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E-Book

Meine tausend Leben

Die Autobiografie

AutorJean-Paul Belmondo
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641222031
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Als kleinkrimineller Draufgänger in Jean-Luc Godards »Außer Atem« wurde Jean-Paul Belmondo 1959 über Nacht zum Star. Frankreichs größte Regisseure rissen sich um den kernigen jungen Mann mit dem frechen Grinsen. Bébel, wie ihn die Franzosen liebevoll nennen, wurde zu einer Kultfigur des französischen Kinos. Nach nun fast 60 Jahren und beinahe 100 Filmen blickt Belmondo auf seine Karriere und sein Leben zurück: seine Kindheit im Krieg, die Zeit am Pariser Konservatorium, wo er die Schauspielerei lernte und lebenslange Freundschaften schloss, sein Aufstieg und Durchbruch im Filmgeschäft. Er erzählt von seinen Freundschaften und Fehden mit Wegbegleitern und von den Frauen, mit denen er spielte und die er liebte, darunter Laura Antonelli und Ursula Andress.

Belmondo über seine 1000 Leben - nachdenklich, selbstironisch und sehr persönlich.

Jean-Paul Belmondo wurde 1933 in Neuilly-sur-Seine geboren. Er lernte die Schauspielerei am renommierten Pariser Konservatorium und wurde zu einem der größten Stars des französischen Kinos. Er wirkte bis heute in beinahe 100 Filmen mit und wurde unter anderem mit dem César, dem Goldenen Löwen und der Goldenen Palme ausgezeichnet.

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Leseprobe

Madeleine oder der Wille

Mit roten Knien, leuchtend wie die Tomaten in der Gemüsekiste auf dem Gepäckträger, stieg Maman wieder aufs Rad. Sie war gerade erst hingefallen, zum fünften oder sechsten Mal, doch sie nahm ohne mit der Wimper zu zucken den Zweikampf mit dem Vehikel wieder auf. Es hätten schon die deutsche Wehrmacht, die Russen und die Japaner zusammen anrücken müssen, um sie davon abzubringen, das angesichts des Benzinmangels in diesen Kriegszeiten einzig verfügbare Fortbewegungsmittel zu bezwingen. Maman fürchtete sich vor nichts, auch nicht vor dem Krieg. Da würde sie sich natürlich erst recht nicht von einem Fahrrad unterkriegen lassen.

Meine Mutter glich einem Ritter der Tafelrunde, sie war eine prächtige Amazone. Groß, soweit ich das mit meinen sieben Jahren beurteilen konnte, so schön, dass sie einmal eine Statistenrolle in einem Film hatte, und lebhaft – sehr lebhaft. Meine Bewunderung für sie war grenzenlos, und ich konnte es meinem Vater nicht verübeln, dass er sie geheiratet hatte.

Ich stellte mir Papa gern zehn Jahre früher vor, in der École des Beaux-Arts; er warf einen sanften, schüchternen Blick auf Maman und ihren geschickten Federstrich und ließ sich von ihr in inbrünstig verliebter Stille zeichnen.

Madeleine heiratete Paul, Paul heiratete Madeleine, sie würden unzertrennlich sein. Und selbst Papas Einberufungsbefehl, der eines Morgens im September 1939 unter der Wohnungstür in der Rue Victor-Considérant nahe der Place Denfert-Rochereau durchgeschoben wurde, konnte die beiden nicht auseinanderbringen. Denn mit der ihr eigenen Beharrlichkeit und ihrem Tatendrang, ganz der Liebe zu meinem Vater ergeben, hatte Maman entschieden, ihm in den Norden zu folgen. Sie war ihm gefolgt, die mutige Seelenverwandte, von Garnison zu Garnison, von Stadt zu Stadt, vom Heimatgebiet bis zu Madame de Scudérys »Carte de Tendre«, der Landkarte der Liebe. Sie ging auch nach Boulogne-sur-Mer und Calais, wohin wir, mein Bruder Alain und ich, ihr zusammen mit meiner Großmutter und deren Lebensgefährten Charlie folgten.

Mein Großvater war nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt; sein Leichnam blieb verschollen. Später redete ich mir ein, dass er der berühmte unbekannte Soldat sei, der unter dem Arc de Triomphe ruht.

