1 Aufklärung 2.0
Gott, der Markt, die Gehirnforschung und Denken in der Krise
Mit dem Begriff „Aufklärung“ wird ganz allgemein das Bestreben benannt, selbst zu denken anstatt es anderen zu überlassen. Der Prozess läuft zunächst einmal im Denken jedes einzelnen Menschen ab. Ebenso wie Freiheit zunächst den Einzelnen betrifft, man aber auch von einer freien Gesellschaft spricht, kann auch die Aufklärung eine ganze Gesellschaft betreffen, die dann als deren Subjekt zu verstehen ist. So spricht man vom Zeitalter der Aufklärung und meint damit Mitteleuropa um 1800 herum.
Alle Autoritäten, bis hin zur höchsten, wurden in Frage gestellt. Gott lässt sich nicht beweisen (aber auch nicht widerlegen), die Kaiserkrone wurde Napoleon nicht – wie seit über tausend Jahren üblich – vom Papst aufgesetzt; nein, er setzte sie sich selber auf.
Aufklärung, also selbst zu denken und damit die eigene Vernunft in all ihrer – klar erkannten (2) – Begrenztheit als letzte Instanz der Erkenntnis von Welt und unserer Stellung in ihr zu denken, ist seither ein integraler Bestandteil unserer westlichen Kultur, die daher auch als „aufgeklärte“ bezeichnet wird.
Ebenso wie es in freien Gesellschaften Zwänge (seien sie selbst auferlegt oder pathologisch bedingt) gibt, so ist auch nicht jedes Mitglied einer aufgeklärten Gesellschaft aufgeklärt. Mancher kann nicht und manch anderer will nicht selber denken. Dennoch können solche Gesellschaften „frei“ und „aufgeklärt“ genannt werden, etwa so wie man einem Sportverein auch nicht gleich seinen Namen aberkennt, wenn ein Dicker eintritt. Es scheint sogar zum Wesen von Kultur allgemein zu gehören, dass die meisten Menschen sie zwar tragen, weitaus weniger jedoch über sie, und damit über die Grundlagen der Gemeinschaft in der sie leben, nachdenken.
Kulturen implementierten und legitimierten sich seit Jahrtausenden über Traditionen und Rituale, Mythen und Mächte, Geister und Götter (12, 13). Diesen ist der Einzelne unterworfen, ob er dies will oder nicht. Betrachten wir als Beispiel die Muttersprache. Sie gehört zu den Traditionen im besten Sinne des Wortes, denn sie wird tradiert, das heißt, weitergegeben, zumeist völlig ohne darüber nachzudenken. Die Älteren plappern mit den Jüngeren, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, ohne nachzudenken, dass genau hierdurch die Jüngeren den ganzen Apparat der Sprache, ihre vielfältigen Formen und ihre Inhalte (die Bedeutungen der Wörter, und damit letztlich die Welt, wie sie gelebt wird) in sich aufnehmen. All dies geschieht völlig gedankenlos, so könnte man sagen, denn die Muttersprache lernt man weder durch das Memorieren grammatischer Regeln noch durch das Pauken von Einzelheiten und Kategorien, Namen und Eigenschaften. Viel später denken manche über Sprache nach, erkennen deren Regeln und hinterfragen die durch sie nahegelegte Systematik der Welt.
Nicht anders steht es um die Werte (6). Auch sie nehmen wir nicht durch Predigten auf, sondern dadurch, dass wir miteinander leben und handeln: Essen verteilen und andere Bedürfnisse befriedigen sowie gegenseitige Ansprüche ausgleichen, Streit schlichten, Vertrauen entwickeln und selber vertrauenswürdig sind. Ebenso wie wir beim Nachdenken über Sätze erkennen, dass Subjekte, Prädikate, Objekte und Eigenschaften zu ihren allgemeinen formalen Bestandteilen zählen, erkennen wir beim Nachdenken über unser Tun, dass Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu den allgemeinen formalen Bestimmungen unseres Handelns zählen. Und ebenso, wie wir beim Nachdenken über Sprache an Grenzen und auf Paradoxien stoßen (wie steht es um die Wahrheit des Satzes „ich lüge jetzt gerade“?; ist „Existenz“ ein Prädikat?; passt die Sprache auf die Welt?; und wie kann ich sinnvoll daran zweifeln?), geht es uns beim Nachdenken über die Werte (wie ist in einer freien und gerechten Welt Gleichheit – auf Dauer – möglich?; wieso bestrafen wir Mord und sogar die bloße Androhung von Folter zur Rettung unschuldigen Lebens und bedauern zugleich das Scheitern des Grafen von Stauffenberg?; warum sind diejenigen, die gegen die Todesstrafe sind, meist auch für Abtreibung, und umgekehrt?).
