2 Gesundheitliches Gesamtkonzept in einer Behinderteneinrichtung
Ziel der Gesundheitsförderung in der Behindertenarbeit ist es, eine gesundheitsfördernde Lebenswelt „Behinderteneinrichtung“ zu schaffen. Als Grundlage hierfür braucht es ein Gesamtkonzept, in dessen Rahmen dann die einzelnen Maßnahmen der Gesundheitsförderung und (Krankheits-)Prävention geplant und umgesetzt werden. Das Konzept sieht vor, die Bedingungen in der Einrichtung schrittweise so zu verbessern, dass sich dies positiv auf die Gesundheit der Bewohner und der dort beschäftigten Betreuungskräfte auswirkt. Auf dieser Basis soll es allen leichter fallen, sich gesundheitsbewusst zu verhalten.
2.1 Bereiche, in denen Gesundheitsförderung in der Behindertenarbeit stattfinden soll
Doch wie kann man gesundheitsfördernde bzw. gesundheitserhaltende Lebensbedingungen in einer Behinderteneinrichtung schaffen und gleichzeitig die gesundheitsförderlichen Ressourcen der Menschen stärken, die in diesem Setting leben und arbeiten? Hierzu müssen zuerst einmal konkrete Bereiche definiert werden, in denen Gesundheitsförderung stattfinden soll (Abbildung 2-1). Im vorliegenden Buch wird dies überwiegend am Beispiel einer Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderung gezeigt.
Im Zentrum stehen dabei die gesundheitlichen Grundbedürfnisse der Menschen mit Behinderung, die in der Wohneinrichtung leben. Hierzu gehören:
- gesundes Essen
- gesundes Trinken
- gesunder Schlaf
- ausreichend Bewegung
- eine gesundheitsfördernde Unterkunft
- Schutz und Sicherheit
- eine adäquate Körperpflege
- ausreichend Nähe und adäquate soziale Beziehungen
- das Bedürfnis nach Sexualität.
Erst wenn dies gewährleistet ist, können auch die sekundären20 gesundheitlichen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung in den Blickpunkt rücken. Zu diesen gehören:
Ein gesundheitsfördernder Umgang im Hinblick auf
- mögliche Krankheiten der Bewohner
- die Versorgung mit Medikamenten
- die Versorgung mit Hilfsmitteln
- den Kontakt mit Gesundheitseinrichtungen
- den Kontakt mit Ärzten
- die psychische Situation der Bewohner
- das Verhalten der Bewohner
- den Konsum von Drogen
- Altern und Tod
- andere einschneidende Ereignisse.
Weiterhin gehören zu einer gesundheitsfördernden Lebenswelt „Behinderteneinrichtung“ unbedingt auch Maßnahmen, die die Gesundheit der Betreuungskräfte fördern. Denn: „Nur wenn es den Mitarbeitern gut geht, kann es auch den Bewohnern gut gehen.“ (s. Literaturverzeichnis [4]).
Außerdem braucht es politische und soziale Rahmenbedingungen, die es erst ermöglichen, gesundheitsfördernde Lebenswelten für Menschen mit Behinderung zu gestalten. Hier spielen nicht zuletzt auch finanzielle Aspekte eine große Rolle. Nur wenn es politisch gewollt ist, dass genügend finanzielle Ressourcen für Menschen mit Behinderung zur Verfügung gestellt werden, können bestimmte (aber: nicht alle!) Maßnahmen erst umgesetzt werden. Im Idealfall führt dies alles für die dort lebenden Menschen mit Behinderung nicht nur zu einer besseren Gesundheit, sondern auch zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe. Gleichzeitig kann mehr gesellschaftliche Teilhabe auch zu mehr Gesundheit bei den Menschen mit Behinderung führen.
Abbildung 2-1: Ansatzpunkte der Gesundheitsförderung in der Lebenswelt „Behinderteneinrichtung“.
2.2 Von der Planung zur Umsetzung von Gesundheitsförderungsmaßnahmen
2.2.1 Public Health Action Cycle
Gesundheitsförderungsmaßnahmen sollten grundsätzlich nach den Prinzipien des sogenannten „Gesundheitspolitischen Aktionszyklus“ (Public Health Action Cycle; Abbildung 2-2) geplant und umgesetzt werden.
Abbildung 2-2: Public Health Action Cycle.
Partizipation: Entsprechend den Grundsätzen der Gesundheitsförderung ist es wichtig, alle Beteiligten in die Planung und Umsetzung der Maßnahmen einzubeziehen. Dies bedeutet, dass nicht nur die Ideen der Leitungskräfte in den Prozess einfließen, sondern auch die der übrigen Beschäftigten (Betreuungskräfte, Physiotherapeuten, Logopäden, Küchenpersonal, Hausmeister etc.), der Bewohner, ihrer Angehörigen oder gesetzlichen Betreuer, aber ggf. auch die Ideen des Betriebsarztes und anderer Gesundheitsfachleute sowie weiterer Interessenvertreter (Stakeholder), die in diesem Zusammenhang jeweils eine Rolle spielen.
