Prolog
Eigentlich glaubten wir selbst nie so recht daran, dass wir eines Tages tatsächlich mit unseren Rucksäcken am Stacheldrahtzaun der Grenze zwischen Mexiko und den USA stehen würden. Was hatten wir uns bloß gedacht, als wir beschlossen, auf dem 4.277 km langen Pacific Crest Trail zu wandern, der hier an der staubigen, buschüberzogenen Staatsgrenze beginnt und sich bis Kanada hochzieht. Fünf Monate Regen, Schneegestöber, unter der sengenden Wüstensonne oder im Zelt. Fünf Millionen Schritte durch Sand, Matsch und Eis, über scharfes Lavagestein, üppig grüne Wiesen, vergletscherte Bergflanken und durch reißende Hochgebirgsbäche.
„Auf was lassen wir uns da ein?“, fragte ich Kathrin, als wir Geschichten von verschollenen, erschöpften und sich quälenden Hikern lasen: Verdurstet an einen Kaktus gelehnt war genauso wenig einladend wie zerquetscht unter einem Baum vorgefunden. Was wird der Trail für uns bereithalten? Schneestürme in den Laguna Mountains bis Ende April - drückende Hitze im San Felipe Tal - Wanderer sollten mit keinerlei Wasser abseits der Zivilisation rechnen - in niederschlagsreichen Jahren trifft man in den San Jacintos auf eine hüfthohe Schneedecke - Klapperschlangen machen sich normalerweise rasselnd bemerkbar, falls nicht, vermeide man den Biss der Grünen Mojave, denn sonst endet man nach sechs Stunden als Kojotenfutter.
Wie werden wir Bären, Klapperschlangen, Zecken, wütende Pumas und giftige Spinnen überlisten? Wie steht es mit unserer Kondition? Hatten wir etwa unsere Muskelpakete tagtäglich mit 200 Klimmzügen gestählt? Vielleicht waren wir mal während eines sonnigen Wochenendes 50 oder 60 km über heimatliche Hügel gewandert. Doch was hat dies mit 50 km am Tag durch Sturm und Regen, über Pässe und durch hüfthohe Gletscherflüsse des über 4.000 km langen Trails gemeinsam?
Der Pacific Crest Trail ist der längste Wanderweg der Welt, obwohl sich zum Beispiel der Continental Divide Trail oder der North County Trail über weitere Distanzen hinziehen, denn nur unser Trail ist ein zusammenhängender Wanderweg, ein ununterbrochenes Band von Mexiko bis hinauf nach Kanada. Mojavewüste, Mount Whitney, Kings Canyon und Yosemite Nationalpark, die Three Sister Vulkane und der Crater Lake liegen auf der Strecke.
Angefangen hatte es vor 70 Jahren mit Clinton Clarkes’ Vision, entlang des westlichsten Hügelzuges der USA - dem Pacific Crest - quer durch Kalifornien, Oregon und Washington einen Korridor zu schaffen, um unzählige Naturwunder miteinander zu verbinden und sie vor weiterer Zerstörung zu bewahren. Clarkes war ein Träumer, denn aus dem breiten Korridor wurde nichts. Erst 36 Jahre nach seinem Tod, im Jahr 1993, wurde der Pacific Crest National Scenic Trail, wie er in seiner ganzen Länge heißt, als schmaler Pfad vollendet.
Teils zwängt er sich unter dröhnenden Autobahnen hindurch, über wolkenkratzerhohe Staumauern oder entlang endloser Weidezäune, doch meist führt er fernab jeglicher Zivilisation durch unberührte Urwälder, einsame Gebirge und stille Täler. Nie zuvor hatten wir eine derart herausfordernde und vorbereitungsintensive Reise zu planen gehabt: Wir verschlangen jedes schrumplige Bildchen, das uns das Internet auf den Bildschirm zauberte, besuchten Leute, die sich schon vor uns auf denselben Weg gemacht hatten, um von ihren Erfahrungen zu profitieren, und lasen jede Zeile, die jemals über den Trail geschrieben wurde.
Wir studierten Dutzende Ausrüstungskataloge und versuchten aus Ausdrükken wie UPF-Wert, High-Tec-Gewebe, gedoppelte und verstärkte Gesäßpartien, Innenknöchelschützer, Function Wear, LVS-Entwicklung, Antishock-On/Off-System und Sturm-Abspannmöglichkeiten schlau zu werden. In Outdoorgeschäften glaubten wir herauszufinden, was die beste, leichteste und belastbarste Ausrüstung ist. Ein Zwei-Kilo-Zelt, dessen wenigen Mikron dünnen Wänden wir zutrauten, uns Nacht für Nacht vor Kälte, Wind und Regen zu schützen, wurde unsere Unterkunft. Kochtöpfe aus Titan, Geschirr aus Lexan, Schuhe aus unzerstörbarem Segeltuch und ein alles verbrennender Campingkocher waren nur ein Teil der Ausrüstung, die wir mit unseren alten Rucksäcken, den gebrauchten Schlafsäcken und den selbst geschneiderten Handschuhen und Balaclavas ergänzten.
