Keine Bananen, nur Kuba-Orangen
Eine unruhige Nacht, viel zu kurz, um ausgeschlafen zu sein. Nach dem Aufwachen der erste Tiefschlag im Urlaub. Es donnert gewaltig im Bauch und gibt einen durchschlagenden Erfolg. Bevor ich eine Stunde darauf abreise, gleich noch einmal. Das hat mir noch gefehlt! Vor der dreistündigen Busfahrt nach Viñales begleitet mich nun auch noch Flitze-Piepe. Mühsam schleppe ich mich zum Hotel „Inglaterra“, vor dem bereits einige Leute warten, darunter auch eine junge, äußerst attraktive Frau, deren Stimme wie Balsam in meine Ohren gleitet. Meint sie mich? Überrascht der netten Klänge halte ich inne, verstehe jedoch nichts. Sie wiederholt in Spanisch, Englisch, Französisch. Unerwartet die Erinnerung an Frank. So viele Sprachen! „German?“ Ihr offenes Lachen verwirrt die Sinne. Wann der Bus kommt, wollte sie wissen und erzählt, sie reise seit zwei Monaten durch Südamerika. „Davor war ich für ein Praktikum in Argentinien.“ Blieb etwa Franks Geist in Kuba zurück? Ihre Augen blitzen, am Morgenhimmel leuchtet ein heller Stern. Nur wenige Worte kann ich erwidern, habe kaum Kraft, meinen Rucksack zu schultern. Sie fährt jetzt nach Trinidad, leider in die andere Richtung. „Aber deine Reise führt dich auch noch dahin, oder?“ Ich will mich so gerne mit ihr unterhalten, eine Antwort geben, eine Reisebekanntschaft knüpfen, doch ich nicke nur kurz und renne dann los.
Beim Einsteigen gibt die Busbegleiterin zu verstehen, dass wir unterwegs mehrmals Station machen und unter anderem eine Rumfabrik anschauen. Auch das noch, blicke ich starr vor mich hin, wische den Sud von der Nase. Sobald der Bus losfährt, schwillt das Gegrummel im Bauch erneut entsetzlich an. So viel kann doch gar nicht mehr raus! Wir kreuzen quer durch Havanna und sammeln an verschiedenen Hotels weitere Urlauber ein. Das kann was werden, versuche ich mit vollster Anstrengung, alles in mir zu behalten. Den Mageninhalt übergab ich eben fast vollständig der Hotel-Toilette, atme ganz flach und schlucke alles runter was hoch kommen will. Der beginnende Tag hat es offensichtlich nicht gut gemeint.
Das Geschaukel im Bus wird unerträglich. Bevor es aus den Ohren quillt, stürze ich auf das Bord-Klo, kann im Dunkeln nur erahnen, wo der Schwall hingeht. Niedergeschlagen versinke ich wieder im Kunstledersitz. Von der Rumfabrik und den Fotohalten bekomme ich nichts mit, zu sehr bin ich mit mir beschäftigt. Wie lange denn noch? Ich kann nicht mehr! Ich will hier endlich raus!
In Viñales angekommen, habe ich auch nur Augen für eine Unterkunft, lasse mich auf die erste ein, bis eine Frau ein Schild mit meinem Namen hochhält. Stimmt ja, ich soll hier abgeholt werden, pocht es schwer im Hinterkopf.
Eine kurze Fahrt mit dem Wagen zu einem Gartenhaus, einfach und klein mit schmaler Terrasse. Hier wohnen drei Generationen, neben der Mutter, die mich abholte auch Großmutter und Tochter. Ein klassischer Drei-Mädels-Haushalt. Die Sechsjährige blickt aus riesigen Augen, versteckt sich hinter der Mama, während die Oma mich überhaupt nicht wahrnimmt, mich bestenfalls ignoriert. In der „Casa el Mirelia“ will ich nur noch ins Bett und ausruhen, kann der Vemieterin bruchstückhaft zu verstehen geben, dass ich Durchfall habe. Sie reicht mir eine Suppe und Kräutertee, versucht zu lachen und macht dabei ein so grimmiges Gesicht - wie eine Mathelehrerin vor der Abschlussklausur. Mit tiefer Stimme sagt sie etwas, das unfreundlich klingt und für mich unverstanden bleibt, hebt dazu barsch die Hand und deutet mehrfach auf die Tür. Was immer sie auch meint, ich verstehe es nicht. Nur eines wird schnell klar: Als Krankenschwester will ich sie nicht haben, soviel ist sicher.
Auf bisherigen Reisen hatte ich nie Durchfall oder musste Erbrechen, Halbverdautes schoss mir nie aus dem Gesicht, sieht man mal von einigen Nächten mit gewissen Alkoholexzessen ab. Das war in jungen Jahren, lange her. Heute liege ich jedoch in einem kleinen Zimmer in Kuba, starre auf eine kahle Wand mit kleinem Holzkruzifix und verfluche einen Gott, an den ich nicht glaube. Womit habe ich das verdient? Was habe ich der Welt um Vinales getan, dass ich so abstürze? Die Welt dreht sich weiter und in mir dreht sich alles. Den Rest des Tages verbringe ich schlafend im Bett, stehe nur auf, um mir die Kloschüssel genauer zu betrachten. Ein Tag, den es so besser nicht gegeben hätte.