Verantwortlichkeit: In jeder Einrichtung sollte es grundsätzlich jemanden geben, der für das Thema „Gesundheit“ verantwortlich ist, der entsprechende Themen immer wieder einbringt und darauf achtet, dass beschlossene Gesundheitsziele umgesetzt werden. Dies muss nicht unbedingt jemand aus dem Leitungsteam sein oder ein medizinisch vorgebildeter Mitarbeiter, sondern das kann auch jemand sein, der sich im Bereich der Gesundheitsförderung weitergebildet hat. Diese Person sollte nicht für die Planung und Umsetzung jeder einzelnen Maßnahme verantwortlich sein, sondern „das Ganze“ im Blick behalten. Die Verantwortlichkeiten für die Planung und Umsetzung der Einzelmaßnahmen sollten in den jeweils betroffenen Bereichen liegen und während der Maßnahmenplanung zu einem möglichst frühen Zeitpunkt festgelegt werden. Grundsätzlich ist es sinnvoll, die einzelnen Planungsschritte und die für die Planung und Umsetzung verantwortlichen Personen detailliert schriftlich festzuhalten.
Zeitplan: Dies schließt einen detaillierten Zeitplan mit ein, der zeigt, bis wann bestimmte Schritte umgesetzt sein sollen.
Der Public Health Action Cycle umfasst üblicherweise folgende Schritte:
- Problemdefinition: Der erste Schritt in einem Public Health Action Cycle besteht darin, die vorhandenen Gesundheitsprobleme und -bedürfnisse in einem Setting festzustellen. Diese werden anschließend entsprechend ihrer Wichtigkeit eingestuft (Priorisierung). Das geschieht nach zuvor festgelegten Kriterien.
- Ziel- und Strategieformulierung: Darauf aufbauend werden anschließend die entsprechenden Ziele und Strategien festgelegt. Hier unterscheidet man generelle Ziele von spezifischen Zielen. Generelle Ziele beschreiben das, was grundsätzlich erreicht werden soll. Spezifische Ziele drücken aus, was im Detail erreicht werden soll, und setzen dazu jeweils einen Zeitpunkt fest, bis zu dem dies geschehen sein soll. Nun müssen entsprechende Strategien21 und Methoden festgelegt werden, die dazu geeignet sind, diese spezifischen Ziele zu erreichen.
- Implementierung: Es folgt die Phase der Umsetzung (Implementierung). Hier müssen zuerst die zur Umsetzung der geplanten Maßnahmen nötigen Ressourcen (v.a. materieller, personeller und finanzieller Art) ermittelt und beschafft werden. Sind diese vorhanden, werden die Maßnahmen entsprechend dem ausgearbeiteten Maßnahmenplan mithilfe der beschlossenen Methoden durchgeführt.
- Evaluation: Idealerweise sollte schon während (= Prozessevaluation) und dann insbesondere auch nach der Umsetzung (= Ergebnisevaluation) danach geschaut werden,
- ob man die richtigen Maßnahmen ausgewählt hat,
- ob die Maßnahmen von den Menschen im Setting angenommen werden und natürlich auch
- ob diese Maßnahmen zum Erfolg (d.h. zu mehr Gesundheit im Setting „Behinderteneinrichtung“) führen.
Abbildung 2-2 zeigt, dass die Evaluationsergebnisse dann wieder in die erneute Betrachtung der aktuellen Situation vor Ort einfließen, sodass der Zirkel von vorne beginnen kann. Auf diese Weise können die Maßnahmen der Gesundheitsförderung optimal an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden. Jede Runde des Zirkels führt somit idealerweise zu mehr Gesundheit im Setting.
2.2.2 Von der Problemerkennung zur Maßnahmenplanung
In all den in Kap. 2.1 genannten Lebenswelt-Bereichen können Probleme auftreten, die die Gesundheit der Bewohner einer Behinderteneinrichtung sowie direkt oder indirekt auch die Gesundheit der dort Beschäftigten beeinträchtigen können. Diese Probleme zu identifizieren, ist einer der ersten Schritte bei der Planung von Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention (s. „Public Health Action Cycle“). Dies kann z.B. mithilfe einer Befragung der Bewohner, der Angehörigen bzw. gesetzlichen Vertreter und der Beschäftigten in einer Behinderteneinrichtung geschehen. Auch Workshops zu verschiedenen Gesundheitsthemen können z.B. den Beschäftigten Gelegenheit geben, die gesundheitsrelevanten Probleme der Einrichtung anzusprechen. Um für die festgestellten Probleme dann auch jeweils passende Maßnahmen erarbeiten zu können, die auf den aktuell besten wissenschaftlichen Daten beruhen, braucht es entsprechendes Grundlagenwissen. Die folgenden Kapitel schildern daher typische Probleme in Lebenswelt-Bereichen, die die Grundbedürfnisse der Menschen mit Behinderung abbilden (z.B. in Kap. 3 den Bereich „Essen und Trinken“). Zuvor werden hierzu epidemiologische Daten zur Häufigkeit dieser Probleme und ihrer möglichen Folgen erörtert.
Definition „Epidemiologie“
Die Epidemiologie ist eine...