Am meisten Aufwand betrieben wir mit dem Zusammenstellen des Speiseplanes. Neunundzwanzig Versorgungspakete wollten wir uns gestaffelt zusenden lassen. Von Leckereien wie getrocknetem Fleisch, Kartoffeln, Gemüse, Pilzen, Schweizer Schokolade, Müsliriegeln, Nüssen, wie auch haufenweise Erdnussbutter, Haferflocken und Choco Chipy Keksen erhofften wir, genügend Energie abzubekommen. Computergenerierte Listen spuckten für jede Etappe grammgenau aus, wie viel wir von jeder Essware mitzunehmen hatten, und das Total für die ganzen fünf Monate kumulierte sich auf: 74 kg Brot, 65 kg Nudeln, Reis, Maisgrieß, Kartoffelbrei und Mehl, 6 kg Milchpulver, 16 kg Zucker, 1 V kg Salz, 12 kg Kekse, 8½ kg Getreideriegel, 20 kg Dörrobst, 736 Teebeutel, 3,5 kg Toilettenpapier, 124 Ohrenstäbchen und noch Unzähliges mehr. In kulinarischer Beziehung konnte uns kaum etwas zustoßen, die Fitness würde sich schon selbst aufbauen, und unsere Ausrüstung glaubten wir in etwa auf dem letzten Stand der Dinge zu haben.
Seit dreizehn Jahren sind Kathrin und ich schon zusammen. Sie gleicht mit ihren 46 kg Gewicht zwar eher einem Model, das es gerade über den Laufsteg und zurück schafft, aber ich kannte ihre Zähheit, ihren Durchhaltewillen - und ich wusste, dass ich ihr in jeder Situation vertrauen konnte. Ich war mir sicher, dass ich keinen besseren Partner für dieses Unternehmen finden würde. Wir hofften, die Erfahrungen von unseren jahrelangen Touren um den Globus würden uns auf den richtigen Pfaden dirigieren. Manch brenzlige Situation hatten wir in brennenden Bussen, lecken Booten, mit korrupten Grenzbeamten, auf einsamen Inseln und in winterlichen Stürmen auf himmelhohen Himalayapässen erlebt. Aber was uns auf dieser Reise erwarten würde, konnten wir uns mit der blühendsten Fantasie nicht ausmalen.
Fast immer waren wir uns bei der Planung oder der Bewältigung irgendeines Problems einig, lediglich in einem Punkt waren wir verschiedener Ansicht: Kathrin wollte den südlichen Teil Kaliforniens mit seinen langen wasserlosen Abschnitten durch sonnenverbrannte Wüsten auslassen und sich die ersten achthundert anstrengenden Kilometer ersparen. Doch ich wollte den PCT, wie der Pacific Crest Trail meist genannt wird, in seiner ganzen Länge kennenlernen, auch wenn wir uns das hart zu erkämpfen hatten.
„Wenn ich schon um den halben Globus reise, dann nur für eine ganze Sache, wenn schon, denn schon“, sagte ich zu Kathrin und setzte schließlich meinen Kopf durch.
„Dann fotografiere und schreibe Tagebuch!“, spornte sie mich an, „mach ein Buch von den Erlebnissen unserer Reise, den Leuten auf dem Trail den Landschaften und dem faszinierenden Alltag zweier Langstreckenwanderer.“
Die Idee war gut, doch der zu bezahlende Preis hoch: Für die Fotos beschloss ich, eine Mittelformat-Panoramakamera mitzunehmen. Mit Filtern, Filmen und Zubehör nochmals 3½ kg mehr an Gepäck. Später merkten wir bei den fünf Millionen Schritten, die vor uns lagen, dass die 7 Pfund von Tag zu Tag schwerer und unerträglicher wurden - unzählige Male verfluchte ich die Ausrüstung. Aber noch viel öfter hätte ich sie nicht missen wollen - zu schön das Licht auf Bergen, Pflanzen und Wegen, zu interessant die Begegnungen mit Wanderern und zu einmalig die gemeinsamen Momente in der unberührten Natur, um nicht auf Film gebannt zu werden.
Wir nahmen uns fünf Monate Zeit, um Kanada zu erreichen. Am 1. Oktober wollten wir am Ziel sein. Wir hatten uns vorgenommen, 4.277 km in 150 Tagen zu marschieren. Das entspricht zwei Marathondistanzen gefolgt von einem Ruhetag. Dann erneut 84 km und nochmals 84 km und nochmals und nochmals und nochmals und nochmals … 100 mal von Marathon nach Athen! Wir beabsichtigten nicht, es dem griechischen Krieger gleichzutun, der am Ende der Strecke tot zusammenbrach. Lebendig wollten wir unser Ziel erreichen.
„Und wieso nehmt ihr euch nicht mehr Zeit?“, wurden wir verschiedentlich gefragt. Natürlich wären wir den Trail gern in einem gemütlicheren Tempo angegangen, hätten es geschätzt, mehr Zeit zu haben, um Landschaft und Menschen intensiver kennenzulernen.
Doch vor Mitte Juni sind die Pässe der High Sierra ohne Skier oder Schneeschuhe unpassierbar. Zu hoch liegt der Winterschnee, Wege und Bäche sind unter der weißen Pracht verdeckt. Wer zu früh aufbricht, strandet zwangsläufig am Fuße der Berge und muss die Schneeschmelze abwarten.
Schafft man es über die höchsten Gipfel hinwegzusteigen, heißt es, einen strengen Zeitplan einzuhalten, um Kanada noch vor dem Einbrechen der Winterstürme zu erreichen. Wir würden also keine Chance haben, die komplette Strecke in einer Saison zu schaffen, wenn wir...