Als Gott eine Frau war
Glaubt man den Archäologen, dann stellt der Löwenmensch ein Maskulinum dar. Die jüngst gefundenen und an der Statuette ergänzten Bruchstücke legen wie erwähnt diese Vermutung nahe. An der Vormachtstellung des ewig Weiblichen in der Altsteinzeit ändert das nichts. Das bezeugen kleine weibliche Plastiken, die als Venusfigurinen bezeichnet werden. Sie stellen ein urgeschichtliches Rätsel dar.
Bisher sind rund 200 Fundorte bekannt, die von Westeuropa bis ins Tausende Kilometer entfernte Sibirien reichen. Es gibt zudem zwei bekannte Sonderfälle, die wegen ihres hohen Alters aus dem Rahmen fallen. Der eine ist die 3,5 cm große „Venus von Berekhat Ram“, die 1981 von der israelischen Archäologin Naama Goren-Inbar in einer vulkanischen Schicht in Syrien entdeckt wurde. Das gute Stück ist aus rotem Tuff, lag neben Steinwerkzeugen und ähnelt einer Frauenfigur mit Kopf, Armen und Brüsten. Mikroskopische Analysen konnten bestätigen, dass der Stein von einem frühen Urmenschen mit Werkzeugen bearbeitet wurde. Das Mysteriöse: Das Kunstwerk ist laut den Untersuchungen mindestens 230.000 Jahre alt und könnte vielleicht sogar 800.000 Jahre auf dem Buckel haben. Die handwerkliche Fähigkeit, solche Artefakte herzustellen, trauen Anthropologen nur dem Homo sapiens zu. Wenn die Datierungen stimmen, wäre die Statuette bereits ein Produkt des Homo erectus, dem Vorläufer des Neandertalers! Oder der Homo sapiens ist älter als bisher angenommen und drang bereits früher in Gebiete vor, als die Lehrmeinung behauptet.
Links: die Venus von Tan-Tan
Rechts: wertvollster Schatz im Naturhistorischen Museum Wien: die Venus von Willendorf
Die andere Dame, die für Fassungslosigkeit unter Archäologen sorgt, wird „Venus von Tan-Tan“ genannt. Sie wurde 1999 in 15 Metern Tiefe unter der erodierten Oberfläche beim Fluss Draa in Marokko ausgegraben. Der Fund besteht aus Quarzit, ist sechs Zentimeter groß, hat klar ersichtliche Arme und Beine. Nur bei der Festlegung des Geschlechts hat der Betrachter Mühe. Farbpartikel, die auf der Steinfigur hinterlassen wurden, lassen darauf schließen, dass sie ursprünglich übermalt war. Umso drastischer ist auch hier der zeitliche Unterschied: Die Entstehungsepoche der „Venus von Tan-Tan“ muss vor 300.000 bis 500.000 Jahren gewesen sein! Beide Stücke könnten somit die ältesten bekannten Kunstwerke menschlich geformter Figuren sein. Doch die Mehrheit der Wissenschaftsgemeinde ziert sich, will des hohen Alters wegen die Funde nicht als Artefakte anerkennen. Sie erklären das Unerklärliche als „Pseudoartefakte“ oder „zufällige Spiele der Natur“.
Im Alter wesentlich geringer, aber in der Charakteristik vollendeter und wissenschaftlich als Werke des Homo sapiens anerkannt sind die Venusfigurinen im Alpenraum. Die niederösterreichische „Venus von Willendorf“ ist das wohl berühmteste Modell. Am 7. August 1908 kam sie bei Bauarbeiten in der Wachau zum Vorschein. Die nackte Frauenfigur besteht aus Kalkstein, ist 11 cm hoch und trägt eine eigenwillige Frisur oder Kopfbedeckung. Statt einem Gesicht sind konzentrische, waagrechte Linien rund ums Haupt modelliert. Die Arme sind hauchdünn gestaltet, während Gesäß und Brüste üppig hervorgehoben sind. Man kann es nicht verleugnen, die Willendorfer Lady ist ein altsteinzeitliches Busenwunder. Farbreste zeigen, dass die üppige Buhlschaft einst in rötlichem Ocker strahlte.
Weitere plumpere Figurinen aus Willendorf. Unfertige Relikte?
Venus vom Hohle Fels aus verschiedenen Perspektiven
Ihr Alter wird seit den 1950er-Jahren mit 25.000 Jahren angeführt, doch das Prachtweib ist älter als gedacht. Das bestätigten neue Analysen der Forscher Philip Nigst von der Universität Cambridge und Bence Viola vom Max-Planck-Institut für Anthropologie in Leipzig. Demnach ist die „Venus von Willendorf“ bereits vor 29.500 Jahren hergestellt worden. In diesem Zusammenhang interessant: Es existieren etwa 25.000 Jahre alte russische Venusfigurinen aus Awdejewo, Kostjonki und Gagarino, die in Größe, Alter und Aussehen der Willendorfer Frauenfigur verblüffend ähneln. Exemplare entdeckt man im Kunstmuseum Eremitage in St. Petersburg oder als Replik in westeuropäischen naturkundlichen Sammlungen.
