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BAUCHHIRN AN KOPFHIRN – KOMMANDOS AUS DER KÖRPERMITTE
Die Forschung liefert uns immer mehr Hinweise dafür, dass unser Darm Denken und Empfinden beeinflussen kann: Das altbekannte Bauchgefühl hat seine wissenschaftliche Bestätigung gefunden.
AUS DEM BAUCH HERAUS: IM WAHRSTEN SINN DES WORTES
Wir alle kennen es, dieses bestimmte Gefühl im Bauch – mal ist es gut, mal schlecht. Doch meist hören wir viel zu selten auf diese Botschaften. Um uns dann hinterher sagen zu müssen »Hätte ich bloß mal …«. Hätten Sie wirklich und sollten es künftig stets tun.
Denn inzwischen ist zweifelsfrei geklärt, dass da tatsächlich etwas existiert: dass nämlich das, was uns aus dem Bauch heraus mitgeteilt wird, eine anatomische Basis besitzt. Dabei handelt es sich um komplexe Verbünde von Nerven, über die Gehirn und Darm rege miteinander kommunizieren. Manche dieser Nerven haben sich zu regelrechten Autobahnen zusammengeschlossen, andere wiederum agieren in autonomen Gruppierungen. Was nun nach und nach über die Potenz dieser Nervennetzwerke ans Licht kommt, sprengt jegliche bis dato vermuteten Ausmaße.
Dabei steckt die Erforschung der Achse zwischen Bauch und Gehirn noch in den Kinderschuhen. Wir dürfen also noch auf viele weitere interessante und darunter sicherlich auch spektakuläre Erkenntnisse über unser Bauchhirn gespannt sein.
UNSER ZWEITES GEHIRN: DAS ENTERISCHE NERVENSYSTEM
Ein weitreichendes Geflecht von Nerven in der Darmregion ermöglicht die enge Zusammenarbeit zwischen Darm und Gehirn – es ist gewissermaßen die Hardware dafür. Sein Name lautet enterisches Nervensystem, abgeleitet von griechisch »énteron« für Darm, kurz ENS. Umgangssprachlich wird dieses Nervensystem auch Bauchhirn genannt. Angesichts seiner Bedeutung, die sich im Zuge der Forschungen als immer größer entpuppt, ist in der Zwischenzeit auch bereits die Rede vom »zweiten Gehirn«. Die Sparte der medizinischen Wissenschaft, die sich intensiv mit dem Bauchhirn befasst, ist übrigens die sogenannte Neurogastroenterologie – ein noch junger Zweig der Forschung. So weit vorab die Begrifflichkeiten, denn schließlich wollen Sie ja wissen, wovon hier die Rede ist. Nun also ins Detail, worum es sich beim ENS genau handelt, wie es funktioniert und welche Aufgaben es hat.
MEHR NERVENZELLEN ALS DAS RÜCKENMARK
Insgesamt umfasst das enterische Nervensystem mehr als 100 Millionen Nervenzellen. Das sind vier- bis fünfmal mehr Nervenzellen, als sie unser Gehirn und Rückenmark zu bieten haben. Das will etwas heißen, denn da sitzen schon gewaltige Mengen … Dieses riesige Netzwerk zieht sich durch den gesamten Verdauungstrakt – von der Speiseröhre bis hinunter zum Enddarm. Angesiedelt ist es als dünne Schicht zwischen den Muskeln in der Wand unserer Verdauungsorgane.
Gemeinsam mit dem Sympathikus und dem Parasympathikus bildet das ENS das sogenannte vegetative Nervensystem (siehe >). So ist es auch über den sogenannten Vagusnerv mit dem Gehirn verbunden; ihn nehmen wir uns gleich noch genauer vor (siehe >).
Zugleich ist das ENS auch Teil des peripheren Nervensystems – jenes Nervensystems, das außerhalb des Schädels und des Wirbelkanals liegt. Dieses ist klar abgegrenzt vom zentralen Nervensystem (ZNS), welches das Gehirn in unserem Kopf und das Rückenmark umfasst. Gemeinsam mit dem Immunsystem gilt das enterische Nervensystem heute als die wichtigste Informationszentrale unseres Körpers.
KOPIE DES KOPFHIRNS
Eine ganze Reihe von Neurogastroenterologen ist inzwischen zu der Auffassung gekommen, dass das Bauchhirn genau genommen eine Kopie unseres Gehirns im Kopf darstellt. Dafür sprechen einige Befunde. So sind die einzelnen Typen von Nervenzellen und Rezeptoren, die Andockstellen für Hormone und andere Boten, im Nervensystem des Bauchs identisch mit denen des Gehirns. Zudem benutzen beide Gehirne die gleichen Botenstoffe zur Kommunikation. Dazu gehören unter anderem die zwei Neurotransmitter Serotonin und Dopamin (siehe >). Des Weiteren existiert eine direkte Verbindung über einen Nervenstrang zur Großhirnrinde – und damit auch zum Emotionszentrum im Gehirn, dem limbischen System.
