Prolog
»Nun, dort, wo ich herkomme«, sagte Alice noch immer etwas außer Atem, »kommt man in der Regel woandershin, wenn man so schnell und so lange läuft wie wir gerade.«
»Ein behäbiger Ort!«, sagte die Königin. »Hier bei uns muss man so schnell rennen, wie man kann, wenn man am gleichen Fleck bleiben möchte. Und wenn man woandershin gelangen will, muss man mindestens doppelt so schnell laufen!«
Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln
In der Abflughalle des internationalen Flughafen Asmara wartete ich während der Regensaison 2013 auf den Flug, der mich aus Asmara, Eritrea, hinausbringen sollte, als eine ältere Frau sich zu mir setzte und mich in ein Gespräch verwickelte. Vermutlich hatte sie mich ausgewählt, weil ich der einzige Nicht-Eritreer in Sichtweite war. Da sie wiederum die erste andere Reisende war, der ich in Eritrea begegnete, war ich neugierig auf ihre Eindrücke von dieser Diktatur, in der es nur unter Anstrengungen möglich ist, die nötigen Genehmigungen zu bekommen, um sich ein bisschen was vom Land ansehen zu können.
»Haben Sie sich den magischen Fruchtbarkeitsbaum angesehen?«, fragte ich.
»Nein.«
»Waren Sie am Roten Meer?«
»Nein.«
»Was ist mit dem letzten Waldgebiet am Horn von Afrika?«
»Nein. Nein, ich habe nichts davon gesehen – ich habe mich nicht weit von meinem Hotel entfernt.«
Wie sich herausstellte, war sie eine dieser Ländersammlerinnen, die es in ihrem Leben bisher auf insgesamt 170 Länder gebracht hatte. Ich hätte es mir bei einem Blick auf ihre Reiselektüre denken können: eine Liste der IATA-Codes für die großen Flughäfen der Welt. Sie war stolz darauf, dass sie die am meisten frequentierten auswendig aufzählen konnte, von ABC (Albacete, Spanien) bis ZRH (Zürich, Schweiz). Nichts gegen einen Kurzurlaub, manchmal ist das die beste Option und manch einer ist eben offener für neue Erfahrungen als andere, aber anders als meine neue Bekanntschaft kann ich mich für den bloßen Transport von hier nach dort nicht sonderlich erwärmen. Flugzeuge können mithin Teil des Abenteuers sein, auch Boote oder Busse, das kommt auf die Umstände an, aber meistens ist der Transport für mich schlicht zweckdienlicher Natur. Der echte Gewinn ist es, die Erde und ihre verblüffende Vielzahl an Menschen und Umgebungen zu erkunden.
Als sie hörte, dass ich in beinahe allen Ländern der Erde gewesen bin und dass es nur eine Frage von wenigen Monaten war, bis ich auch die übrigen bereist hätte, vermutete sie in mir eine verwandte Seele und lächelte. Also sagte ich: »Wenigstens hatten Sie Gelegenheit, die interessante eritreische Küche kennenzulernen.«
»Das musste ich zum Glück nicht«, sagte sie. »Ich bin über Minsk geflogen, um Weißrussland von meiner Liste zu streichen. Dabei habe ich das ganze zusätzliche Essen behalten, das im Flugzeug serviert wurde. Ich habe es in Plastiktüten mitgenommen, um es hier in Eritrea wieder aufzuwärmen.« Ich muss sie daraufhin etwas schief von der Seite angesehen haben, denn sie fügte hinzu: »Die Plastiktüten waren sauber.«
»Probieren Sie denn nie das Essen vor Ort?«, fragte ich.
»Hmm, einmal hat mir in Nordafrika ein Beduine Tee angeboten. Als ich ablehnte, murmelte er einen Fluch: ›Tod denen, die den Tee ablehnen, den man ihnen anbietet.‹ Also trank ich den Tee, auch wenn das Glas ziemlich schmutzig war. Und hier verlangt die Polizei, dass man eine Genehmigung hat, wenn man außerhalb der Stadt reisen will, also lief ich gar nicht erst Gefahr, in solche Situationen zu geraten, konnte aber trotzdem Eritrea von der Liste streichen.«
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In Jaipur, einer Stadt in Indiens staubigem Bundesstaat Rajasthan, steht ein beeindruckendes Gebäude aus gemeißeltem rosa Sandstein. Es ist ein Bauwerk ohne Tiefe, kaum mehr als eine aufsteigende Fassade abgeschirmter Balkone, die als Ausguck dienten. Der Maharadscha Singh hatte es erbauen lassen, damit die Frauen aus den höheren Kasten sich das Marktgetümmel ansehen konnten, ohne sich in Gefahr zu begeben oder Schmutz und unangenehmen Gerüchen ausgesetzt zu sein – um das Leben der anderen beobachten zu können, ohne daran teilzuhaben oder selbst davon besudelt zu werden.
