Editorial
Er hat einen breiten, hohen Rücken, der Kopf geht nach unten, der Rüssel zeigt nach oben. Der Elefant, der da über die Erdkugel spaziert, bildet die Entwicklung der Einkommen in den letzten 30 Jahren ab; in einer Grafik, die als „Elefantenkurve“ bekannt geworden ist. Beim Schwanz hinten, ganz unten wird der arme, abgehängte Teil der Weltbevölkerung sichtbar. Dort, wo sich des Elefanten Rücken befindet, ist der Anstieg der Einkommen der städtischen Mittelschichten in China und Indien abgebildet. Dort, wo der Mund nach unten geht und der Rüssel seinen Anfang nimmt, kann man die unteren Mittelschichten Europas und der USA erkennen, im aufgerichteten Rüssel sehen wir die Zunahme des Reichtums der Reichsten. Der Elefant des Ökonomen Branko Milanovic zeigt uns vier Entwicklungen: Es gibt Regionen dieser Erde, die weiterhin bitter arm sind. Es gibt eine Verbesserung der Einkommen in den städtischen Milieus Asiens, besonders in China. Es gibt einen Verlust bei den unteren Mittelschichten in Europa und den USA. Und es gibt immer mehr Reichtum ganz oben. Die Elefantenkurve beim Rüssel zeigt uns noch ein interessantes Detail: Der Rückgang der Mittelschicht im Westen ist dort am stärksten, wo der Sozialstaat geschwächt und abgebaut wurde. Ersichtlich etwa in den USA, Großbritannien oder Spanien.
Bei einem genaueren Blick auf die Mitte werden unterschiedliche Teile dieser – oft fälschlicherweise als einheitlich dargestellten – Schicht sichtbar. DIE Mitte gibt es nicht, wie aktuelle Daten der Österreichischen Nationalbank, veröffentlicht u.a. im Österreichischen Sozialbericht von 2016, zeigen. Bezieht man neben Einkommen auch Konsum und Vermögen in die Analyse ein, dann zerfällt die Mitte in einen Teil mit Vermögen und in einen ohne. Etwa die Hälfte der Mitte ist in Besitz einer Wohnung oder eines Hauses. Die untere Hälfte hat jedoch kaum nennenswerten Besitz. Wobei „Unten“ und „Mitte“ einander näher sind als „Mitte“ und „Oben“. Die untere Mittelschicht lebt nämlich solange in relativem Wohlstand mit Mietwohnung, Auto, Urlaub, Hobbies und Zukunftschancen für die Kinder, solange Systeme des sozialen Ausgleichs existieren. Ihre Lebensqualität wird durch den Sozialstaat möglich gemacht. Pensionsversicherung, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, geförderte Mietwohnungen und öffentliche Schulen sichern den Lebensstandard und verhindern gerade in unsicheren Zeiten ein Abrutschen nach unten. Die untere Mitte hat kein Vermögen um Einschnitte im Leben wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit einfach aufzufangen. Wäre sie gezwungen Vermögen für Alter, Bildung, Krankheit oder Arbeitslosigkeit anzusparen, wäre ihr Lebensstandard und ihr Konsumniveau vernichtet. Die Mitte ist dort weniger gefährdet, wo es ein starkes Netz sozialer Sicherheit gibt.
Der Elefant, der da über die Erdkugel spaziert, bildet, global betrachtet, die Gewinner und Verlierer in den letzten 30 Jahren ab. Sein drohend gesenkter Kopf und sein erhobener Rüssel sagen uns aber auch, wo die großen Herausforderungen liegen.
Mehrdimensionales Phänomen
Die Frage, was Reichtum ist, ist so alt und umkämpft wie die Bewertung von Armut. Handelt es sich dabei ja um die Auseinandersetzung darüber, was wir in Fülle haben wollen und was uns als Mangel erscheint. In diesem Sinne sind die Begriffe arm und reich beinahe unbegrenzt anwendbar. Jemand kann arm an Gefühlen, aber reich an Geist sein, ein anderer mag arm an intellektuellen Begabungen sein, aber dennoch reich in Bezug auf die Zuneigung, die er empfängt. Von innerem Reichtum lässt sich ebenso sprechen wie von einer reichen Gesellschaft, deren moralischer Zustand dennoch einem Armutszeugnis gleicht. Reichtum ist nicht bloß ein materielles, sondern ein mehrdimensionales Phänomen. Neben der materiellen Seite spielt auch die nicht-monetäre Seite des privaten Reichtums eine erhebliche Rolle. Bereits die Verwendung des Adjektivs „reich“ zeigt dies, insofern es um ein „reiches Leben“ oder die „Bereicherung der Lebensführung“ geht.
Eine Reichtumsdefinition analog der Armutsdefinition (60% des Medianeinkommens) ist jedenfalls verfehlt. Nicht nur, weil eine Reichtumsschwelle, die symmetrisch zur Armutsbestimmung festgelegt wird, recht niedrig ausfallen muss und Reichtum so zu einem Massenphänomen werden würde, sondern weil Reichtum dann fälschlich am Einkommen und nicht am Vermögen bestimmt würde.
