Befreit euch! — Inklusion als Aufgabe von Bildung und gesamtgesellschaftliche Perspektive
Das Wort Inklusion ist inzwischen zu einem Reizwort geworden, an dem sich die Geister scheiden und die Gemüter erhitzen. Viele sind vom Schulalltag inzwischen so erschöpft, dass sie Inklusion für eine gescheiterte Idee halten. Andere formulieren, dass sie zwar »für Inklusion seien, aber nicht für alle Kinder«. Nahezu alles, was zum Thema Inklusion geäußert wird, zeigt aber eigentlich nur eines: Dass bisher in den allermeisten Fällen nicht wirklich Inklusion an Schulen stattfindet, auch wenn es so bezeichnet wird. Denn das, was unter dem Begriff Inklusion läuft, ist in Wahrheit oft nur der (vergebliche) Versuch von Integration, was etwas ganz anderes ist und in der Praxis zunehmend an seine Grenzen gerät.
Inklusion bedeutet nicht die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen in das bestehende, normierte Schulsystem. Inklusion hat überhaupt nichts mit Integration in irgendein System zu tun, sondern bedeutet das Gegenteil: Nämlich, dass nicht von einem ›richtigen‹ (normierten) System aus gedacht wird, sondern von der real existierenden Vielfalt — weit über »Menschen mit Beeinträchtigungen« hinaus. Vielfalt anzuerkennen heißt: Von jedem einzelnen Menschen auszugehen und von seinen ganz eigenen Stärken — und nicht von einer Beschriftung, die ihn einer speziellen Gruppe zuordnet.
Wo Beschriftungen stattfinden (»Das sind die I-Kinder und das sind die muslimischen Kinder und das sind die verhaltensauffälligen Kinder« usw.) und wo Noten der Maßstab von Bewertung sind, kann Inklusion nicht wirklich stattfinden.
Welchen Wert haben Noten noch, wenn sie zunehmend in Frage gestellt und juristisch eingeklagt werden können? Was sagen die Noten über die Fähigkeiten und Stärken eines Menschen aus? Wäre es da nicht sinnvoller, vom Ziel her zu denken? Das Ziel ist ein sicheres Auskommen, Ansehen und Selbstwert — kurz: ein selbstbestimmtes, möglichst sorgenfreies und glückliches Leben.
Wenn jedes Kind die Möglichkeit hätte, 12 oder 13 Jahre zur Schule zu gehen und in dieser Zeit individuell sein gesamtes Potenzial entfalten und weiterentwickeln könnte, wären die Voraussetzungen für ein solches Ziel viel eher geschaffen, als durch ein Zeugnis, das Noten und Punkte dokumentiert. Jedes Kind sollte während der Schulzeit die Möglichkeit haben, herauszufinden, was es kann — und wie dieses Können sinnvoll und realistisch in die Welt eingebracht werden kann. Was könnten wir alles in den 12, 13 Jahren bei all diesen Heranwachsenden auf den Weg bringen — wenn wir nicht immer bewerten, vergleichen und in Raster einhegen müssten.
Schule ist bis heute in den meisten Fällen exklusiv. Die Lehrkräfte leiten (systembedingt und gezwungenermaßen) an und beurteilen ihre Schüler*innen1, in den Kursen und Klassen ordnen sich diese auf der genannten Skala zwischen Anpassung und Rebellion ein. Alle agieren aus diesen Rollen heraus. Alles andere erhält keinen Raum und bleibt daher unterentwickelt und begraben. Die sichtbaren Leistungen entsprechen der Rollenverteilung auf der genannten Skala und die Noten dementsprechend der Gaußschen Verteilung: Eine oder zwei »Einsen«, drei oder vier »Zweien«, acht »Dreien«, sieben »Vieren«, drei »Fünfen«, eine »Sechs«. Oder sehr ähnlich. Das ist unsere Schule. Und wenn wir das konsequent systemisch betrachten, dann ist das eine Erziehung zur Unmündigkeit.
Inklusion ist eine konstruktive Antwort auf die real existierende Diversität und damit auf die zahlreichen Herausforderungen unserer derzeitigen Gesellschaft und wahrscheinlich der einzige Weg in ein zukunftsfähiges Bildungssystem, das Vielfalt als Selbstverständlichkeit und Bereicherung betrachtet. Was derzeit aber an den meisten unserer Schulen praktiziert wird, ist keine Inklusion, sondern versuchte Integration von Abweichenden. Inklusion kann erst in dem Augenblick erfolgreich sein, in dem wir einen grundlegenden Perspektivwechsel vornehmen.
