Bei einer derartigen Vielzahl an Einsatzmöglichkeiten stellt sich die Frage nach einer theoretischen Fundierung. Lassen sich die verschiedenen Optionen, Smartphones im Unterricht zu nutzen, durch klassische Lerntheorien begründen? Oder wäre ein Einbinden mobiler Endgeräte in den Schulunterricht reiner Selbstzweck, um dem Ruf nach einem Mehr an modernen Medien in der Schule gerecht zu werden?
Wichtigste Struktur im menschlichen Körper im Bereich Lernen, Erinnern und Gedächtnis ist das Gehirn. Stark vereinfacht können seine Funktionen in drei aufeinander aufbauende Systeme abgegrenzt werden: das Stammhirn (oft auch als Reptiliengehirn[159] bezeichnet), das limbische System und der Neokortex. Während das Stammhirn vor allem für die grundlegende Erhaltung der Lebensfunktionen zuständig ist, besteht die Aufgabe des limbischen Systems – zusammengesetzt aus Hippocampus, Amygdala und Hypothalamus – vor allem im Erinnern und Wahrnehmen von Gefühlen. Destinationen des Neokorticis mit seiner nahezu unbegrenzten Kapazität zu lernen sind räumliches und abstraktes Denken, Sprachentwicklung, soziale Interaktionen und vieles mehr. Damit dies überhaupt möglich ist, müssen allerdings erst gewisse Bedingungen in Bezug auf Stammhirn und limbisches System erfüllt sein. Um letzteres zu aktivieren, ist beispielsweise im Unterrichtsgeschehen oder in der Lernapp eine Geschichte oder die Durchführung einer Diskussion hilfreich. Erst wenn limbisches System und Stammhirn in gewünschter Weise arbeiten, können die Kapazitäten des Neokorticis voll ausgenutzt werden.
Zentrale Voraussetzung für Lernprozesse ist dabei eine angenehme Lernumgebung. Besteht hier eine Bedrohung oder wird eine Situation lediglich als solche empfunden, greift das Gehirn auf die niedrigere Stufe des Reptiliengehirns zurück.[160] Für ein Lernen mit Smartphoneanwendungen, die beispielsweise in einer mittelalterlichen oder in einer Fantasy-Welt spielen, ist es daher wichtig, dass das Programm altersgerecht gestaltet ist und nicht durch Grafik oder Darstellungen diverser Formen von Gewalt Ängste bei den Lernenden erzeugt. Doch die Aktivierung des Stammhirns in Kombination mit einer Art Blockade des Neokorticis kann auch durch Demütigungen, Mobbing oder die Unfähigkeit, gesetzte Ziele zu erreichen, ausgelöst werden. Ist die Bedienung des Lernprogrammes oder die durch ebendieses gestellten Aufgaben zu schwierig, führt dies zu Motivationsverlust und Frustration. Provoziert werden derartige negative Emotionen beispielsweise über automatische Messdatenerfassung der Lernprogramme, die beim Schüler/ bei der Schülerin das Gefühl, keine Fortschritte zu machen, implizieren, durch einen als belastend empfundenen Sozialvergleich mit den Klassenkameraden und Kameradinnen[161] oder schlicht durch technische oder kognitive Überforderung.
Aufgabe der Lehrkraft ist es damit, darauf zu achten, die Schülerinnen und Schüler hinsichtlich letzterer Aspekte nicht zu überfordern. Bevor eine neue Applikation im Unterricht eingesetzt wird, muss zunächst die Bedienung dieser eingeübt werden. Erst wenn diese notwendigen Kompetenzen erlernt sind, kann diese gewinnbringend für den schulischen Stoff genutzt werden. Bei stark hervortretenden Wettbewerbsaspekten in den Programmen sollte das Augenmerk auf Selbstwertgefühl und fachliches Selbstvertrauen gelegt werden, um einer Schwächung dieser vorzubeugen.[162]
Beim Lernen mit Smartphoneanwendungen spielen verschiedene Lernformen, die auch im klassischen Unterricht vorkommen, eine Rolle. Allen voran steht hier das Lernen aus Texten. Im Gegensatz zu Schulbuchtexten werden digitale Texte gelesen und zum Wissenserwerb genutzt. Die Qualität des Textlernens hängt dabei von drei Faktoren ab: „der Qualität des Textes, dem Vorwissen der Lernenden und den mentalen Aktivitäten der Lernenden“.[163] Sowohl bei der Auswahl einer geeigneten Anwendung als auch bei freier Internetrecherche muss daher seitens der Lehrkraft darauf geachtet werden, dass die Schülerinnen und Schüler bereits über nötiges Grundwissen verfügen sowie Strategien zum Verstehen und Deuten von Texten beherrschen. Schwierige Fachbegriffe sollten – sofern sie nicht in der Anwendung definiert werden – vorab geklärt werden. Suchen die Schüler/innen selbstständig im Netz nach Informationen, erscheint es gerade in unteren Jahrgangsstufen sinnvoll, eine Auswahl an Webseiten vorab zu Verfügung zu stellen, um eine ausschließliche Beschäftigung mit qualitativ hochwertigen, alters- und wissensangemessenen Texten zu garantieren. Ziel eines jeden Lesetextes im schulischen Kontext sollte die situationale Repräsentation des Gelesenen sein, d.h. die Fähigkeit der Lernenden, neu Erfahrenes mit bereits Bekanntem zu verknüpfen und in den entsprechenden Kontext einzuordnen, um so auch weiterführende Aspekte eigenständig zu verstehen.[164]