»Der Palast der Winde«, wie diese großartige Fassade genannt wird, hat seine modernen und riesigen Entsprechungen in Konferenzzentren und Weltklassehotels, in feinen Restaurants und sonstigen touristischen Erschließungen einer »kleinen Welt«, die die Globalisierung propagiert und die von Ländersammlern regelrecht fetischisiert wird. Taxis, Limousinen und Hochgeschwindigkeitszüge bringen VIPs zu den Flughäfen mit ihren Business-Lounges, Sicherheitschecks und Luxus-Shops im Duty-Free-Bereich – sodass sich die oberen Kasten unserer Zeit genauso geborgen fühlen können wie eine Prinzessin aus Jaipur in den Korridoren eines standardisierten Kulturpalastes. Es braucht nur ein paar Flugzeugwechsel und vielleicht noch eine Hotelbuchung via Internet und man kann von überall nach irgendwo reisen, absolut bequem und sicher. Früher noch exotische und wundersam abgelegene Orte gehören heute längst zum Programm von Pauschalreisen. Lhasa, Tibet, einst einer der am schwierigsten zu erreichenden Orte auf diesem Planeten, kann man mittlerweile im Rahmen einer Rundreise besuchen: »Acht heilige Städte in acht Tagen.« Machu Picchu, den letzten Zufluchtsort der Inka hoch oben in den Anden, kann man mit dem Zug und einem klimatisierten Bus erreichen.
Das ist der neuzeitliche, globalisierte Palast der Winde, und hier wird man unweigerlich den Typen wiedertreffen, dem man am Strand der Kaimaninseln begegnet ist – oder diese Regisseurin aus Frankfurt. Für die Geschäftsreisenden mit Platin-Kreditkarte, für die Delegierten, die Pauschaltouristen und Entwicklungshelfer, die Unmengen ihrer Zeit an Flughäfen und in Hotellobbys verbringen, ist es wahrhaftig »eine kleine Welt«.
An diesem globalisierten Kulturpalast gibt es nichts auszusetzen, aber was ist mit den »Fly-over-Staaten« und anderen selten besuchten Orten der Welt – was gibt es dort? Flache Wüsten, so weit das Auge reicht? Urwälder, in denen sich Affen und wilde Männer tummeln? Städte, die aus endlosen Slums und Vororten bestehen? In Wirklichkeit lebt der Großteil der Weltbevölkerung in diesen Gegenden, und es ist gar nicht so übel dort. Wagen Sie sich einfach mal aus dem Palast der Winde hinaus und reisen Sie mit dem Rucksack durch die Staaten, Landschaften und Ökosysteme unseres Planeten. Viele seltsame und wunderbare Sachen werden Ihren Horizont erweitern und Ihre Sinne bezaubern.
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Kulturanthropologen liegen bekanntermaßen ständig im Clinch miteinander, demonstrieren aber Einigkeit, wenn es darum geht, verallgemeinernden Aussagen über die Menschheit zu widersprechen – abgesehen vielleicht von der Behauptung, dass die Kulturen, die sich am meisten dem Ideal des Fortschritts verschrieben haben, häufig W.E.I.R.D. sind: westlich erzogen, industriell, reich, demokratisch. Das gilt sicherlich für mein Geburtsland Kanada, das mich mit einem machtvollen Reisepass ausgestattet hat, der mir die visafreie Einreise in mehr als 140 Länder gewährt; ein Grund mehr, die Rhetorik den Akademikern zu überlassen und sich die Welt auf eigene Faust anzusehen. Genau das habe ich getan. Ich bin jetzt achtundvierzig Jahre alt, fast mein ganzes Erwachsenenleben lang habe ich aus dem Rucksack gelebt. Unser Planet steckt voller Überraschungen, und deshalb ist mein Entdeckerdrang, der mich so weit hat reisen lassen, noch immer derselbe wie damals. Ländergrenzen erstrecken sich kreuz und quer über die Kontinente, und wenn man eine Zeit lang auf der einen Seite unterwegs gewesen ist, scheint einem das Gras auf der anderen Seite des Grenzzauns grüner. Neue Länder werden einem vertraut, eines nach dem anderen.
Vor vier Jahren feierten Reporter aus allen Bereichen, Print und TV, Radio und Video, meinen Verdienst, in jedem Land der Welt gewesen zu sein – eine seltsame Begleiterscheinung meiner vielen Reisen. Eben diese donquichottische Leistung ist das Ziel der heldenhaften Passagiere, die hauptsächlich Stempel in ihrem Pass sammeln wollen. Doch Reisende und Passagiere kann man leicht voneinander unterscheiden: Reisende haben Geschichten zu erzählen. In den vergangenen vier Jahren habe ich meine Reisen in zehn Ländern auf drei Kontinenten fortgesetzt, habe nachgedacht und geschrieben, darum bemüht, folgende Frage zu beantworten: Wenn es nicht um die Stempel im Pass geht und du ganz sicher nicht der Erste oder der Schnellste bist, was ist dann der Sinn des Reisens? Ist es einfach nur eine nette Art, alt zu werden? Denn Reisende haben keine materiellen Werte, die sie als Lohn für die investierte Zeit vorweisen könnten. Da geht es ihnen nicht anders als den Passagieren. Manch einer hat vielleicht schon den nächsten Rekord im Sinn und würde sagen, es geht darum, wer am meisten gereist ist. Dieses Buch soll meine Antwort auf die Frage darlegen: Ich reise um der Geschichten willen, die mir unendlich viel bedeuten.
Die meisten Menschen wollen am Ende ihres Lebens nicht bereuen, dass sie nie rausgegangen sind, um sich die Welt anzuschauen. Ich führe zum Glück keine Liste über Dinge, die ich irgendwann mal bereuen könnte, aber diese Sorge, so viel kann ich sagen, fände sich sicherlich nicht darauf. Viele Reporter und andere Reisende betrachten mich als den meistgereisten Mann der Welt, nicht nur im Hinblick auf die Kilometer, die ich zurückgelegt habe. Für sie bin ich der Schutzheilige der Backpacker oder irgendein ähnlicher Würdenträger. Ist das gerechtfertigt? Ich glaube, das hängt sehr davon ab, was...