Wege aus dem Scheitern
Eines Tages wusste Ele, dass sie jetzt alles ändern würde. Es hatte eine Zeit gebraucht, eine Weile in ihr gegärt, aber dann stand er ihr klar und deutlich vor Augen, der Entschluss. Oder genauer vor Ohren: »Knack« und er war da, so beschreibt sie ihre Wandlung. Plötzlich ist es in ihrem Leben hell. Sie weiß jetzt, was zu tun ist, wie es weitergehen soll. Sie hört mit dem Rauchen auf, hängt ihren Job an den Nagel und schließt mit ihrer Beziehung ab. Alles, was ihr im Alltag seit langem zur Gewohnheit geworden war, lässt sie auf einen Schlag hinter sich, jedenfalls gedanklich. Denn tatsächlich braucht es Zeit, bis sie ihren radikalen Entschluss in die Tat umgesetzt hat. Ab jetzt lebt Ele als Muslimin.
Doch in diesem Moment, als ihre Entscheidung fällt, steht sie vor dem Nichts und fühlt sich wirklich glücklich, vielleicht zum allerersten Mal in ihrem Leben. Es ist genau dieses Nichts, das ihr das unglaubliche Gefühl von Freiheit verschafft, das Gefühl, neu geboren zu sein. Sie kann ganz neu anfangen und all die Fehler, Laster und schlechten Angewohnheiten einfach hinter sich lassen. Das Nichts bedeutet für sie vor allem, dass nichts mehr zwischen ihr und Allah steht und dass nun Platz ist für Sinn, mit dem sie ihr leeres Leben füllen kann. Ele will sich so genau wie möglich nach Koran und Sunna, der für Muslime vorbildlichen Lebensweise des Propheten, richten und auf diese Weise ein anständiges Leben führen. Ab jetzt nimmt sie ihr Schicksal selbstbestimmt in die Hand.
Jedenfalls sieht sie es selbst so. Aus ihrem Umfeld hingegen haben viele kein Verständnis für ihren Sinneswandel und die Radikalität, mit der sie plötzlich Entscheidungen für sich trifft. Ob sie damit glücklich ist oder nicht, spielt keine Rolle. Warum will sie sich freiwillig einer Religion unterordnen, die Frauen unterdrückt? Warum verdeckt sie ihr schönes Haar mit einem Kopftuch, obwohl sie gar nicht aus dem muslimischen Kulturkreis kommt?
Noch mehr Unverständnis aber begegnet ihr auf der Straße. Sie merkt ganz deutlich, wie sich etwas verändert hat, seit sie offen als Muslimin in der Öffentlichkeit unterwegs ist, wie sie als Fremde wahrgenommen wird. Das ist ihr früher nicht aufgefallen. Ele denkt, dass viele in ihr nichts anderes als eine konvertierte Muslimin sehen und dafür kein Verständnis haben. Dass sie aus diesem Grund oft eisige Blicke erntet, wenn sie verschleiert unterwegs ist. Und das, obwohl sie in einem Bezirk wohnt, der eigentlich von Vielfalt geprägt ist, wo Kopftuch tragende Frauen zum Straßenbild gehören. Im Kleinen erlebt sie fast jeden Tag, was Leute, die sich selbst als urdeutsch empfinden, von Musliminnen halten. Plötzlich geben sich überall Feministinnen zu erkennen, die unterdrückte Kopftuchträgerinnen befreien wollen.
Da war zum Beispiel diese Situation bei Karstadt in der Stoffabteilung. Eine Frau mit Kopftuch zeigt einer hinter ihr an der Kasse stehenden älteren Dame ihren Stoff und erklärt, dass der ihrem Mann so gut gefalle. Gleich mischt sich die Kassiererin ein: »Den sollten Sie aber kaufen, weil er Ihnen gefällt, nicht Ihrem Mann!« Dafür hat auch die ältere Dame ohne muslimischen Hintergrund kein Verständnis. Was denn verwerflich daran sei, dem eigenen Mann gefallen zu wollen, fragt sie kopfschüttelnd. Ob das denn nicht alle Frauen wollten?
