THERAPIEN, THERAPEUTEN, THEOLOGEN
Dass ich irgendwann mal in einer Psychoklinik landen würde, hätte ich, ehrlich gesagt, nie gedacht. Eigentlich wollte ich das mit meiner Angst doch immer anders hinbekommen.
Einiges habe ich ja schon ausprobiert. An Therapien. An Maßnahmen, um mit meinen überbordenden Ängsten klarzukommen. Mit meinen Panikattacken, das heißt, mit der plötzlichen Todesangst, die scheinbar aus dem Nichts auftaucht, die mich lähmt, mir die Luft raubt, mich schwindlig sein lässt und in mir das Gefühl auslöst, jeden Moment zu sterben oder verrückt zu werden. Eine Panikattacke macht, dass meine Hände kribbeln, ich alles um mich herum nur noch durch einen dichten Nebel wahrnehme, mein Herz rast und ich nur noch aus dem Gefühl Angst zu bestehen scheine.
… sagt mal, kann ich dieses »ich« nicht mal ersetzen? Durch jemand anderen, Fremden? Das hätte was Tröstliches, Distanziertes. Wenn ich über mich wie jemand anderen schreiben würde, dann würde ich auch mal Kategorien wie »die Mittvierzigerin«, die »Komikerin« oder die »Angstgeplagte« verwenden. Viel besser als dieses berührbare »ichichich«. Aber es heißt, wenn man von sich selbst in der dritten Person spricht (oder auch schreibt, fürchte ich), sei das ein Zeichen für geistige Versehrtheit. Also für eine psychische Störung. Und davon kann bei mir ja nun keine Rede sein, Zwinker-Smiley. Also (seufz): Zurück zu den angstvertreibenden Maßnahmen. Als da wären: Massage, Akupunktur, »Heiler«, Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, Qigong, Tiefenpsychologische Gesprächstherapie, Meditation, Tabletten, Autogenes Training, Homöopathie – das sind die Therapien und Entspannungsübungen, die ich im Laufe meines Lebens ausprobiert habe. Und natürlich Schokolade.
Als ich mit zwölf, dreizehn Jahren das erste Mal Panikattacken habe, schiebt man das auf die Hormone. Wir sind im Familienurlaub im idyllischen Südtirol, und plötzlich habe ich Angst. Angst vor den Bergen, Angst, wenn wir uns von unserer Pension entfernen, Angst vor ziemlich allem.
Als wir wieder zu Hause sind, nehmen die Ängste zwar ab, tauchen aber immer wieder auf. Der Kinderarzt konstatiert achselzuckend die beginnende Pubertät. Verquere Synapsen im Oberstübchen aufgrund von Frauwerdungssäften. Und eine Bekannte meiner überaus besorgten Mutter – ihres Zeichens Masseurin (medizinische, versteht sich, für alles andere bin ich noch zu jung) – setzt viel Zuversicht in manuelle Therapie, um meine verirrten Körpersäfte wieder in geregelte Bahnen zu lenken und so der Angst Einhalt zu gebieten. Dass es nicht die allerbeste Idee ist, ein pubertierendes Mädchen, das ja überhaupt nicht versteht, was da körperlich gerade mit ihm passiert und sich für ihre Wölbungen am Oberkörper und jedes einzelne Schamhaar schämt, am Unterleib zu massieren, findet damals anscheinend niemand.
Da ich aber auch nicht unsittlich berührt werde, habe ich bis heute keine wirklich unangenehmen Erinnerungen an diese Therapiemaßnahme. Im Gegenteil, in meinem Alter freue ich mich, dass ich mich überhaupt an etwas erinnere. Und dennoch würde diese Art der Ängstebehandlung wohl nicht ganz oben auf dem Therapieplan eines einigermaßen geistig gesunden Diplompsychologen stehen. Dass sie mir dennoch zuteilwird, lässt sich nur mit der Ratlosigkeit meiner Eltern erklären.
Genauso wie das Verschreiben von Beruhigungsmitteln im zarten Kindesalter, weil ich nervös zwinkere. Wohlgemerkt hat das meine Mutter festgestellt, nicht der attraktive Nachbarsjunge. Mich selbst stört es nicht, andere dafür umso mehr, und so gibt’s pflanzliche Tropfen vom Kinderarzt. Und auch hier frage ich mich – zu Recht, wie ich meine –, ob man das heute auch noch so machen würde. Ist es vermessen, da mal nach der Einschätzung einer Kinderpsychologin zu fragen? Die dann eventuell gleich mit Ritalin beigeht? Nervosität könnte ja eventuell auch etwas mit Konflikten oder Veränderung in Familie oder Schule zu tun haben, aber an solche Gründe denkt in den 1980er-Jahren niemand. Zu viel Haarspray.
Heute denke ich, dass der damalige Herzinfarkt meines Vaters (ich sehe ihn jetzt noch manchmal vor meinem geistigen Auge auf der Intensivstation liegen, überall Kabel und Schläuche) mich sehr getroffen hat. Es sollten in den nächsten zehn Jahren noch zwei Infarkte folgen. Und dass meine Mutter sich daraufhin als Grafikerin selbstständig gemacht hat und nicht mehr jeden Nachmittag, wenn ich aus der Schule kam, zu Hause war, war auch eine große Umstellung für mich.
Gut – ich werde also gegen die Panik massiert und kriege Tropfen gegen meinen nervösen Tick. Und vielleicht geht Es (Stephen King) davon tatsächlich wieder weg. Vielleicht aber auch nicht. Hauptsache, mir geht’s wieder gut.