War ich gestern Abend zu müde, um nach Ohropax zu kramen, treibt mich das Hundegebell in der Nacht fast zum Wahnsinn. Von links, von rechts, von allen Seiten her Hundekläffen. Dazu rumort noch etwas der Bauch, an Entspannung und Ruhe ist nicht zu denken. Erschöpft von den gestrigen Strapazen und der stressigen Nacht sitze ich bis zum Mittag auf der Veranda im Schaukelstuhl, lese im Reiseführer und plane die nächsten Tage. Wenn ich mich nur nicht so schwach fühlen würde.
Wo soll es hingehen? Was will ich sehen, was kann ich mir leisten? Außer dem Abflugtermin und dass die Reise in Havanna endet, stehen mir alle Wege offen. Der erste davon soll mich heute zu einer Sparkasse führen, denn ich benötige dafür Geld. Viel mehr Geld. Als ich kurz nach drei vor der örtlichen Bank stehe, weist mich ein graumelierter Mann kurzerhand ab, es sei bereits geschlossen. Und das, er blickt zur Uhr, seit genau fünf Minuten. Nun gut, akzeptiere ich die Realität, dann wird es eben ein kostenloser Spaziergang durch das sonnige Viñales. Durchzogen von lang gestreckten Straßen, kleinen, einstöckigen Häusern aus Lehmziegeln, gibt es noch weniger Autos als in Havanna und neben ein paar Einheimischen kreuzen immer wieder Touristen den Weg. Aus einem Café vernehme ich deutsche Worte, sehe einen tätowierten Mittdreißiger vor einem Mojito, wie er eine fette Zigarre in der Hand hält. Allein der Gedanke daran beschleunigt schon wieder meine Schritte.
Neugierig nach Leben beobachte ich das Geschehen auf der Straße und sehe den streunenden Hunden nach. Sicherlich sind es jene, die nachts auch nicht schlafen konnten, aus welchen Gründen auch immer. Große Hunde, kleine, alle Farben bunt gemischt. Reinrassig ist hier nichts mehr. Schon gar nicht der rosa (!) farbene Hund, der hungrig in der Sonne liegt. Ich belustige mich bei dem Gedanken, ob so vielleicht ein schwuler Hund aussieht und muss bei näherem Hinsehen feststellen, dass er kaum noch Fell hat. Unzählige Bisswunden zeugen von den Spuren eines Hundelebens und dem ewigen Kampf ums Überleben. Die Tierwelt unterscheidet sich da nicht all zu sehr von der Menschheit. Oder umgedreht. Es gibt Hierarchien und Rangordnungen und durchsetzen wird sich der Stärkere. Den Unterschied macht einzig die geistige, kulturelle und soziale Entwicklung der Menschen. Aufbauend auf der Erkenntnis des eigenen Ichs, haben unsere Vorfahren im Laufe der Evolution verschiedene Glaubensrichtungen und Gesellschaftsstrukturen ersonnen, um den Fortbestand der Art zu sichern. Letztlich geht es dabei immer um Macht und Herrschaft. Über den Nachbarn im Einzelnen, über die Gesellschaft im Ganzen. Wir unterdrückten ganze Völker und beuteten Arbeiter bis zum Tode aus, führten Kriege und zerstörten ganze Existenzen. Wirklich frei und glücklich können sich wohl nur diejenigen fühlen, denen es an nichts mangelt, die ihr Leben akzeptieren und sich mit den Gegebenheiten arrangieren, die sie selbst nicht ändern können. Gemessen an Gesundheit, Lebenserwartung, Arbeits- und Familienleben leben die glücklichsten Menschen in Costa Rica. Wie bitte? Was sagte ich? Costa Rica? Bis eben war mir gar nicht bewusst, dass der mittelamerikanische Staat als El Dorado oder Schlaraffenland gilt. Warum nicht Deutschland? Ein Land mit höchstem Fortschritt rangiert erst auf Platz 51 auf dem Glücklichkeits-Index2. Doch eine Statistik ist nur so gut wie von dir selbst gefälscht. Dank zufriedener Bürger, einer hohen Lebenserwartung, Gesundheitsvorsorge und einem relativ niedrigen „ökologischen Fußabdruck“3 stehen die mittelamerikanischen Länder weit oben. In den Top Ten reiht sich auch Kuba ein, das mit der Revolution 1959 ein korruptes System abschaffte, sich dann aber auf den Weg zu einem totalitären Staat machte. Es liegt an der Gesellschaft und es muss an den Menschen liegen. „The more you change yourself, the more you change the others!” Da sind wir der Tierwelt wieder ein Stückchen voraus, im entsprechenden System kann auch der körperlich Schwächere der Glücklichere sein. Ein vorbeifahrender Traktor hinterlässt eine riesige Staubwolke. Auf der anderen Straßenseite knurren zwei Hunde, balgen um ihre Rangordnung, bis einer bald das Weite sucht. Übrig bleibt ein zerbissener Hund, der nun nachts noch lauter bellt.
Wie im Trance wandel ich weiter durch einen verschlafenen Ort, der inmitten einer Landidylle liegt, die aussieht wie am ersten Schöpfungstag. Unwirklich, wie aus einem Traum, ergießt sich über einem das Gefühl, als sei man in einem früheren Leben bereits hier gewesen. Die Gegend um Pinar del Rio, das sagte bereits die Busbegleiterin, sei die ideale Gegend für Tabakanbau und die edelsten Zigarren stammen von hier. Ganz gleich ob Cohiba, Montechristo oder eine echte Havanna. Für den Zigarrenliebhaber schlägt hier das...