2 Die technischen Grundlagen
2.1 Agile Optimierung als Königsklasse der Digitalisierung
„Nur ein schlechter Plan erlaubt keine Änderung“, soll der römische Autor Publilius Syrus bereits im ersten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gesagt haben. Nur zu häufig drehen sich die gegenwärtigen Debatten unter Managern um die großen Disruptionen unserer Zeit: Welche grundlegenden Umstellungen sind nötig? Was bedeutet Industrie 4.0 für mein Unternehmen? Brechen neue Geschäftsmodelle über meine Branche herein? Wie wird die Digitalisierung unsere Märkte und Gesellschaften beeinflussen?
Nahezu jedes Unternehmen kennt jedoch neben den großen, weltumspannenden Trends auch viele kleine, völlig alltägliche Störungen im Betriebsablauf. Diese bleiben bei all den Sorgen, wie sich die digitale Transformation erfolgreich realisieren lässt, zu häufig unbeachtet. Wie also passt der Jahrtausende alte Satz des Publilius Syrus in unsere heutige Welt? Eine Welt der allgegenwärtigen Veränderung, in der gleichzeitig konstantes Wachstum, Effizienz und Umsatzsteigerung zu den höchsten Zielen einer unternehmerischen Organisation gehören.
In der Praxis zeigt sich, dass nicht nur die großen, sondern auch die Summe vieler kleiner Störungen einem Unternehmen wirklich schaden. Solch unvorhersehbare Ereignisse im Betriebsalltag lassen sich kaum isoliert betrachten. Auch eine auf den ersten Blick insignifikante Störung zieht oft negative Konsequenzen für das gesamte Unternehmen nach sich.
Als Folge leiden die Termintreue - dieser Tage wichtiger denn je - und letztendlich die Beziehung zum Kunden. Somit kommen durch eine auf den ersten Blick unscheinbare Störung sehr kostenintensive Probleme ins Rollen. Das Risiko für diesen „Lawineneffekt“ verstärkt sich, je globaler ein Unternehmen tätig ist: Denn internationale Lieferketten gehen mit einer zunehmend vernetzten Arbeitsteilung und terminlichen Abhängigkeiten einher, die Planungsänderungen kaum verzeihen. Gleichzeitig steigen die Kundenanforderungen hinsichtlich individualisierter Produkte und ständiger Verfügbarkeit. Addiert man zu diesen Entwicklungen volatile Märkte sowie die allgegenwärtige Beschleunigung der Geschäftswelt, ergibt sich eine flächendeckende Komplexität bei gleichzeitig hohem Zeitdruck. Dieses Szenario legt eine Verbindung menschlicher mit computergestützter Entscheidungsintelligenz nahe, wenn es um komplexe operative Managemententscheidungen geht. Nur so lässt sich in kürzester Zeit die enorme Vielzahl an Handlungsoptionen, die sich in hochvernetzten Betriebsumgebungen bieten, in angemessener Weise berücksichtigen.
Verläuft ein Prozess nicht nach Plan, muss schnell ein Alternativplan bereitstehen. Mit traditionellen Managementmethoden ist dies nicht mehr zu bewältigen.
Wichtig
Agile Optimierung zielt darauf ab, dass Mensch und Maschine gemeinsam konkrete Entscheidungen modellieren, simulieren und schließlich umsetzen.
Diese Strategie versetzt Entscheider in die Lage, als „Manager des Unerwarteten“ unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren und Kausalitäten das bestmögliche Gesamtergebnis zu erzielen.
„He that will not apply new remedies must accept new evils: for time is the greatest innovator.“
Francis Bacon, Englischer Philosoph
2.2 Operative Komplexität bedingt Optimierung
Was „bestmöglich“ bedeutet, hängt von der Strategie eines Unternehmens, den Parametern eines Prozesses und den Gegebenheiten eines Marktes ab. In einer auftragsorientierten Produktion im Maschinen- und Anlagenbau beispielsweise enthält ein typischer Produktionsplan oft Hunderte von Aufträgen, mit zehn- oder sogar hunderttausenden einzeln geplanten Arbeitsvorgängen. Für die Ausführung dieser Arbeitsvorgänge steht aber nur eine begrenzte Anzahl an Ressourcen, wie etwa Maschinen, Mitarbeiter oder Bauteilen zur Verfügung. Eine intelligente Verteilung der Arbeitsvorgänge auf die begrenzt verfügbaren Kapazitäten ist also gefragt, sofern das betreffende Unternehmen effizient und termingerecht wirtschaften möchte. Leider gibt es zahlreiche Beispiele für unerwartete Umstände, die den Plan in Frage stellen. Dazu zählen zum Beispiel ein Lieferverzug wichtiger Teile, qualitativ ungeeignetes Material, Maschinenstörungen, Werkzeugbruch, unvorhersehbare Personalengpässe, aber auch kurzfristig geänderte Kundenanforderungen oder eilige „Chefaufträge“. All diese Umstände führen dazu, dass bestimmte Arbeitsvorgänge in der Fertigung zeitlich verschoben werden müssen. Dies hat nicht nur für den einzelnen Arbeitsvorgang Konsequenzen, sondern löst eine komplexe Kette von notwendigen Verschiebungen im Auftragsnetz aus.
