie als stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen. »Wenn man auch viel erwartet hatte, an das hatte wohl doch niemand gedacht.« Die SPD komme zwar, so der Redakteur der Kornwestheimer Zeitung, mit 1926 Stimmen »nicht weit hintendrein« und doch lege sich ihr Ergebnis »wie ein Alp auf viele Gemüter«. Was aus der Rückschau als wichtiger Durchbruch gelten kann, wurde zeitgenössisch in Kornwestheim wenig dramatisch wahrgenommen: »Aus Kornwestheim und Umgebung«, so betitelte der Autor am 6. März...

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