Mamie war eisern, man durfte nicht weinen. Charlie war Arzt, und – auch wenn meine Mutter ihn gehasst hat – einer, der Körper gesund machte. Das war besser als gar kein Mann.

Die Reise auf den gesperrten Straßen quer durch Frankreich war abenteuerlich, wir fuhren in einem noblen Hotchkiss, einem Auto aus der Belle Époque, das im richtigen Augenblick von einem Waffenhändler gebaut worden war, durchs Kriegsgebiet. Auf dem Dach hatten Mamie und ihr neuer Lebensgefährte Matratzen übereinandergestapelt, die als riesige kugelsichere Westen dienten. Sollte uns ein feindliches Flugzeug im Vorbeifliegen beschießen, blieben die Kugeln bestimmt im dicken Wollpuffer stecken. Das glaubten wir zumindest.

Mit dieser Bettschicht oben auf unserer Nobelkarosse wirkten wir nicht gerade gewöhnlich. Und auch nicht gerade unauffällig. Letztlich glaube ich, wir konnten uns glücklich schätzen, nicht die Aufmerksamkeit eines Piloten der Luftwaffe erregt oder ihn gar noch auf dumme Gedanken gebracht zu haben.

Das behelfsmäßig ausgerüstete Auto wurde vom Fahrrad meiner Mutter abgelöst. Knappheit herrschte nun in jedem Bereich, und Beine brauchten kein Benzin. Unserem Magen galt die größte Sorge. Um ihn ein bisschen zu füllen, mussten wir uns anstrengen und findig sein. Und meine Mutter, die nach einigen Wochen beschlossen hatte, uns in Sicherheit zu bringen, anstatt weiter ihrem Mann zu folgen, war enorm findig.

Wir ließen uns auf dem Land nieder, in der Nähe von Rambouillet, in einem gottverlassenen Haus mitten im Wald in der Umgebung von Clairefontaine, das Papa gehörte. Man muss schon sagen, dass sich die Vorteile des Landlebens bei kriegsbedingter Nahrungsmittelknappheit um ein Vielfaches erhöhen.

Zu den romantischen Aspekten des naturnahen Lebens gesellten sich die praktischen. Die in der Nähe verstreuten Bauernhöfe lieferten immerhin noch das Nötigste zum Überleben, das den Städtern fehlte: Fleisch, Gemüse, Milch, Butter und, je nach Jahreszeit, Obst.

Diese Kostbarkeiten musste man allerdings erst einmal holen und dafür mindestens zehn Kilometer zurücklegen. Zu Fuß hätte Maman insgesamt vier Stunden gebraucht. Sie hatte nicht lange überlegt, einfach die Reifen von Papas Drahtesel aufgepumpt und sich auf den Sattel geschwungen, obwohl sie keinerlei Übung darin hatte – sie hatte nur ihren Kindern beim Radfahren zugeschaut.

Sie startete einen Versuch, aber anfangs war es schwer. Ständig wurde sie aus dem Sattel geworfen, fiel zu Boden und schürfte sich die Haut an den Steinen auf. Die Wackeligkeit des Fahrrads im Leerlauf und ihr fehlendes Gleichgewicht machten ihr zu schaffen. Häufig stürzte sie, doch immer wieder huschte auch ein Lächeln über ihr Gesicht, trotz der vielen Schrammen und Schürfwunden an den Knien. Sie verschnaufte nicht, klagte nicht und ließ sich nicht unterkriegen.

Dank ihrer Beharrlichkeit konnten wir uns satt essen. Und nebenbei saugten wir ihre Hartnäckigkeit und ihren Abenteuergeist in uns auf. Wie das erste Gebot zum freien Leben: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.

Einige Jahre später, als ich den Mut verlor, weil ich meinen ersten Versuch, Schauspieler zu werden, vermasselt hatte, erinnerte sie mich daran: »Es geht um den Willen, mein Sohn. Wenn du etwas wirklich willst, wirst du es schaffen.« Und Mut brauchte man auch.

Mut brauchte man, um allein mit zwei kleinen Kindern in einem riesigen Haus mitten im Wald zu leben, während die deutsche Wehrmacht das Land besetzt hielt und in Rambouillet stationiert war. Noch mehr Mut brauchte es, um eine jüdische Familie im Keller zu verstecken, die meine Mutter heimlich mit Essen versorgte.