Gerade weil das Nachdenken so schwierig und dessen Resultate im Einzelfall schwer vorhersehbar sind, waren die angeführten Legitimationen von Kultur, die Mythen und Mächte, Geister und Götter von so großer Bedeutung. „Auch wenn Du es nicht verstehst, der Herrscher/die Macht der Mächtigen/der Naturgeist/Gott verstehen es und tun das Richtige“ – so oder so ähnlich lautete die tradierte und keineswegs notwendig reflektierte Formel der (Legitimation von) Kultur. Man hätte auch sagen können „das haben wir schon immer so gemacht und daher machen wir es jetzt auch so“, aber das klingt schon deutlich schwächer; nicht so kraftvoll und überzeugend wie „Du sollst ...“
Ganz offensichtlich ist eine der Wurzeln von Kultur, die Fähigkeit des menschlichen Geistes, „irrationale“ Ideen – und damit auch Kultur – hervorzubringen. Evolutionsbiologen und Anthropologen diskutieren dies als wichtigen Meilenstein der Menschwerdung, neben Feuer, Sprache und großen Gemeinschaften. Gerade aus evolutionsbiologischer Sicht ist Irrationalität ein Problem: Gehirne entwickelten sich schließlich zunächst dahingehend, die Natur um den Organismus herum immer besser zu erkennen: Wer den Ast, auf den er springen möchte, oder die Frucht, die er essen möchte, falsch erkannte, gehörte nicht zu unseren Vorfahren (8)! Wie konnten also Gehirne entstehen, die den Glauben an etwas hervorbringen, das jenseits der (erkennbaren) Realität liegt (4)?
Die Antwort der Evolutionsbiologen lautet kurz: weil Gehirne nicht zum Erkennen da sind, sondern zum Überleben. Und wenn eine Gemeinschaft von Menschen, die an „irrationale“ Ideen, Geister und Götter, Mythen und Märchen glaubt, überlebensfähiger ist als eine Gemeinschaft „rationaler“ Wesen, dann wird es langfristig solche Gemeinschaften geben. Und damit auch Kultur – möchten wir an dieser Stelle ergänzen. Entsprechend war das Vertrauen in diese Ideen und Institutionen seit Jahrtausenden ein wichtiger Bestandteil jeder Kultur. Zweifler wurden verb(r)annt! „Gott wird es schon richten“ – so lässt sich der Gedanke des religiösen Urvertrauens beschreiben. Es entsteht im Denken eines Menschen, der über sich und die Welt nachdenkt und seine eigene Kleinheit angesichts der Komplexität des Großen und des Ganzen überdeutlich und erdrückend erkennt. Und Gott spricht zu uns über (vermeintlich) von ihm legitimierte Autoritäten, die wir daher nicht anzuzweifeln brauchen.
Erst mit der Aufklärung, also zunächst nur in Europa und auch erst seit gut zweihundert Jahren, wird dies anders: Selber denken heißt nun der kulturelle Leitsatz, den man als zarte Pflanze betrachten kann, die dauernd davon bedroht ist, zertrampelt zu werden: Nicht nur von Königen und Kriegern, Predigern und Priestern, sondern vor allem von uns selbst, die wir ängstlich werden, wenn man uns gleichsam den Boden unter den Füßen hinwegzieht. Wer Angst hat, denkt gar nicht oder schlecht. Glaube mindert Angst.
Auch wer sein Leben wirklich selbst zu bestimmen versucht, wird daher zuweilen Sehnsucht haben nach etwas, das größer ist als er selbst, was ihn trägt und hält, was bleibt, wenn er nicht mehr ist. Wenn es gut geht, denkt er dann besser. Wenn der Glaube dogmatisch wird, geht der Schuss nach hinten los!
Vielleicht aus diesem Grunde führte die Aufklärung nicht zur Abschaffung der Religion (der christlichen, innerhalb derer die Aufklärung faktisch hervortrat und möglicherweise nur hat hervortreten können), sondern zu deren Veränderung: Wir leben nicht im Zeitalter des Atheismus, sondern im Zeitalter des aufgeklärten Christentums.
Zugleich ist es eine Tatsache, dass heute kaum noch jemand zur Kirche geht. Sie gibt zwar – im starken Fall – vielen Menschen noch Halt bei Extrem- oder Grenzsituationen wie Geburt, Hochzeit oder Tod (oder bildet dafür – schwach gewendet – nichts weiter als eine weitgehend akzeptierte Kulisse). Im Alltag spielen Gott und unsere Gedanken an ihn jedoch kaum eine Rolle. Wie der an der Harvard Universität lehrende Theologe Harvey Cox sehr anschaulich dargestellt hat, trat der Markt an seine Stelle (1): Der Markt weiß es besser, regelt alles zum Besten, ist überall und beherrscht alle Aspekte unseres Daseins. Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart kennzeichnen ihn ebenso wie die Tatsche, dass wir ihm blind vertrauen und dieses Vertrauen auch noch dadurch rechtfertigen, dass wir ihn nicht verstehen. Credo quia absurdum est (ich glaube [es], weil es widersinnig ist) sagte der frühchristliche Theologe Tertullian (ca. 150 bis 230 nach Christus). Er meinte die Entstehung des unschätzbaren Leibes des Herrn aus bloßem Brot und Wein. Bis Herbst 2008 war dies...