Vorwort zur 2. Auflage
Errare humanum est.
Irren ist menschlich.
(Seneca, 4 v. Chr. – 65 n. Chr.)
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der ersten Auflage war dieses Buch das erste Risikomanagementbuch, welches sich speziell an die Pflege richtete. Seitdem gab es viele Veränderungen, Weiterentwicklungen und neue Erkenntnisse auf dem Gebiet des Risikomanagements und der Patientensicherheit, sodass eine grundlegende Überarbeitung erforderlich wurde.
Wo immer Menschen tätig werden, kommt es zu Irrtümern aus Unwissenheit, mangelnder Sorgfalt oder Selbstüberschätzung. Seit das Institute of Medicine im Jahr 1999 seinen Report »To Err is Human – Irren ist menschlich« veröffentlichte, wurde dem Thema Risikomanagement im Gesundheitswesen und Patientensicherheit weltweit und auch in Deutschland zunehmende Aufmerksamkeit zuteil.
Handeln tut Not, da davon auszugehen ist, dass zwischen 5 und 10% der in deutschen Krankenhäusern behandelten Patienten1 ein unerwünschtes Ereignis erleiden (Aktionsbündnis Patientensicherheit 2006, S. 3), ebenso zeigt eine Veröffentlichung aus den USA (Makary 2016, S. 353), basierend auf Daten aus dem Jahr 2013, dass dort der medizinische Fehler auf Platz 3 der Todesursachenstatistik, nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs, rangiert. 14 Jahre nach der Veröffentlichung von »To Err is Human« und zahlreichen Initiativen und Anstrengungen zur Erhöhung der Patientensicherheit ist dies ein ernüchterndes Ergebnis.
Im Jahr 2013 trat das »Patientenrechtegesetz« (Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten) in Kraft, in welchem dem Thema Patientensicherheit verstärkte Bedeutung beigemessen wurde. Im Rahmen dieser Gesetzesänderung wurde dem gemeinsamen Bundesausschuss aufgetragen, in seinen Richtlinien über die grundsätzlichen Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement wesentliche Maßnahmen zur Verbesserung der Patientensicherheit und insbesondere Mindeststandards für Risikomanagement und Fehlermeldesysteme festzulegen. Zudem müssen Krankenhäuser in den jährlichen Qualitätsberichten über den Umsetzungsstand von Risikomanagement und Fehlermeldesystemen informieren (SGB V § 137, 2013). Diese neuen gesetzlichen Anforderungen machen Risikomanagement, die Umsetzung von Maßnahmen zur Patientensicherheit, sowie die Einführung von Fehlermeldesystemen zur Pflicht.
Doch Risikomanagement und Patientensicherheit bedeuten mehr als die Erfüllung gesetzlicher Pflichten und Anforderungen!
Der Umgang mit Fehlern, Versäumnissen und Risiken im Gesundheitswesen ist sowohl menschlich als auch rechtlich oft sehr schwierig. Die Angst vor Gesichtsverlust, Berufsverbot und Strafe führt häufig dazu, dass Mängel, Unachtsamkeiten oder auch fahrlässige Verhaltensweisen, obwohl den Mitarbeiten durchaus bekannt, nur selten oder nur »hinter verschlossenen Türen« geäußert werden. Ein konstruktiver Umgang mit Fehlern, eine positive Fehlerkultur oder darüber hinausgehend eine Sicherheitskultur sind bislang in nur wenigen Gesundheitseinrichtungen anzutreffen.
Neben diesen psychologischen Hemmnissen sind der Aufbau von Risikomanagement und die Erfüllung der genannten Anforderungen für jede Einrichtung mit einem zusätzlichen Aufwand verbunden. Gerade in Zeiten knapper werdender Ressourcen, in der zahlreiche Kliniken, aber auch Alten- und Pflegeeinrichtungen in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind und mit immer weniger Personal immer mehr Leistungen erbringen müssen, schmerzt jede weitere Anforderung und will hinsichtlich Einführung und Umsetzung gut überlegt und geplant sein. Da die zur Verfügung stehenden Ressourcen begrenzt sind, muss jede Einrichtung zwischen dem Notwendigen und Möglichen abwägen, zumal eine Gegenfinanzierung der geforderten zusätzlichen Maßnahmen bislang nicht erfolgt.
Es stellen sich somit bei jeder neuen Herausforderung die Fragen:
• Brauchen wir das wirklich und was kostet es?
• Wie groß ist der mögliche Schaden oder welche Konsequenzen entstehen, wenn man es nicht tut?
Entscheidet man sich für Maßnahmen, so ist dann das Ziel, mit möglichst geringem Aufwand größtmögliche Wirkung zu erreichen.
