Kapitel 1
Ausbruch aus Gewohnheiten
Inmitten der großen Läuferschar fühle ich mich wie jeder andere Läufer. Vorsichtig und etwas unsicher höre ich in meinen Körper hinein. Gibt es irgendwo ein Ziehen, habe ich genug gegessen und getrunken, sind die Schuhe richtig geschnürt? Was auch immer mein Körper mir in diesen Augenblicken an der Startlinie für Zeichen senden würde, das Kribbeln in meinem Bauch übertönt sie sowieso alle. So groß sind die Aufregung und die Vorfreude auf das, was da nun kommen mag. So häufig bin ich vorher die Strecke in meinen Gedanken schon durchgegangen und habe mir in Bildern ausgemalt, wie es sein wird, das große Ziel zu erreichen. Heute ist der große Tag, der Frankfurt-Marathon 2010.
In den vergangenen Wochen ist kein Tag vergangen, an dem er nicht in meinem Bewusstsein war. All das Training in der Vorbereitung kommt mir wie eine Bergbesteigung vor. Würde ich mich heute mit einem tollen Ausblick dafür belohnen? Allein der Begriff Frankfurt-Marathon hatte für mich in der vergangenen Zeit etwas Magisches. Ich fühlte mich von ihm angezogen, als würde mein Lebensweg gar nicht an ihm vorbei gehen können. Es gab nur wenige Dinge in meinem Leben, für die ich so sehr brannte und für die ich solch eine Leidenschaft entfachte wie für diesen Marathon.
Dabei war ich schon vorher ein paar Marathons gelaufen. Keinen von ihnen möchte ich missen, ein jeder hat mich ein Stück weit geprägt. Der große tschechische Läufer Emil Zátopek sagte einmal: „Wenn du laufen willst, lauf eine Meile. Aber wenn du ein neues Leben kennenlernen willst, dann lauf einen Marathon.“ Nur heute gehe ich nicht an den Start, um einen Marathon zu laufen. Ich gehe hier an den Start, um den Marathon rückwärts zu laufen mit dem Ziel, einen neuen Weltrekord aufzustellen. Der Chinese Xu Zhenjun hatte 2004 beim Peking-Marathon die Weltbestmarke auf 3:43:39 Stunden geschraubt.
Zum Rückwärtslaufen kam ich durch einen Zufall. Im Alter von 22 Jahren schaute ich auf einer Studentenparty in Münster einmal so tief ins Glas, dass ich am folgenden Tag ziemlich verkatert aufwachte. Ich wohnte damals in einem Studentenwohnheim mit ein paar Freunden zusammen, als es plötzlich an meiner Tür klopfte. Ein Freund stand in Laufklamotten vor mir und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, ihn zu begleiten. Aus Erfahrung wusste ich um die heilende Wirkung des Laufens gerade nach durchzechten Nächten.
Daher zog ich mir tatsächlich meine Laufschuhe an und ging mit ihm nach draußen. Als wir schließlich losliefen, merkte ich aber, dass die Idee doch nicht so gut war. Vor Übelkeit lief ich so langsam, dass er sich spontan umdrehte und rückwärts neben mir herlief. Nun auch noch das! Ist der Kater nicht schon schlimm genug? Im selben Tempo liefen wir dann ein paar Hundert Meter, ich vorwärts und er rückwärts, bevor ich mich entschied, doch lieber wieder nach Hause zu gehen. Als es mir wieder besser ging, gestand mir mein Kumpel, dass ihm das Rückwärtslaufen gefiel.
Ein paar Tage später liefen wir gemeinsam einen Kilometer rückwärts und eine Woche später schon zwei. Wir holten mehr Freunde ins Boot und liefen jeden Mittwoch zwischen zwei Vorlesungen zusammen ein paar Kilometer rückwärts. Und ja, mir gefiel das Rückwärtslaufen auch! Es fühlte sich irgendwie nach einem entspannteren und bewussteren Laufen an. Zuerst war da dieser starke Muskelkater in den Waden und hinteren Oberschenkeln. Und die Knie werden entlastet! Einer von uns war ganz überrascht, dass er rückwärts im Gegensatz zu vorwärts ganz ohne Kniebeschwerden laufen konnte. Ich hatte das Gefühl, meinen Körper noch einmal anders kennenzulernen. Und Rückwärtslaufen hatte etwas mit Konzentration und Fokussierung zu tun. Um nicht zu stürzen, musste ich mich stark konzentrieren, weil ich ja nicht dauerhaft sah, wo ich hinlief. Dafür drehte ich meinen Kopf immer wieder über meine Schulter und schaute mich nach hinten um.
Ich freute mich häufig schon Tage lang auf die Rückwärts-Einheit und hatte immer ein Schmunzeln auf den Lippen, wenn ich die anderen vor oder hinter mir rückwärts laufen sah, weil es einfach so skurril aussah. Wir lachten viel gemeinsam beim Rückwärtslaufen und wohl etwas auch über uns selbst. Dadurch machte es noch mehr Freude. Wir steigerten den Umfang kontinuierlich auf bis zu acht Kilometer. Ein neues Hobby war geboren.