Materieller Reichtum ist ein Komposit. Er setzt sich aus Geld, Immobilien, Fahrnissen (Kunst, Schmuck, Automobile, Flugzeuge, Yachten etc.), Unternehmensanteilen (Aktien) und Unternehmenseigentum zusammen. Weil Geld kommodifiziert ist, also als Ware erzeugt und gehandelt wird, wird Reichtum im finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregime vor allem in Geld-Einheiten abgebildet. Reichtum ist aber mehr als ein bloßer Batzen Geld. In der Tat ist der Lotteriegewinner, der seinen Geldgewinn im Regelfall innerhalb weniger Monate/Jahre wieder (ver)konsumiert hat, ein höchst untypischer Reicher. Er hat bloß plötzlich viel Bargeld, das rasch wieder verloren gehen kann. Wirklicher, d.h.: nachhaltig verfügbarer, Reichtum aber umfasst verschiedene, relativ stabil prozessierende Vermögensformen. Reiche verfügen nämlich über Immobilien bzw. Häuser und Wohnungen als Wertanlage, Autos bzw. Auto-Sammlungen, Unternehmen, Unternehmensanteile bzw. Aktien, Edelmetall-Reserven usw. Reichtum verweist folglich auf ein diversifiziertes, abgesichertes bzw. „gehedgtes“ Vermögen. Wer reich ist, hat sein Vermögen verteilt, mehrfach abgesichert und verfügt damit über entscheidend mehr als bloß ein gutes Einkommen. In der Tat unterscheidet sich der Vermögensreichtum vom Einkommensreichtum durch seine größere Dauerhaftigkeit und seine Streuung.
Statistische Schwellenwerte hinsichtlich Einkommens- und Vermögensressourcen sind also nicht hinreichend, um sowohl das Aggregat privaten Reichtums als auch die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen zu beschreiben. Den nichtmonetären Komponenten des Reichtums (soziales und kulturelles Kapital, Habitus, usw.) muss in ihrer Verflechtung mit monetären Ressourcen (Einkommen, Vermögen) folgerichtig besonderes Augenmerk geschenkt werden.
Reichtum setzt sich ins Verhältnis
Reichtum ist gesellschaftlich betrachtet immer relativ. Denn Reichtum spiegelt und begründet ein Verteilungsmaß. Absoluter Reichtum kann nicht in einer Zahl abgebildet werden. Freilich, auch unter den Ultra-High-Net-Worth-Individuals, also den Superreichen mit einem Nettovermögen von mehr als 30 Mio US-$ herrscht Statuswettbewerb. Der Wettbewerb um immer gigantischere Luxusgüter ist nervenraubend: hier ein Airbus 380 samt Swimming Pool und Parkplatz für den Royce (Prinz Walid bin Talal), dort ein 143 Meter langes und 25 Meter breites Segelboot mit 90 Meter hohen Masten für 400 Mio Euro (Andrej Melnitschenko), da der Mukesh Ambani „Antilia“-Einfamilien-Skyscraper mit 27 Stockwerken und 37.000 qm Wohnnutzfläche. Viele WissenschaftlerInnen, von Thorstein Veblen bis Sighard Neckel, kommen zu dem Befund, dass Reichtum zu Geltungs- und Repräsentationskonsum zwingt. Reiche sind damit nicht bloß Ausbeuter, Erben, Spekulanten etc, sondern auch Charaktermasken, die eine Funktion und Rolle erfüllen, oder vermeinen diese erfüllen zu müssen.
Gegengleich führt absolute Armut zum Tod. Beim Reichtum ist der Tod in anderer Hinsicht wichtig. Was am Ende von „Einem“ bleiben soll, wird bei den Reichen einerseits zur Frage der Vermögensweitergabe. Andererseits sind die Reichen seit jeher von der Phantasie ewigen Lebens getrieben. Ohnehin leben die Reichen gesünder, zufriedener, erlebnisreicher und deutlich länger als der Rest.
Privater Reichtum steht in einem verwickelten Verhältnis zum öffentlichen Reichtum. So lässt sich ein Entsprechungsverhältnis zwischen individueller Reichtumsakkumulation und der Entwicklung öffentlicher Schulden nachzeichnen. Jene Steuern auf Vermögen, welche der Fiskus nicht einhebt, erscheinen zeitverzögert als Zuwachs privaten Reichtums. Während das Verwertungsinteresse der Reichen etwa am Immobilienmarkt dazu führt, dass die Preise steigen, verschulden sich Nicht-Reiche, um an Wohnungseigentum zu gelangen oder höhere Mieten bezahlen zu können, um die Rendite-Interessen der ImmobilieninvestorInnen zu befriedigen.
Arm und Reich
Armut und Reichtum lassen sich stets nur gemeinsam diskutieren. Zugleich können beide als relative Konzepte verstanden werden. So orientiert sich das Konzept relativer Armut an gesellschaftlichen Mindeststandards, die über die Aufrechterhaltung der physischen Existenz hinausgehen. Das Konzept relativer Einkommensarmut beruht auf der Annahme, dass die Höhe des Einkommens als zentraler Indikator für den Lebensstandard gelten kann. Viele Untersuchungen zeigen einen Zusammenhang zwischen monetärer Einkommensarmut und anderen Lagen der Unterversorgung.
Vermögen hat eine stärkere Aussagekraft hinsichtlich des Reichtums als Einkommen, da die Konzentration der Vermögen stärker ist als jene der Einkommen. Aber ob Vermögen auch eine stärkere Aussagekraft hinsichtlich Armut hat, ist zu bezweifeln. Die Feststellung, wann von Vermögensarmut zu sprechen ist,...