Dem Lernen aus Texten hinsichtlich der rein rezeptiven Haltung verwandt ist das Lernen durch Beobachtung. Gerade im Bereich der Grundschule oder der Naturwissenschaften kann es aufgrund von hohem Organisationsaufwand oder Gefahraspekten sinnvoll sein, Experimente nicht tatsächlich durchzuführen, sondern lediglich Videos dazu zu betrachten. Bandura hat in seinem „Bobo Doll“ Experiment bereits 1963 nachgewiesen, dass Lernen allein am Modell in der Art möglich ist, dass Kinder Handlungen ausführen können, selbst wenn sie diese nur in Videos und Filmclips gesehen haben. Durch die Schaffung bestimmter Rahmenbedingungen wird dabei die tatsächliche Ausführungswahrscheinlichkeit beeinflusst.[165] Diesbezüglich können Smartphones als einfachere und unkompliziertere Alternative zur Veranschaulichung durch Bewegtbilder den Erwerb von Fähigkeiten und Wissen erleichtern.[166]
Abgesehen von diesen rein passiven Lernformen liegt die Stärke moderner mobiler Endgeräte vor allem in der Interaktivität. Schülerinnen und Schüler können auf verschiedene Arten durch diese Technologie stärker in den Unterricht eingebunden werden:
In Smartphoneapplikationen kann das Lernen durch Beispiele ebenso genutzt werden wie das Lernen durch Aufgabenbearbeiten und Üben. Im Gegensatz zur klassischen Einbettung dieser Strategien ins Unterrichtsgeschehen steht bei letzteren beiden aber oftmals das Konzept der „Cognitive Tutors“ zur Verfügung. Dabei spielen zwei Mechanismen eine substantielle Rolle: Das sog. „Model Tracing“ und das „Knowledge Tracing“. Ersteres basiert auf typischerweise im Lernprozess auftretenden Fehlern bei der Bearbeitung von Standardaufgaben. Gibt ein Schüler/ eine Schülerin im Programm eine falsche Antwort, die in dieser oder ähnlicher Art jedoch von vielen Lernenden gegeben wird, können sofort speziell auf dieses Verständnisproblem abgestimmte Hilfen gegeben werden.[167] Der klare Vorteil im Gegensatz zu klassischen Unterrichtsverfahren besteht darin, dass alle Schülerinnen und Schüler zeitgleich die Aufgaben bearbeiten und so jedem die Möglichkeit gegeben wird, aus seinen eigenen Fehlern zu lernen. Gibt im Unterrichtsgespräch nur einer eine (typische) falsche Antwort, so kann diese von der Lehrkraft zwar thematisiert werden, jedoch wird die Falsifikation seitens der übrigen Schülerinnen und Schüler weniger internalisiert, als wenn sie den Fehler selbst begehen. „Knowledge Tracing“ hingegen basiert auf der Berechnung der Wahrscheinlichkeit, mit welcher ein Schüler/ eine Schülerin neue Inhalte bereits vollständig verstanden hat. Dies erlaubt es, den Lernfortschritt anzuzeigen und darauf abgestimmt den weiteren Verlauf des Lernprozesses zu gestalten. Renkl räumt allerdings ein, dass diese Technologien keine Selbstläufer sind, sondern nur durch sinnvolle Integration in das Unterrichtsgeschehen dieses effizient modifizieren können.[168]
Hand in Hand mit dieser eigenständigen Bearbeitung von Aufgaben geht ein weiteres zentrales didaktisches Konzept: Die Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler. Ein zentraler Punkt in Bezug auf die durch Smartphones mögliche Interaktivität ist nämlich Jerôme Bruners Konzept der Enaktivität – kurz als Lernen durch Handeln beschreibbar. Lernende begreifen Inhalte besser (in strenger Auslegung überhaupt erst) durch eigenständiges Handeln. Ebendieses kann durch den parallelen Einsatz mobiler Endgeräte erreicht werden.
Im Gegensatz zu einer rein passiven Betrachtung von Texten, Bildern oder Videos, wie sie im klassischen Unterricht üblich ist, liegt eine der Hauptstärken von Smartphones im Bereitstellen interaktiver Partizipationsmöglichkeiten – sei es direkt im Rahmen von Lernprogrammen oder schlicht durch Verwendung der üblichen...