Risikomanagement ist aus unserer Sicht eine Investition, die sich lohnt. Es schafft Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Einrichtung bei Patienten und Bewohnern und bildet die Grundlage für Stabilität und Sicherheit für Mitarbeiter und Kooperationspartner. Ein kluges und zielgerichtetes Risikomanagement lässt sich mit vielen bereits etablierten Managementsystemen und Instrumenten verknüpfen. Zwar bedeutet die Einführung eines weiteren Systems immer Aufwand und Anstrengung, doch ein wichtiger Grundsatz im Risikomanagement lautet: »Weniger ist mehr!« Durch die Fokussierung auf wesentliche, sicherheitsrelevante Themen und deren konsequente Bearbeitung kann Risikomanagement dazu beitragen, die verfügbaren Ressourcen sinnvoll einzusetzen und ein vorhandenes Qualitätsmanagement möglicherweise zu verschlanken sowie zu vereinfachen.
Gerade die Pflege, als stärkste Berufsgruppe im Gesundheitswesen, übernimmt oftmals eine Vorreiterrolle bei der Einführung und Umsetzung neuer Managementmethoden und trägt in vielen Einrichtungen dabei die Hauptlast, beispielsweise im Rahmen von Qualitätsmanagementprojekten. Aus diesem Grund möchten wir mit diesem Buch die Bedeutung von Risikomanagement und Patientensicherheit für die Mitarbeiter der Pflege unter Berücksichtigung der hier entstehenden Fragen und Problemstellungen beleuchten.
Unser Anliegen besteht darin, das Risikomanagement, Risikomanagementsystem und Methoden des Risikomanagements für die Mitarbeiter der Pflege verständlich darzustellen, die Anforderungen mit den für die Pflege relevanten Aspekten zu beleuchten und so die erforderlichen berufsgruppenspezifischen Kenntnisse und Informationen für und über das Risikomanagement zu vermitteln.
Wir orientieren uns in den nachfolgenden Kapiteln an den folgenden Fragen:
• Warum brauchen wir Risikomanagement in Einrichtungen des Gesundheitswesens?
• Welche haftungsrechtlichen Grundlagen spielen eine Rolle?
• Was ist überhaupt Risikomanagement, -system, -prozess?
• Welche Methoden und Instrumente nutzt das Risikomanagement?
• Welche Grundlagen sind für ein wirksames Risikomanagement wichtig?
• Welche Risiken entstehen im Rahmen interdisziplinärer Zusammenarbeit?
• Welche Risikobereiche sind spezifisch für die Pflege?
• Wie hängen Qualitäts- und Risikomanagement zusammen?
• Welche Möglichkeiten und Grenzen hat Risikomanagement?
Unsere Absicht war es, die einzelnen Kapitel auch für sich allein stehen zu lassen, so dass die Leserin/der Leser je nach Interesse die Reihenfolge wählen kann. Auch sollen die pflegepraktischen Kapitel als eine Art Nachschlagewerk dienen. Da die Darstellung von Anforderungen aus unserer Sicht nur dann Sinn ergibt, wenn diese anhand von Fallbeispielen erläutert werden, war es uns wichtig, eine ausgewogene Mischung aus Theorie und praktischen Beispielen anzubieten. So finden sich gerade in den Kapiteln mit hohem Praxisbezug viele Beispiele in Form von Pflegestandards, Formularen oder Checklisten, welche eine erste Orientierung geben und an die jeweilige Einrichtung adaptiert werden können.
In diesem Zusammenhang ist jedoch zu betonen, dass wir keineswegs mit den vorgestellten Beispielen »Patentlösungen« anbieten möchten. Keine der in diesem Buch verwendeten Vorlagen kann und soll ohne Anpassung und kritische Prüfung von den Einrichtungen übernommen werden, da dies sowohl den spezifischen Rahmenbedingungen als auch dem Bedürfnis der Mitarbeiter nach Partizipation bei der Erstellung widersprechen würde.
Wir hoffen, mit diesem Buch dem Thema Risikomanagement in Ihrer Einrichtung mehr Gewicht zu verleihen, Diskussionen anzustoßen und somit einen Beitrag für mehr Sicherheit für Patienten und Bewohner, aber auch für die Mitarbeiter zu leisten.
Nicht weil es schwer ist,
wagen wir es nicht,
sondern weil wir es nicht wagen,
ist es schwer.
(Seneca)
oder
Vor Fehlern ist niemand sicher.
Das Kunststück besteht darin, denselben Fehler nicht zweimal zu machen.
(Edward Heath)
Im Dezember 2017
Heike Anette Kahla-Witzsch
Olga Platzer
1 Wenn nicht anders aufgeführt, wird für alle Personen- und Funktionsbezeichnungen das generische Maskulinum verwendet. Dies...