Ele erlebt oft solche Situationen, seit sie sich in der Öffentlichkeit als Muslimin zu erkennen gibt. Weil es Jihadisten wie Cuspert und ihre zahllosen Biografen gibt, hat sie ständig mit Vorurteilen zu kämpfen, besonders seit den Anschlägen in Paris 2015 und der Kölner Silvesternacht im selben Jahr, denn beide Ereignisse werden in der Logik des Ressentiments mit »dem islamischen Kulturkreis« verbunden. Trotzdem hat sie sich ganz bewusst dafür entschieden, ihren Glauben offen zu leben und zu zeigen. Auch das ist neu an ihr, eigentlich war sie nie ein besonders gefestigter und geradliniger Mensch. Dafür hatte sie zu wenig Selbstbewusstsein. Obwohl sie manchmal auf viel Widerstand trifft, wenn sie mit ihrem Kopftuch unterwegs ist, reagiert sie so gelassen wie möglich auf ablehnendes oder aggressives Verhalten. »Der Islam gibt dir inneren Frieden«, sagt sie. Doch manchmal kann sie nicht an sich halten. »Ich spreche deutsch und ich bin frei«, schleudert sie ihrem erstaunten Gegenüber dann entgegen, wenn ein blöder Spruch kommt.
Ele fühlt sich vom Gros der Gesellschaft oft stigmatisiert, gerade als deutsche Konvertitin werde sie als Verräterin abgestempelt. »Du bist eigentlich deutsch, lebst in einem christlichen Land. Du bist dann eine Verräterin, die ihrem Mann hinterher rennt und deswegen ein Kopftuch anzieht«, gibt sie ihre Erfahrungen wider. »Als Deutsche bist du noch schlimmer als die Muslime«.
Was Ele oft zu schaffen macht, ist diese »Härte im Blick. Gerade von älteren Damen. Einfach dieser Blick«. »Wenn die Leute böse gucken, gucke ich trotzdem nett zurück. Manchmal merkst du dann auch, wie dieser Vorhang fällt. Dann gucken sie auch wieder höflich. Aber es ist diese erste Angst, die sie haben. Wahrscheinlich haben sie vorher in einer Boulevardzeitung gelesen ›Terroranschlag da und da‹ und da ist wieder eine mit Kopftuch oder da ist einer mit Bart oder einfach nur dunkel. Das ist definitiv mehr geworden«, beschreibt Ele, was des Öfteren ihren Alltag bestimmt. Das geht so weit, dass die junge Frau manchmal Angst hat, wenn sie unterwegs ist: »Gerade mit Kindern muss man einfach aufpassen, wo man langgeht und auch um welche Zeit«. Das diffuse Gefühl der Bedrohung macht ihr zu schaffen. »Ich würde mit meinen Kindern nicht abends noch rausgehen, weil ich das Gefühl habe, dass dann noch mehr aggressives Potenzial da ist, gerade in Gegenden mit hohem Ausländeranteil«, erklärt sie.
Armut im Überfluss
Denis Cuspert und Ele Shah haben viel gemeinsam, mehr, als der konvertierten Muslimin lieb sein kann. Eine Kindheit am Rand der Gesellschaft, schwierige Familienverhältnisse, Drogen – das kennt Ele auch. In West-Berlin gab es in den Achtziger Jahren viele Familien, die vom Wirtschaftswunder der Bundesrepublik profitierten und richtig wohlhabend waren. Zwei Jobs, zwei Autos, zweimal im Jahr Urlaub war in der Mittelschicht normal. Neben dieser Normalität gab es aber auch Armut, meistens in Familien mit arbeitslosem Vater. Oder in Familien ohne Vater. Das hatte Denis Cuspert erlebt und auch Ele wurde so groß. Es gab Bezirke, in denen sich die Armut eher konzentrierte als in anderen. In Moabit wuchs Ele auf, einem Stadtteil, der bis Anfang der Zweitausender Jahre wie Cusperts Kreuzberg zu den Problemkiezen zählte. Als eines von fünf Kindern einer alleinerziehenden Mutter kam Ele aus armen Verhältnissen. »Vom unteren Rand der Gesellschaft«, wie sie selbst sagt. Sie weiß, wie es ist, kein Geld zu haben, aber ständig Dinge zu sehen, die man gerne hätte. Vielleicht wäre das alles nicht so schlimm gewesen, wenn Ele immer in ihrem Kiez, unter Gleichgesinnten, geblieben wäre.