Das enterische Nervensystem verfügt demnach sowohl auf chemischer Ebene, nämlich mit den Botenstoffen, als auch auf neuronaler Ebene, was die Nervenzellen angeht, über starke Ähnlichkeiten mit dem Kopfgehirn: Es gleicht ihm also neurochemisch, wie die Wissenschaft das nennt. Interessanterweise ist das ENS, wenn man sich die Evolution von uns Menschen ansieht, älter.
WIE SICH DAS BAUCHHIRN ENTWICKELT HAT
Das Nervensystem des Darms ist aus evolutionärer Sicht sehr alt, älter als das Gehirn in unserem Schädel. Eng verwandt von seinem Aufbau her ist das ENS übrigens mit dem Nervenstrang, der sich zentral durch den Bauch eines Regenwurms zieht. Die Evolution hat das ursprüngliche Darmnervensystem bis zu uns, dem Homo sapiens, beibehalten. Ganz offensichtlich war es für unsere Entwicklung sehr viel sinnvoller, die Aktivitäten im Verdauungstrakt nicht von der Schaltzentrale im Kopf aus zu steuern, sondern direkt an Ort und Stelle – nämlich im Bauchhirn. Es wäre viel zu aufwendig gewesen, dies alles über endlos lange Nervenbahnen vom Kopfhirn her zu regeln. Sieht man sich an, was das ENS alles macht, wird klar, dass alles andere eine Fehlentscheidung der Evolution gewesen wäre.
Das vegetative Nervensystem steuert alle Funktionen, die wir nicht willentlich beeinflussen können, unter anderem den Herzschlag sowie sämtliche Aktivitäten unserer Verdauung.
Innerhalb dieses Nervensystems gibt es zwei Antagonisten oder Gegenspieler: den Sympathikus und den Parasympathikus. Ersterer regt an und aktiviert Abläufe in unserem Körper. Der Zweite im Bunde beruhigt und reguliert Reaktionen herunter.
Das ausgeglichene Zusammenspiel dieser beiden Akteure ist sehr wichtig. Sobald einer von ihnen zu stark dominiert, entgleist das ganze System, und es kann zu den sogenannten vegetativen Störungen kommen.
Das enterische Nervensystem sendet nicht nur Informationen über den Verdauungstrakt an das Gehirn. Auch andere Organe im Bauchraum, wie etwa die Bauchspeicheldrüse oder die Gallenblase, sind in die Berichterstattung mit eingeschlossen.
Bei der Entwicklung des Embryos im Mutterleib entsteht das Nervenzentrum im Darm aus demselben Gewebe wie das im Kopf.
DIE AUFGABEN DES ENS
Eines und etwas sehr Wichtiges gleich vorab: Das Bauchhirn agiert vollkommen autonom. Das heißt, es trifft ganz selbstständig alle für den Darm wichtigen Entscheidungen – und das permanent, Sekunde für Sekunde.
Die beiden Hauptaufgaben des ENS sind es, die Darmmotorik zu koordinieren und die ordnungsgemäßen Abläufe der Verdauung zu sichern. Damit bestimmt es auch über Regelmäßigkeit und Beschaffenheit des Stuhlgangs.
Um diese Jobs zu erfüllen, »erfühlen« die Sensoren der Nervenzellen des ENS akribisch, was wo vor sich geht. Wie viele von welchen Darmbakterien gerade vor Ort sind und welche Stoffe sie ausscheiden. Darüber hinaus analysieren sie die Nährstoffzusammensetzung, indem sie prüfen, was gerade chemisch im Nahrungsbrei vor sich geht. Entsprechend bestimmt das Bauchhirn, was in unseren Körper aufgenommen werden soll und was dagegen weiter in Richtung Enddarm zu seiner Ausscheidung wandert. Dafür sendet es sowohl erregende als auch hemmende Impulse an die Muskulatur im Magen-Darm-Trakt. Auf diese Weise steuert das ENS den Transport des Nahrungsbreis mithilfe der Peristaltik auf seinem langen Weg durch unser Verdauungssystem (siehe >). Zudem passt es dafür den Blutfluss je nach Bedarf an.
Die Informationen für all diese Vorgänge werden an allen Stellen des Verdauungstraktes gesammelt – selbst an den entlegensten Winkeln der kleinsten Dünndarmschlinge. Wenn wir uns vor Augen führen, wie enorm groß die Oberfläche der Schleimhaut allein des Dünndarms ist (siehe >), wird sofort klar: Das ist eine Herkulesaufgabe. Deshalb hat das ENS auch Millionen von Nervenzellen rund um die Uhr im Einsatz. ...