1EINFÜHRUNG
AN EINEM SOMMERNACHMITTAG versammelten sich ein Team aus Ingenieuren und eine Gruppe von Managern aus einem der größten US-Unternehmen in einem Seminarraum mitten im riesigen firmeneigenen Schulungszentrum für Führungskräfte. Sie wollten ihren mehrere hundert Millionen Dollar umfassenden Fünfjahresplan zur Entwicklung eines neuen Diesel- und Erdgasmotors erörtern. Ihr Ziel war der Vorstoß in einen neuen Marktbereich, weshalb die Wogen der Begeisterung hochschlugen. Der Motor namens Series X bot viele Anwendungsmöglichkeiten in den verschiedensten Industriezweigen, von der Energieerzeugung bis zum Lokomotiven-Antrieb.
All das war den Anwesenden im Raum vollkommen bewusst. Außer einem, der ohne jegliche Vorkenntnisse über Motoren, Energie oder industrielle Produkten zu dem Meeting erschienen war und somit nur reihenweise Fragen stellen konnte, wie sie auch von irgendeinem Kinderbuchautor hätten stammen können:
„Wo wird der nochmal eingesetzt? In einem Schiff? In einem Flugzeug? Also auf dem Meer und an Land? In einem Zug?“
Sämtliche Manager und Ingenieure fragten sich zweifellos: „Wer ist dieser Typ?“
Dieser Typ war ich. Und das Unternehmen war General Electric, eine der ältesten und ehrwürdigsten Organisationen der USA mit einer (damaligen) Marktkapitalisierung von 220,47 Milliarden Dollar und immerhin 300 000 Mitarbeitern.
Was also hatte ich im Sommer 2012 bei GE zu suchen? Ich gehöre weder zur Konzernleitung noch habe ich beruflich mit Energie, Gesundheitswesen oder irgendeinem anderen der unzähligen Industrieunternehmen von GE zu tun.
Ich bin Unternehmer.
Und an jenem Tag hatten mich Jeffrey Immelt, Chairman und CEO von GE, und Beth Comstock, Vice Chairwoman, nach Crotonville, New York, eingeladen. Denn die beiden waren von einer Idee aus meinem ersten Buch The Lean Startup fasziniert – dass die Prinzipien des unternehmerischen Managements auf jede Branche, jede Unternehmensgröße und jeden Wirtschaftssektor anwendbar wären. Und ihrer Ansicht nach musste ihr Unternehmen damit beginnen, sich diese Prinzipien zu eigen zu machen. So sollte GE auf Kurs gebracht werden zu Wachstum und Anpassungsfähigkeit, und Immelt wollte ein Vermächtnis 2hinterlassen, das dem Unternehmen langfristige Erfolge bescheren würde.
Also gingen wir an jenem Tag noch einmal ganz neu an den Plan für den Series-X-Motor heran und erkannten, dass dieser deutlich schneller auf den Markt gebracht werden könnte, wenn man in wenigen Monaten – statt in mehreren Jahren – eine einfachere Version davon bauen würde. Dieser Zusammenkunft sollten noch viele weitere folgen (einige davon werden noch ausführlicher behandelt).
Am Tag darauf führte ich – oberflächlich betrachtet – eine völlig andere Unterhaltung. Ich sprach mit dem Gründer und CEO eines dieser exponentiell wachsenden Tech Startups der neuen Generation. Die beiden Unternehmen konnten kaum unterschiedlicher sein: eines alt, das andere neu, eines Marktführer in vielen seiner Geschäftsbereiche, das andere fieberhaft darum bemüht, Fuß zu fassen. Eines baut gewaltige materielle Produkte, das andere die Art von Softwareinfrastruktur, die das Internet antreibt. Eines an der Ost- das andere an der Westküste. In dem einen tragen die Führungskräfte Anzüge und im anderen zerrissene Jeans.
Der CEO dieses Unternehmens, eines frühen Anwenders von The Lean Startup, sah sich ganz neuen Herausforderungen gegenüber: Wie konnten sie über ihre erste erfolgreiche Innovation hinaus skalieren? Wie konnten sie ihre Mitarbeiter dazu befähigen, wie Unternehmer zu denken? Und wie konnten sie vor allem neue Quellen für nachhaltiges Wachstum erschließen?
Ich war verblüfft, wie sehr sich diese beiden Gespräche trotz all der oberflächlichen Unterschiede glichen. GE wollte – wie viele andere erfolgreiche Unternehmen auch – seine Kultur mit unternehmerischer Energie neu beleben, sodass es weiter wachsen konnte. Und das Startup, mit dem ich an jenem Nachmittag zusammengetroffen war, suchte nach einem Weg, seine Kultur des Unternehmertums während seines Wachstums zu erhalten.
In den vergangenen Jahren habe ich viele solcher Momente erlebt, in denen mir die ganz ähnlich gearteten Herausforderungen von vermeintlich so unterschiedlichen Organisationen auffielen. Bei all diesen Gesprächen mit Führungskräften und Gründern wurde mir klar, dass den Organisationen von heute – sowohl den etablierten als auch den angehenden – die Fähigkeiten fehlen, die sie brauchen, um in diesem Jahrhundert erfolgreich zu sein: die Fähigkeit, in hohem Tempo mit neuen Produkten und neuen Geschäftsmodellen zu experimentieren; die Fähigkeit, ihre kreativsten Mitarbeiter zu stärken; und die Fähigkeit, sich immer und immer wieder für einen Innovationsprozess zu engagieren – und diesen mit Rigorosität und Verantwortungsgefühl zu managen –, sodass sie neue Wachstums- und Produktivitäts-Quellen erschließen können.
