2 Formen von Demenzerkrankungen und ihre diagnostischen Kriterien
2.1 Syndromdefinition Demenz
Zur Diagnose einer Demenzerkrankung bei Menschen mit geistiger Behinderung wird die Klassifikation gemäß ICD-10 empfohlen. ICD-10 bedeutet International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10. Version, und wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben.
Die Kriterien der ICD-10 legen mehr Wert auf nonkognitive Aspekte der Demenzerkrankung, wie beispielsweise emotionale Labilität, Irritiertheit und Apathie, während die im DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) dargestellten Kriterien sich stärker auf kognitive Bereiche stützen. Die nonkognitiven Aspekte lassen sich bei Menschen mit geistiger Behinderung besser beobachten, auch bei Personen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen. Auch in Anbetracht der Forschungsergebnisse, dass bei Personen mit Down-Syndrom und auch Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung zu Beginn einer Demenzerkrankung die Verluste von praktischen Fähigkeiten im Vordergrund stehen können und nicht die Gedächtnisstörungen (s. Kap. 3.1), scheinen die Kriterien der ICD10 geeigneter zu sein (Dilling/Freyberger 2010; Haveman 2005).
Die ICD-10 definiert Demenz als ein Syndrom, das die Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns ist. Bei einem Syndrom liegen gleichzeitig verschiedene Symptome vor, deren ursächlicher Zusammenhang mehr oder weniger bekannt ist oder vermutet werden kann. Allerdings ist die Entstehung und Entwicklung unbekannt. Das Demenzsyndrom tritt auf bei der Alzheimer-Krankheit, bei zerebrovaskulären Störungen sowie bei anderen Zustandsbildern, die das Gehirn primär (direkt) oder sekundär (indirekt) betreffen.
Bei dieser Störung des Gehirns sind viele höhere kortikale, also in der Gehirnrinde liegende oder davon ausgehende Funktionen gestört, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Sprechen und Urteilsvermögen im Sinne der Fähigkeit zur Entscheidung. Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation begleiten normalerweise diese kognitiven Beeinträchtigungen. Es kann jedoch sein, dass diese Veränderungen bereits vor den kognitiven Beeinträchtigungen auftreten.
Die kognitiven Störungen können als Kernsymptome bezeichnet werden, die Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oderder Motivation als nonkognitive Symptome. Diese nonkognitiven Symptome, die durch Veränderungen im Erleben und Verhalten charakterisiert sind, werden auch als psychiatrische Symptome oder psychopathologische Symptome bezeichnet. Die S3-Leitlinie „Demenzen“, die von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) 2016 herausgegeben wurde (s. Kap. 4.1), benutzt den Begriff der psychischen und Verhaltenssymptome, da in der angloamerikanischen Literatur der Begriff „Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia“ (BPSD) verwendet wird (DGPPN/DGN 2016, 67). Diese Symptome können auf ein verändertes psychisches Erleben zurückgeführt werden. Beispiele für psychische Symptome sind Angst oder Depression, Beispiele für Verhaltenssymptome sind Aggressivität, Apathie oder zielloses Herumwandern. Sie treten je nach Erkranktem und je nach Krankheitsphase unterschiedlich häufig, intensiv und lang auf. Und sie werden vom sozialen Umfeld des Erkrankten unterschiedlich belastend erlebt.
Psychische und Verhaltenssymptome entstehen multifaktoriell. Dies bedeutet, sie werden durch mehrere, meist in Wechselwirkung zueinander stehende Faktoren beeinflusst und verursacht. Die Basis dieser Symptome ist die veränderte Gehirnstruktur und Gehirnfunktion, die zu einer erhöhten Vulnerabilität (Verletzlichkeit) führt. Diese erhöhte Verletzlichkeit kann unter bestimmten Umgebungsbedingungen und Umwelteinflüssen zu einem veränderten psychischen Erleben oder Verhalten des Demenzkranken führen. Eine ungünstige Kommunikation oder eine Veränderung in der Umgebung kann beim Demenzkranken aggressives Verhalten oder Angst auslösen. Aber auch körperliche Empfindungen, wie z. B. Schmerzen, können solche Symptome verursachen. Bei einer Demenz ist das Bewusstsein nicht getrübt. Die Sinne funktionieren im für die Person üblichen Rahmen.
Damit die Diagnose Demenz gestellt werden kann, müssen die Symptome nach ICD-10 mindestens sechs Monate lang vorhanden sein. Bei Menschen mit geistiger Behinderung wird jedoch empfohlen, aufgrund der hohen Variabilität in der kognitiven Leistungsfähigkeit die Diagnose Demenz erst dann zu stellen, wenn die Symptome deutlich länger als sechs Monate vorhanden gewesen sind (Aylward et al. 1995).
2.2 Kriterien einer Demenzerkrankung und Formen
In der ICD-10 werden die Demenzen anhand ihrer klinischen Symptomatik unterschieden in Demenz bei Alzheimer-Krankheit (F00), vaskuläre Demenz (F01), Demenz bei sonstigen andernorts klassifizierten Krankheiten (F02) sowie nicht näher bezeichnete Demenz (F03). Der Buchstabe F kennzeichnet die psychischen und Verhaltensstörungen. Zusätzlich zu den Kriterien der ICD-10 existieren weitere Kriterien, welche auf der Basis aktueller Forschungsergebnisse die einzelnen Syndrome genauer beschreiben.