Wesentlich älter ist die 1988 in Stratzing bei Krems entdeckte „Venus vom Galgenberg“, auch „Fanny von Stratzing“ genannt. Ihr Fundort im Waldviertel liegt nur 25 Kilometer von Willendorf entfernt. Die 7,2 cm große Reliefplastik wurde vor 36.000 Jahren aus türkis-glänzendem Schiefer gefertigt. Sie ist damit das älteste bekannte Kunstobjekt Österreichs. Ihre Körperhaltung ist außergewöhnlich: Ein Arm ist nach oben gerichtet und der Oberkörper scheint eine leichte Pirouette anzudeuten. So wird der Eindruck einer dynamischen Bewegung vermittelt, weshalb ihr das Grabungsteam den Kosenamen „Fanny“ verlieh. Nicht zufällig: Die bekannteste österreichische Tänzerin des 19. Jahrhunderts hieß Fanny Elßler (1810 – 1884). Ob die Statuette aber wirklich weiblich ist, kommt auf die Sichtweise des Betrachters an. Es gibt Prähistoriker, die in der „Venus“ eher einen Jäger mit Keule erkennen.
Weniger bekannt ist, dass am selben Ort noch zwei andere, möglicherweise unvollendete Frauenstatuetten entdeckt wurden. Beide sind aus dem Stoßzahn eines Mammuts gefertigt. Die eine plumpe Figur hat eine Höhe von 22,5 cm, die andere misst 9 cm. Sie werden als „Venus II“ und „Venus III“ bezeichnet. Ihr Zuhause teilen sie mit der „Galgenberg-Fanny“ und der „Venus von Willendorf“ im Naturhistorischen Museum in Wien.
Wenn wir nach der Urmutter aller Mütter fragen, landen wir wieder in den Höhlen der Schwäbischen Alb mit den bisher ältesten entdeckten Kunstwerken der Menschheit. Am 9. September 2008 machte der erfolgsverwöhnte Grabungsleiter Nicholas J. Conard eine neue spektakuläre Entdeckung im Hohle Fels. Der Urzeitforscher stieß mit seinem Team auf künstlerisch vollendete Tierplastiken und auf eine kleine Menschenfigur aus Mammutelfenbein. Sie sorgt seither als „Venus vom Hohle Fels“ für Aufsehen, denn sie ist dem Jahrgang des Löwenmenschen zuzuordnen. Mit 40.000 Jahren ist sie ein echtes „Golden Girl“, auch wenn ihre Größe von 6 Zentimetern im Vergleich zum Löwenmenschen bescheiden wirkt. Ihre zur Schau gestellte Weiblichkeit mit überdimensionierten Brüsten und stark vergrößerter Vulva ist eindeutig zweideutig. Details im Brustbereich und oberhalb des Bauches erstaunen: eingravierte konzentrische Linien. Ob Tätowierungen, Bänder, Kleidungsstück oder eine Art eiszeitlicher Büstenhalter, bleibt der Fantasie überlassen. Was noch überrascht: Der Kopf fehlt. Stattdessen gibt es im Halsbereich eine Öse, die vermuten lässt, dass die Figurine als Amulett getragen wurde. Oder, was freilich eine noch größere Sensation wäre: Es gab ein bewegliches Kopfstück, das am Hals der Figur befestigt war. 2015 wurde ein neues Fundstück aus dem Hohle Fels präsentiert. Es ist wiederum der Torso einer weiblichen Figurine.
Der Zweck dieser und all der anderen Frauenplastiken ist ungeklärt. Die Deutungsversuche reichen von Fruchtbarkeitssymbol über Lebensspenderin und Muttergottheit bis hin zu Ahnendarstellung. Waren die Venusfiguren Abbildungen realer Frauen der Altsteinzeit? Der Inbegriff einer früheren matriarchalischen Gesellschaftsstruktur? Oder urzeitliche Pin-ups als Ausdruck männlicher Wünsche und Sehnsüchte? Fragen, die bis heute unter Fachgelehrten kontrovers diskutiert werden.
Das wirklich Erstaunliche: Die Huldigung der Muttergottheiten lässt sich bis in jüngere Epochen der Vorzeit und der Antike zurückverfolgen. Der Mutterkult schließt auch Mythen über Himmels-, Erd- und Fruchtbarkeitsgöttinnen mit ein. Im Alpenraum weit verbreitet sind Quellheiligtümer, die mit prähistorischen Göttinnen wie Raetia und Noreia verbunden werden. Viele christliche Gotteshäuser sind über oder in unmittelbarer Nähe prähistorischer Heiligtümer errichtet worden, dort, wo einst weibliche Gottheiten verehrt wurden. Besonders auffällig ist das in der Nähe von Leibnitz auf dem Frauenberg (Nomen est omen) in der Südsteiermark, wo neben der Wallfahrtskirche die Fundamente eines Isis-Noreia-Tempels freigelegt wurden. Und wo bleibt die sprichwörtliche Männlichkeit?
Im eiszeitlichen Weiler der Region Donau-Schwäbisch-Alb genossen offenbar beide Urzeitgeschlechter gleichberechtigte Verehrung. Der Mann in Gestalt des anmutigen großgewachsenen Löwenmenschen vom Hohlenstein-Stadel und einen Katzensprung entfernt die Frau in Form der kleinen dicken Venus vom Hohle Fels. Ein Bild für Götter – wie im biblischen Garten Eden mit dem ersten Menschenpaar Adam und Eva. Über 40 Jahrtausende trotzten sie gemeinsam allen Weltkatastrophen, gingen quasi durch dick und dünn und retteten sich hinüber ins Cyberspace-Zeitalter. Das verdient Bewunderung, Respekt und Anerkennung. Die gibt es seit 9. Juli 2017 ganz offiziell: Der Löwenmensch, die „Hohle-Fels-Venus“ und ihr Gefolge aus sechs schwäbischen „Höhlen der ältesten Eiszeitkunst“ wurden in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen!
Das Vermächtnis...