Es nützt nichts, aus der bestehenden Perspektive heraus die (offensichtlichen) Probleme immer wieder neu zu benennen. Ich kann derzeit jede Mutter verstehen, die ihr Kind mit Down-Syndrom nach mehreren gescheiterten Versuchen an einer Regel-Schule doch wieder an einer Förderschule anmelden will. So wie es derzeit ist, kann es — meiner Ansicht nach — auch nicht funktionieren (mit den bekannten Ausnahmen natürlich, die die Regel bestätigen). Um nicht erneut in diese bekannte Argumentation einzusteigen, die uns alle schon so müde werden lässt, möchte ich hier nur kurz eine ganz andere Episode schildern:
Vor einiger Zeit traf ich Herrn Enno Schmidt zu einem Gespräch in Zürich, der sich für das bedingungslose Grundeinkommen einsetzt und den Volksentscheid darüber in der Schweiz maßgeblich vorangebracht hat. Wie wir wissen stimmte ›nur‹ ein Viertel der Schweizer Bevölkerung dafür. Herr Schmidt hatte dies kaum anders erwartet, sagte mir aber folgendes: »Notwendige gesellschaftliche Veränderungen gehen grundsätzlich mit großen Widerständen einher. Das hat damit zu tun, dass eine Mehrheit erstmal aus dem gegenwärtigen Zustand und aus einer persönlichen Perspektive darüber urteilt. Das ist sehr menschlich und verständlich, es sagt aber nichts darüber aus, ob diese Veränderung nicht trotzdem notwendig sein wird. Denn es geht bei diesen Veränderungen um Antworten auf zukünftige Probleme. Wer in seinem Alltag steckt, hat nicht unbedingt ein Bewusstsein für diese zukünftigen Probleme und urteilt auf der Basis des Ist-Zustandes. Alle Argumente aus dieser Perspektive sind schlüssig und nachvollziehbar — sie führen aber nicht unbedingt weiter.«
Enno Schmidt nannte mir für diese Situation folgendes Beispiel: Als die Automobile erfunden wurden, gab es eine Phase, in der eine Mehrheit es für selbstverständlich hielt, dass die neuen Automobile auf der Straße auf keinen Fall erlaubt werden dürften, da sie die Pferde vor den Kutschen scheu machten. Aus der damaligen Perspektive erschien das sehr nachvollziehbar: Alle Argumente gegen die Autos auf den Straßen waren absolut schlüssig und verständlich. Trotzdem fahren jetzt Autos auf den Straßen.
Enno Schmidt erklärte mir, er habe aufgehört, die Argumente gegen das bedingungslose Grundeinkommen immer wieder neu entkräften zu wollen. Denn dadurch werde die alte Perspektive nie verlassen. Stattdessen konzentriere er sich inzwischen darauf, das Bewusstsein der Menschen für eine veränderte Perspektive zu öffnen, in dem er nur noch über die konkreten Fakten des bedingungslosen Grundeinkommens informierte. Seine Devise lautete: »Je mehr Menschen über Faktenwissen zu diesem Thema verfügen, desto besser, weil nur das konkrete Faktenwissen und eine unermüdliche Aufklärung über die gesellschaftlichen Zusammenhänge und derzeitigen Entwicklungen zu einem Perspektivwechsel führen können.« Dagegen hielt er es für verschwendete Zeit (»die wir nicht haben«), uns immer wieder erneut an Argumentationsketten abzuarbeiten, deren Ziel es sei nachzuweisen, dass »das bedingungslose Grundeinkommen nicht machbar ist«.
Ich sehe deutliche Parallelen zum derzeitigen Thema Inklusion. Zumal auch deshalb, weil beide Themen konstruktive Antworten auf ein zukünftiges Problem sind, das sich bereits jetzt abzeichnet: Verlust von Arbeitsplätzen und grundsätzliche Veränderungen der Arbeitswelt durch Künstliche Intelligenz. (Der tagtäglich stundenlang im Garten hin und hersurrende Rasenroboter meiner Eltern ist nur der Anfang). Kaum jemand kann sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen, dass sehr viele Menschen bald sehr viel weniger, bzw. ganz anders arbeiten werden als heute. Und es zeichnet sich ab, dass es zum Problem werden wird, dass wir ein System erschaffen haben, in dem der (innere) Selbstwert und das (äußere) Ansehen eines Menschen von seiner Arbeitsleistung (und unserer Vorstellung davon, was ›Arbeitsleistung‹ ist) abhängt — und von dem Geld, das er mit dieser Arbeit verdient.
Was passiert, wenn die Arbeit und die Berufe, die wir kennen, in großen Teilen überflüssig werden? Wenn Arbeit von Menschen zu teuer wird, als dass alle damit ausreichend verdienen können? Verlieren dann all diese Menschen ihre Lebensgrundlage, ihr Ansehen und ihren Selbstwert? Keine gute Aussicht. Wir müssen also erstens darüber nachdenken, den Wert eines Menschen unabhängig von seiner Arbeitsleistung zu betrachten, zweitens Arbeit neu zu definieren und drittens über eine Umverteilung der finanziellen Mittel nachdenken. Langfristig wahrscheinlich global.
Kurz: Es ist wichtiger denn je, Bildung nicht länger auf Ausbildung bester ökonomischer Startvoraussetzungen zu reduzieren, sondern den Fokus darauf zu richten, was Bildung eigentlich bedeutet: Persönlichkeitsbildung und die...