Gleichzeitig werden jedoch auch Kapazitäten frei, die nach Maßgabe des ursprünglichen Plans nicht verfügbar gewesen wären. Das eröffnet die Chance, durch geschickte Umplanung die negativen Konsequenzen einer unvorhersehbaren Situationsänderung zumindest teilweise zu kompensieren. Also statt unverhofft frei werdende Kapazitäten per Improvisation einfach auf die nachfolgenden Arbeitsgänge zu verteilen, sie gezielt solchen Arbeitsgängen zuzuordnen, deren Abarbeitung den größten Effekt auf die globale Termintreue hat. Leider gibt es aufgrund wechselseitiger Abhängigkeiten von Ressourcen und Auftragsnetzen eine enorme Anzahl möglicher Reihenfolgen zur Anordnung der offenen Arbeitsvorgänge. Im Gegensatz zur Strategie der Improvisation bedient sich die Strategie der Agilen Optimierung hier der Entscheidungsintelligenz computergestützter Optimierungsalgorithmen, um alternative Planungsvorschläge zu berechnen. Anhand zuvor festgelegter Kennzahlen kann der Entscheider die Auswirkungen dieser vom Computer erzeugten Planungsalternativen beurteilen. Er kann sie letztlich umsetzen oder ablehnen und den Algorithmus mit geänderten Vorgaben, wie etwa anderen Auftragsprioritäten, erneut starten.
Ein weiteres Beispiel mag dies verdeutlichen: In Unternehmen dient der werksinterne Transport als Bindeglied zwischen den Lagern und der Produktion. Da Stellflächen häufig begrenzt sind, muss das Material oft genau zum richtigen Zeitpunkt vor Ort sein. Eine optimale Transportreihenfolge mit Blick auf Termine, Prioritäten und die Entfernung zwischen Orten sowie die aktuelle Verfügbarkeit von Lkws, Gabelstaplern und anderen Fahrzeugen ist hierfür von essenzieller Bedeutung. Eine Optimierung dieser Reihenfolge erfolgt idealerweise immer wieder neu, weil permanent neue Aufträge hinzukommen, andere erledigt werden und die Fahrzeugflotte ständig in Bewegung ist. Für lediglich zehn Transportaufträge gibt es allerdings bereits 10! = 10 * 9 * 8 ... * 2 * 1 = 3.628.600 mögliche Transportfolgen. Sind mehr als zehn Aufträge zu koordinieren, steigt die Anzahl der möglichen Reihenfolgen dementsprechend drastisch an. In Unternehmen, die täglich tausende werksinterne Transporte durchführen, lässt sich die Zahl der alternativen Reihenfolgen gar nicht mehr fassen. Diese sogenannte „kombinatorische Explosion“ bewirkt die eigentliche Schwierigkeit einer optimierten Planung. Hier die effizienteste Transportfolge zu finden - mit höchster Termintreue und möglichst wenigen Leerfahrten -, ist schon im Normalbetrieb fast unmöglich. Umso schwieriger wird es, bei einer Störung wirklich alle Handlungsmöglichkeiten zügig zu bewerten und die neue optimale Reihenfolge zu finden.
Wertschöpfungsketten brauchen deutlich mehr Agilität, also die Fähigkeit, sich schnell und flexibel an Unsicherheiten und Veränderungen anpassen zu können. Die Lösung liegt in abteilungsübergreifender, optimierter Planung, gestützt auf Algorithmen mit künstlicher Entscheidungsintelligenz, um die wachsende Anzahl einzelner Aufgaben blitzschnell koordinieren zu können. Die menschliche Expertise greift dann dort ein, wo der Algorithmus ein Problem prognostiziert.
2.3 Von Daten zu Entscheidungsmodellen
Wenig überraschend: Daten sind die Grundlage für jede Optimierung. Computersysteme zur Agilen Optimierung müssen deshalb in die bestehende IT-Landschaft integriert werden. Sie sind der anspruchsvollste Bestandteil jeder unternehmensweiten IT-Strategie, gleichzeitig aber auch derjenige, der den höchsten Wertbeitrag für das Unternehmen leisten kann. Dass die bloße Integration und Analyse von Daten noch nicht ausreicht, um den beschriebenen Herausforderungen der gegenwärtigen Wirtschaft zu begegnen, macht das bereits 2012 von der Marktforschungsgruppe Gartner formulierte „Analytics Value Difficulty Model“ (siehe Abbildung unten) deutlich. Es veranschaulicht die vier Stufen von IT-Systemen.
Die vier Stufen von IT-Systemen
Beschreibende und diagnostizierende Systeme beantworten die Fragen, was und warum etwas passiert ist. Dazu zählen die meisten traditionellen IT-Systeme (zum Beispiel ERP-Systeme); sie verwalten, verteilen und integrieren Daten. Systeme für Big Data und Business Intelligence (Diagnostic Analytics) analysieren diese Daten und schaffen dadurch neue Erkenntnisse. Sie transformieren die Datenfülle in Wissen. Gleiches gilt für Prognosesysteme (Predictive Analytics), die Vergangenheitsinformationen in die Zukunft projizieren. Leider liegt die Herausforderung im tagtäglichen Management nicht in mangelndem Wissen, sondern in der Frage, was in zeitkritischen Entscheidungssituationen ganz konkret zu tun ist, insbesondere auch beim Eintritt ungeplanter Ereignisse. IT-Systeme zur Agilen Optimierung gehen deshalb noch einen Schritt weiter: Sie transformieren die verfügbaren Daten und das Wissen der Disponenten...