3Um diesen Prozess – und wie man ihn in jedem Unternehmen und jeder Organisation implementieren und zum Erfolg führen kann – geht es in diesem Buch.
WER ICH BIN?
Meine Reise zu jenem Meeting in Crotonville kam auf ganz merkwürdige Art zustande – und komplett unerwartet. Zu Beginn meiner Laufbahn absolvierte ich eine Ausbildung zum Software-Ingenieur, danach wurde ich Unternehmer. Wenn Sie sich je eine Vorstellung von dem typischen Tech-Unternehmer als Kind gemacht haben, wie er im Keller seiner Eltern dauernd an irgendetwas herumlaboriert – tja, dann war das ich. Mein erster Vorstoß ins Unternehmertum, der sich zu Zeiten der Dotcom-Blase abspielte, erwies sich als totaler Fehlschlag. Und meine erste Veröffentlichung aus dem Jahre 1996 – das schillernde Werk The Black Art of Java Game Programming – konnte man, als ich zuletzt nachgesehen habe, bei Amazon.com gebraucht für 0,99 Dollar erwerben. Keines dieser Projekte taugte damals als Vorbote für die nachfolgenden Jahre, die ganz im Zeichen meines Engagements für ein neues Management-System stehen sollten.
Doch bald nach meinem Umzug ins Silicon Valley erkannte ich allmählich Muster darin, was zum Erfolg führte und was zum Scheitern. Ich fing an, ein Modell dafür auszuarbeiten, wie man die Praxis des Unternehmertums rigoroser gestalten könnte. Dann begann ich darüber zu schreiben, ab 2008 zunächst online, und später in dem Buch The Lean Startup, das 2011 erschien. Was von da an passierte, übertraf selbst meine kühnsten Erwartungen. Die Lean-Startup-Bewegung verbreitete sich über den ganzen Globus. Über eine Million Menschen weltweit lasen das Buch. Und es besteht die Möglichkeit, dass sich, egal wo Sie jetzt gerade sind, ganz in der Nähe eine lokale Lean-Startup-Meetup-Gruppe befindet.1 Tausende Gründer, Investoren und andere in dem Startup-Ökosystem sind zusammengekommen, um sich die Ideen und Praktiken des Lean Startup zu eigen zu machen.
In dem Buch stellte ich eine Behauptung auf, die zu jener Zeit ziemlich radikal erschien – dass man ein Startup richtig verstehen solle als „menschliche Institution, die im Umfeld extremer Unsicherheit ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung entwickelt“. Die Definition war absichtlich allgemein gehalten. Sie enthielt keine genaueren Angaben – weder über die Größe der Organisation oder ihre Form (Unternehmen, Nonprofit oder sonstige), noch über ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Branchen oder Sektoren. Dieser weitgefassten Definition 4zufolge kann jeder – egal mit welcher offiziellen Berufsbezeichnung – unvermutet ins kalte Wasser des Unternehmertums geraten, wenn sein Arbeitsumfeld hochgradig ungewiss wird. Ich behauptete, Unternehmer seien überall – in kleinen Firmen, riesigen Konzernen, in Schulen und im Gesundheitswesen, selbst in Regierungsbehörden. Überall, wo Menschen eifrig und oft ganz unvermittelt ihrer ehrenvollen Arbeit nachgingen, eine neuartige Idee zu testen, ein besseres Arbeitsverfahren hervorzubringen oder neue Kunden zu erreichen, indem sie für ein Produkt bzw. eine Dienstleistung neue Märkte erschlössen.
In den sechs Jahren seit der Veröffentlichung von The Lean Startup haben verschiedenste Organisationen, die dessen Methoden angewendet haben, diese Behauptung immer wieder bewiesen. Und ich habe die Möglichkeit gehabt, die ganze Welt zu bereisen und mit Unternehmen jeder nur erdenklichen Größe zusammenzuarbeiten. Mit drei Gründern, die an einer neuen App arbeiten? Ja. Kleinen Firmen? Auch. Religiösen Nonprofits? Auf jeden Fall. Mit mittelständischen Produktionsunternehmen? Ja. Exponentiell wachsende Technologie-Startups vor dem Börsengang? Definitiv. Mit riesigen Regierungsbürokratien? Ja. Einigen der größten und langsamsten multinationalen Unternehmen der Welt? Und ob. All diese unterschiedlichen Organisationen können die Lean-Startup-Methodik anwenden, um effektiver zu arbeiten und ihre Fortschritte schneller voranzutreiben.
AUFBAU DER FEHLENDEN FÄHIGKEITEN
Es waren diese Reisen, die mich schließlich in jenen Seminarraum von GE führten. Und der Erfolg des Series-X-Motors sowie eine Reihe weiterer, ähnlicher Pilotprojekte hatten ganz außergewöhnliche Folgen. Denn GE und ich gingen eine Partnerschaft ein, um ein Programm namens Fast-Works2 zu entwickeln, das einen maßgeblichen Kultur- und Managementwandel mit sich brachte. Mehrere Jahre lang schulten wir tausende Führungskräfte aus dem gesamten Unternehmen. Ich persönlich coachte über hundert Projektteams aller denkbaren Funktionen aus...