Jahre später, im Alter von 26, entdeckte ich in den Monaten vor dem Frankfurt-Marathon immer mehr die Freude, die mir das Rückwärtslaufen bereitete. Wenn ich vorwärts laufe, laufe ich für mich. Ich fühle mich zwar verbunden mit der Natur, aber nicht mit den Menschen, denen ich begegne. Rückwärtslaufen auf Wald- und Feldwegen oder entlang von Flüssen und Seen, also auf üblichen Joggingstrecken, zeigte mir immer wieder die Kraft des Zufalls auf. Denn im Gegensatz zum Vorwärtslaufen fühlte ich mich bei rückwärts gelaufenen Trainingsläufen oft bemerkenswerten Begegnungen gegenübergestellt. Sie schienen mir häufig wie eine Tangente zu sein, ein kurzes Streifen entlang der Leben Unbekannter.
Als mich im Training für den Frankfurt-Marathon mal ein Rentnerehepaar auf ihren Fahrrädern überholte, hörte ich sie zu ihm sagen: „Helmut, jetzt sind wir schon so lange verheiratet, aber das haben wir noch nicht erlebt!“ Daraufhin erzählte er mir, dass er den Drachenfels bei Bonn auch schon mal rückwärts hoch gewandert sei, bevor der zunehmende Abstand das Gespräch wieder beendete.
Ein andermal reduzierte auf einer wenig befahrenen Straße ein Autofahrer seine Geschwindigkeit, um neben mir her zu fahren, kurbelte die Fensterscheibe herunter und fragte: „Sind Sie´s oder sind Sie´s nicht?“ Ich fragte, wer ich sein soll. „Der aus dem Radio?“ „Ja“, antwortete ich. „Das ist ja toll, dass ich Sie mal in Aktion sehe.“ Er fahre jetzt in ein nahegelegenes Restaurant. Ob das eine Einladung war, mitzukommen? Es entwickelte sich ein kurzes Gespräch, in dem es darum ging, offen zu sein und neue Dinge auszuprobieren, bevor er weiter fuhr und mir seine Familie staunend hinterher sah.
Oft hörte ich auch einfach nur Kommentare wie „Du läufst falsch herum!“ oder „Anders rum!“ oder sah in völlig überraschte Gesichter. Lustige Kommentare waren auch immer wieder dabei. Ein wild mit seinem Stock fuchtelnder Rentner rief mir mit einem Augenzwinkern mal hinterher: „Das passiert wohl, wenn man morgens seine Tabletten nicht nimmt.“ Viele Passanten reagierten mit einem Lachen und nicht wenige reagierten auch überhaupt nicht.
Es kam immer wieder vor, dass ich rückwärts Vorwärtsläufer überholte. Im ersten Moment wunderten sie sich oft. Mit einem Lächeln versuchte ich dann, ihnen verständlich zu machen, dass es nicht böse gemeint ist. Als mich jedoch einmal ein Vorwärtsläufer erkannte, den ich auf derselben Trainingsrunde etwa zehn bis 15 Kilometer vorher schon einmal überholt hatte, versteinerte sich sein Gesichtsausdruck. Ich versuchte, den Blickkontakt zu meiden, aber es half nichts, die nächsten Sekunden wurden ziemlich unangenehm.
Immer wieder kam es vor, dass mich fremde Läufer und Läuferinnen ein paar Kilometer begleiteten, oder sie liefen, nachdem ich sie rückwärts überholt hatte, auch rückwärts weiter. Dann und wann begannen Läufer, denen ich zufällig begegnete, später sogar auch mit dem Rückwärtslaufen.
Manchmal lösten sich Kinder von ihren Eltern, wenn sie mich sahen, um rückwärts von einem Bein auf das andere zu tippeln. Dann hob ich meinen Daumen, bevor sie sich wieder umdrehten. Sie waren also nur wegen mir rückwärts gelaufen. Oft dachte ich daran, dass ich gerne mal einem Rückwärtsläufer begegnen würde, der es auch von sich aus tut.
Und dann passierte das tatsächlich. Schon länger hatte ich meine Zweifel beiseite geschoben, auch auf Waldwegen längere Strecken rückwärts zu laufen. Denn ich hatte gelernt, dass die Ruhe im Wald es mir erlaubt, mich auf meinen Gehörsinn zu verlassen und auf ein häufiges Umschauen zu verzichten. Als ich dies doch tat, erblickte ich etwas Besonderes. Ich schaute genauer hin und erkannte einen Läufer in roter Laufbekleidung, deren Farbe nicht in die Umgebung passte. Während ich mich näherte, stellte ich fest, dass er sich nicht bewegte. Er stand da und schaute mir zu. Ich sagte „Hallo“, als ich an ihm vorbei lief. Daraufhin sagte er: „Ach, so sieht das also aus!“ Während ich mich von ihm entfernte, rief ich ihm hinterher: „Ich kann das nur empfehlen!“ „Ich weiß,“ erwiderte er, „ich auch!“ Ich lief weiter und versuchte zu verstehen. Nun musste ich laut rufen, um verstanden zu werden. „Wie, machst du das etwa auch?“ Er fing an zu lachen und bejahte! Ich blieb stehen.
Freude lag in der Luft. Wir gingen aufeinander zu und gaben uns die Hand. Für einige Minuten...