Das ist meine erste Begegnung mit der Angst, sie hält zum Glück nicht sehr lange an, zeigt sich während dieser Wochen und Monate auch nur ab und zu und verschwindet dann erst einmal ziemlich vollständig.
Um dann, mit siebzehn, mit aller Wucht wiederzukommen.
»Sorry Leute, ich hatte ein paar Jahre was anderes zu erledigen, aber – hey, da bin ich wieder! Bock auf ’ne Runde Panik? – Nee? Ist mir scheißegal!« Es ist November, und ich bin außer mir vor Angst. Es gibt keinen erkennbaren Grund dafür, kein Monster unter dem Bett, keine tagelange absolute Sonnenfinsternis, keine Geissens vor der Tür – Angst ohne offensichtlichen Grund, herrlich!
Ich drehe derart am Rad, dass ich mich nicht einmal mehr traue, den Müll rauszubringen; schon allein die Angst vor neuen Panikattacken stresst mich so sehr, dass ich am liebsten nur noch zu Hause sitze, wo ich mich sicher fühle. My home is my castle, sozusagen, aber schon über den Burggraben komme ich nur mit Müh und Not und nur in Begleitung. Aber andererseits – wer geht schon gern aus dem Haus im November, Dezember?
An einen Schulbesuch ist in dieser Zeit überhaupt nicht zu denken, und nachdem meine Eltern mit meinem Rektor gesprochen haben, bin ich bis auf Weiteres vom Unterricht beurlaubt. Die zwölfte Klasse wiederholen … Was denken meine Schulfreunde, was denken die Lehrer? Das ist mir alles herzlich egal, bin ich doch so sehr in meinen Ängsten gefangen und mit dem täglichen Überleben beschäftigt.
In diese Zeit der Unsicherheit und puren Angst platzt ein Anruf meines Französischlehrers, der mich dringend ersucht, doch wieder in die Schule zu kommen. Ich weiß nicht, was er sich denkt. Dass ich mir einen faulen Lenz mache? Dass ich einen Gallier mittleren Alters kennengelernt habe, mit dem ich um die Welt segeln will? Oder dass ich, aktuell koksend und kiffend, beschlossen habe, jetzt auch Heroin auszuprobieren und mit einer Death-Metal-Band durch die Lande zu ziehen? Oder dass ich ein Leben mit wechselnden Männerbekanntschaften, Geschlechtskrankheiten und Hurra-hurra-die-Schule-brennt-T-Shirts einem soliden Schulabschluss nebst Studium vorziehe? Keine Ahnung.
Jedenfalls will jenes hohlstimmige Asterix-Double mich also an einem sonnigen Montagvormittag am Telefon sprechen, und ich führe, mit Panik nicht nur im Blick, sondern im ganzen Körper, weil mir grundsätzlich alles Angst macht, den Hörer ans Ohr (Junge Leserinnen, googelt mal bitte Telefone der 1980er-Jahre, heul!). Ich vernehme also die Stimme meines Französischlehrers: »Kommen Sie doch wieder an die Schule! Das ist doch Ihr Weg!«
Ich will ihm entgegnen: »Das würde ich doch gerne! Ich habe mir das doch nicht ausgesucht!«, und komme mir wie eine Frau ohne Beine vor, die man dringend ersucht, doch endlich mal wieder joggen zu gehen.
Was erlaubt der sich? Hat keine Ahnung, aber rät mir, die Schule nicht zu schmeißen, was ich ja überhaupt nicht vorhatte!
Und doch kann ich in dem Moment nicht wütend werden. Auch wenn es meiner Seele gewiss gutgetan hätte, wenn ich meinen Lehrer angeschrien und dann den Hörer aufgeknallt hätte (Ja, das konnte man damals noch! Das vermisse ich!).
Nein, dieser Anruf macht mir, man ahnt es schon, nur noch mehr Angst, so wie fast alles in dieser Zeit.
Meine Mutter weiß sich schließlich nicht anders zu helfen, als die Gelben Seiten des Telefonbuchs nach Psychologen zu durchforsten und diese wahllos anzurufen. Sie schaut also unter »P« wie Panikdoktor und erreicht kurz vor dem Christfest einen, und der erweist sich als Glücksgriff. Er will mich weder massieren, noch schwört er auf Tropfen. Nein, Herr Brunner ist Diplompsychologe, und meine Mutter fährt einmal die Woche mit mir zu ihm nach Sondelfingen, obschon in meinem schwäbischen Heimatort Eningen die Redewendung kursiert: »Lieber gar koin Fenger wia an Sondelfenger« (e = i, wie = als, oi = ei).
Herr Brunner versucht am Anfang der Therapiestunde, mich mit einer Art Autogenem Training, also einer Entspannungsübung, zu beruhigen. Während er also in mein Gesicht mit den panisch aufgerissenen Augen spricht: »Sie sind ganz ruhig und ganz entspannt … «, sitze ich in dem Patientensessel wie auf einem Rodeostier und denke: »Ruhig und entspannt – Flötepiepen! Ich flippe gleich aus, wenn ich nicht vorher schon explodiere in einem menschlichen Urknall.«
Fortsetzung folgt.
Meine Psychobeschwerden haben sich in der Familie herumgesprochen, und mein Onkel aus Aachen ruft an und rät meiner ziemlich ratlosen Mutter in schönstem Öcher Platt: »Die Heide (Anm. d. Autorin: seine Frau), die war mit ihrer Migräne bei so ’nem Wahnsinnstypen in Holland. Der ist Heiler. Mit dem muss eure Kleine nur einmal reden, dann geht’s der wieder spitze. Fahrt...