Spätestens auf dem Gymnasium aber traten die Parallelwelten deutlich hervor. Die Familie lebte von Sozialhilfe, weil die Mutter mit ihren fünf Kindern nicht mehr arbeiten konnte. Auf Unterstützung von den Großeltern, von der weiteren Verwandtschaft oder von Freunden konnte Eles Mutter nicht setzen. Das hieß für die Kinder vor allem eines: funktionieren müssen. Von klein auf mussten sie sich selbst und gegenseitig versorgen, Verantwortung übernehmen und die Abläufe einhalten. Entfaltung der Persönlichkeit, Selbstfindung, eigene Wünsche, alles Begriffe, die Ele erst später lernte, denn dafür war kein Raum in ihrer Kindheit. Vielmehr ging es darum, Lösungen für ganz praktische Fragen zu finden, die sich Menschen ohne Geld täglich stellen. Wie bezahlen wir die nächsten Schulbücher? Wie die nächsten Schulausflüge? Wo kann man sich eventuell etwas leihen, welche Anträge stellen, wie beim Essen sparen?
Für jede Klassenfahrt musste eine Kostenübernahme durch das Amt beantragt werden, jedes Kleidungsstück getragen werden, bis es auseinander fiel. Kamen die anderen Kinder in der Klasse aus den Ferien zurück und unterhielten sich über die Reisen, die sie mit ihren Eltern unternommen hatten, war Ele außen vor. Einen Urlaub konnte sich die Familie niemals leisten. Auch in Sachen Markenklamotten konnte sie in ihrer abgetragenen Kleidung von C&A nicht mithalten: »Die Unterschiede waren, dass ich Klamotten von der Stange von C&A hatte, während die anderen Klamotten von der Stange vom KaDeWe hatten«, vergleicht Ele den Unterschied, der ihr heute nicht mehr so groß vorkommt. Früher aber lagen Welten zwischen dem Outfit der Schülerin und dem ihrer Mitschüler.
Eigentlich legte sie gar keinen großen Wert auf Kleidung, selbst wenn sie es sich hätte leisten können. Aber ihr war natürlich klar, dass das markenbewusste Outfit für das soziale Standing unabdingbar und für manche Freundschaft ausschlaggebender war als Loyalität, Ehrlichkeit oder Respekt. Dinge, die Ele hingegen sehr wichtig waren und die sie oft vermisste. Wer zu einer coolen Clique auf dem Schulhof gehören wollte, musste sich dem Diktat der Oberflächlichkeit fügen und jede neue Mode mitmachen, so empfand es die Jugendliche damals. Worüber viele Kinder zu der Zeit gar nicht nachdenken mussten, das wurde für Ele zum ständigen Thema. »Deshalb fühlte ich mich oft nicht wohl in meiner Kleidung«, so Ele.
Obwohl sie immer in einer der Schulhofcliquen dabei stand und keine Außenseiterin war, fühlte sie sich ausgeschlossen, als würde sie nicht dazugehören und irgendwie nicht richtig teilhaben an der Gesellschaft. Und das, obwohl sie eigentlich viele Freunde hatte. »Ich bin immer anders gewesen. Und dadurch irgendwie nie ich selbst«,...