Damit hatte sie sich später nie gebrüstet. Auch nicht, als nach dem Krieg einige fiese Miesmacher meinem Vater einen Prozess machten; sie warfen ihm vor, mit anderen Künstlern nach Deutschland gereist zu sein. Da musste erst General de Gaulle kommen und ihm den Orden der Ehrenlegion verleihen, um diese scheinheiligen Aasgeier zum Schweigen zu bringen. Ich hatte meine Mutter nie schlecht über sie reden hören. Auch darin war sie uns ein Vorbild: Lieber eine aufrichtige Erklärung als versteckte Kritik.

Nach einigen Tagen fiel Maman seltener hin. Dennoch hatte sie sich nie zu einer leidenschaftlichen Radfahrerin entwickelt. Und als das Wetter in Clairefontaine wieder besser wurde, überließ sie uns die Hamsterfahrten. Pfeifend machten wir uns auf den Weg zu den Bauernhöfen, fuhren um die Wette, schwitzten und keuchten.

Auf dem Hinweg traten wir fest in die Pedale, jeder wollte Erster sein. Doch der Rückweg dauerte immer länger. Das Wetter war schön, die Vögel zwitscherten, das Getreide rauschte im Wind. Wir beide waren allein im Wald; es gab immer etwas, womit man sich ablenken und vor allem etwas, das man essen konnte. Die Früchte hinten auf dem Rad dufteten verlockend; ich war ein Leckermaul und musste mich arg zusammenreißen, damit ich mich nicht daran vergriff. Doch meist nahm ich mir von dem Obst, erst einen Apfel, dann zwei, drei, vier oder mehr. Dabei war der nächste stets der letzte, den ich mir erlauben wollte.

Erst als ich wieder zu Hause war und auf meinen Gepäckträger schaute, wurde mir das Ausmaß meiner Plünderung bewusst. Ich machte mich auf ein Donnerwetter gefasst. Im Gegensatz zu Papa ärgerte Maman sich über meine Dummheiten und schimpfte mit mir, bestrafte mich aber nie. Pech für die Regisseure, die meinen Eltern später vorwerfen sollten, dass sie mir zu viel haben durchgehen lassen.

Der Erste Weltkrieg, in den mein Vater mit siebzehn Jahren freiwillig gezogen war, hatte eine Schneise wie einen Schützengraben in sein Leben geschlagen; diese Kluft war der Nährboden für seinen Vorsatz, auch mit Kleinigkeiten glücklich zu sein. Er hatte drei Jahre seiner Jugend mit einem Gewehr über der Schulter zugebracht und noch ein paar Monate mehr, weil er mit zwanzig das richtige Alter hatte, die Uniform so lange zu tragen, bis der Frieden wieder ganz hergestellt und die letzte Gefahr gebannt war. Im Vergleich zum Grauen, das er gesehen hatte, wirkten meine Dummheiten auf ihn natürlich recht harmlos. Er fand sie fast lustig. Ja, er fand sie wirklich lustig. Meine Eltern hatten ein großes Talent zum Glücklichsein, das sie mir nur allzu breitwillig vererbt haben.

Jahre später, als Schauspielschüler, wohnte ich noch im Haus meiner Eltern. Ich erinnere mich daran, wie häufig Papa nachsichtig lächelte, wenn er sah, wie viel Chaos meine Kameraden und ich angerichtet hatten. Gern gewährte ich ab und zu befreundeten Schauspielern Unterschlupf, wie beispielsweise Henri Poirier, der in einem winzigen, baufälligen Dienstmädchenzimmer hauste, sozusagen unter freiem Himmel: Es regnete durchs Dach, weshalb der Ärmste zwischen Eimern und Töpfen lebte. Weil Henri bei weitem nicht der einzige junge Künstler war, der mit dem Bohème-Leben und »Schuhsohlen aus Wind« herumexperimentierte, profitierten so manche von uns von der Gastfreundschaft meiner Eltern. Jean Rochefort, der durchaus ein Dach über dem Kopf hatte, wohnte auch häufig bei uns. Françoise Fabian...

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