2.2.1 Demenz vom Alzheimer-Typ
Die Alzheimer-Krankheit ist gemäß der ICD-10 eine primär degenerative zerebrale Krankheit, also eine Krankheit, bei der das Gehirn abbaut. Ihre Ätiologie (Ursache) ist noch unbekannt und sie weist charakteristische neuropathologische und neurochemische Merkmale auf. Die AlzheimerKrankheit beginnt meist schleichend. Sie entwickelt sich langsam, aber stetig über eine Dauer von mehreren Jahren.
Ein typisches Merkmal der Alzheimer-Krankheit sind die amyloiden Plaques. Sie häufen sich zwischen den Zellen im Gehirn an und auch in den Wänden der Blutgefäße im Gehirn. Diese Plaques bestehen aus BetaAmyloid. Dies ist ein Fragment eines Proteins, das aus einem größeren Protein herausgeschnitten wird. Dieses größere Protein wird als AmyloidVorläufer-Protein (APP) bezeichnet. Ist das Gehirn gesund, werden diese Fragmente abgebaut. Bei der Alzheimer-Krankheit jedoch häufen sich diese Fragmente an und werden zu harten, unauflöslichen Plaques. Ein weiteres Kennzeichen der Alzheimer-Krankheit sind die NeurofibrillenKnäuel. Diese Neurofibrillen-Knäuel bestehen aus Fasern, die sich in den Hirnzellen befinden und überwiegend aus dem sog. Tau-Protein bestehen. Das Tau-Protein formt Teile einer Struktur, die man Mikro-Tubuli, also Röhrchen, nennt. Diese Mikro-Tubuli spielen eine wichtige Rolle beim Transport von Nährstoffen und anderen wichtigen Substanzen von einem Teil der Nervenzelle zu einem anderen. Das Tau-Protein ist jedoch bei der Alzheimer-Krankheit ebenfalls verändert, so dass die Mikro-Tubuli zusammenfallen. Diese neurofibrilläre Degeneration führt zu Beeinträchtigungen im Funktionsbereich der Nervenzellen und möglicherweise zum Zelltod.
Bei der Alzheimer-Demenz sterben die Nervenzellen in der Hirnrinde, also der äußersten Schicht des Großhirns, und auch in tieferliegenden Regionen ab. Durch den Untergang der Nervenzellen wird auch die Produktion des Transmitters (Botenstoffes) Acetylcholin, der in den Nervenzellen gebildet wird, weniger. Bei fortschreitender Alzheimer-Demenz geht das Hirngewebe zurück. Die sog. Sulci, also die Rillen oder Furchen im Gehirn, erweitern sich, während die Gyri, also die Falten an der Hirnoberfläche, schrumpfen. Die Kammern (Ventrikel) im Inneren des Gehirns, welche die Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit (Liquor) enthalten, werden größer.
Grundsätzlich werden zwei Formen der Alzheimer-Demenz unterschieden: die späte Form der Alzheimer-Demenz, die erst nach dem 65. Lebensjahr auftritt (im ICD-10: F00.1), und die frühe Form der Alzheimer-Demenz, die vor dem 65. Lebensjahr festzustellen ist (im ICD-10: F00.0). Bei dieser frühen Form der Alzheimer-Demenz verschlechtert sich der Zustand der erkrankten Person verhältnismäßig schnell und es sind genetische autosomal-dominante Varianten der Alzheimer-Demenz bekannt. Diese Varianten führen dazu, dass sich besonders große Mengen von Beta-Amyloid-Peptiden im Gehirn ansammeln. Dies scheint zu einem Anteil von schätzungsweise 30% an der Entstehung der Alzheimer-Demenz beizutragen. Die erst später auftretende Alzheimer-Demenz schreitet deutlich langsamer voran. Gedächtnisstörungen stehen als Hauptmerkmal im Vordergrund. Neben diesen beiden Formen der AlzheimerDemenz wird noch eine dritte Form unterschieden, die atypische oder gemischte Demenz. Bei dieser zeigen Betroffene eine Mischung der Alzheimer-Demenz und der vaskulären Demenz (im ICD-10: F00.2; s. Kap. 2.2.3).
Die Diagnose „Demenz vom Alzheimer-Typ“ ist nicht einfach zu stellen. Es handelt sich dabei um eine Ausschlussdiagnose. Dies bedeutet, dass a) die für eine Demenz typischen Symptome vorliegen müssen, b) der Beginn der Erkrankung allmählich vor sich geht und der allgemeine Zustand sich fortschreitend verschlechtert und c) spezifische Ursachen durch Anamnese, Untersuchungen und Laborbefunde ausgeschlossen werden müssen (s. Kap. 4.1). Sind diese Bedingungen erfüllt, handelt es sich mit hoher Sicherheit um eine Demenz vom Alzheimer-Typ. Eine sichere Alzheimer-Demenz kann erst nach dem Tod...