»Geh nicht!«
Es war Herbst. Herbst nicht nur auf den Bergen um Juval, auch unten im Tal. Die Obstgärten leuchteten nicht mehr. Auf den vorgelagerten, sonst schwarzen Gipfeln der Ortlergruppe lag der erste Schnee. Die Kälte strahlte bis ins Tal hinab. Geruch von Fäulnis. Auf den Wiesen das Gebimmel von Kuh- und Schafglocken. Vor Wochen schon war das Vieh von den Almen gekommen. Die Bauern waren bei der Obsternte und froh, wenn das Vieh die Reste des im Sommer nicht gemähten Grases abweidete. So war es auch in meiner Kindheit gewesen. Hier also war ich daheim.
Seit drei Monaten aber lebte ich ausschließlich mit der Vorbereitung meiner Antarktis-Expedition. Ich las, plante, verhandelte mit Sponsoren und besprach mich mit Arved Fuchs, den ich zur Reise ins Eis eingeladen hatte. Material wurde getestet. Dann wieder war ich tagelang unterwegs, irgendwo auf einem Gletscher, um den Umgang mit dem Segel zu üben, das uns in der Antarktis helfen sollte, unsere Schlitten zu ziehen. Ich lernte es rasch. Ab und zu nächtigte ich im Freien. Zu Hause stand ich oft im Morgengrauen auf und zwang mich, den Weg von Schloß Juval, wo ich wohnte, hinein ins Schnalstal zu laufen und auf die Altrateiseralm. Ich trainierte sonst nicht, schon seit Jahren nicht mehr, aber die Angst ließ mich nicht schlafen.
500 Höhenmeter waren es, die ich steil bergan hetzte. Dann ein Quersteig, über den ich zu den Juvalhöfen und zurück ins Schloß kam. Ich keuchte, schwitzte. Bald fühlte ich mich körperlich fit. Trotzdem, die Ängste blieben. Ich spürte das Übergewicht, das ich mit mir herumschleppte, hatte ich mir doch ein Fettpolster ›angegessen‹, um in der Antarktis nicht zu frieren und Reserven zu haben für die monatelangen Strapazen. Ein Team von Ärzten hatte mir geraten, Fett anzusetzen und beim Training maßzuhalten. Denn die Gelenke mußten geschont werden für den 3000 Kilometer langen Marsch quer über den Eiskontinent.
Seit fünf Jahren war ich in Juval daheim. 1983 hatte ich eine Ruine erworben. Mit Hilfe einheimischer Handwerker hatte ich sie ausgebaut und so weit instandgesetzt, daß wir dort wohnen konnten, Sabine, Magdalena und ich.
Aber wie lange konnte ich es aushalten auf Juval? Ein Jahr vielleicht oder zwei. Noch war ich zu jung, um ein Stubenhocker zu werden. So sehr ich diese bürgerliche Sicherheit zu schätzen wußte, sie konnte mich nicht halten. Vielleicht würde ich später einmal die Gelassenheit und die Ausdauer haben, seßhaft zu werden und den Bergbauernhof am Fuß des Schlosses zu bewirtschaften.
Würde die Antarktis-Überquerung ein Abenteuer mit zu vielen Unbekannten werden? Immer wieder fuhr ich nachts aus dem Schlaf: von Angstträumen geplagt. Dieses unendliche Eis, »wo die Sünder in der Kälte steckten«, warf seine Schrecken voraus. Warum wollte ich ausgerechnet dorthin, wohin Dante die Schlimmsten seiner Feinde verbannt hatte, ins tiefste Inferno? Im Halbschlaf, wenn Bilder aus Dantes »Göttlicher Komödie« heraufdrängten, fror ich.
So waren fahl bis wo man schamrot wird
im Eise ganz erstarrt die Schmerzensschatten,
wie Storchenschnäbel schlugen ihre Zähne.
Nach unten war ein jeder Blick gesenkt,
laut klapperte ihr Mund vor grimmiger Kälte
und aus den Augen trieft’ die Qual des Herzens.
Da tropften ihre vorher feuchten Augen
hinunter auf die Lippen, und die Kälte
ließ durch die Tränen sie zusammenfrieren.
Wenn ich dann beim Laufen meine Energie spürte, wandelte sich die Antarktis in meiner Vorstellung von einem »See von Eis, der aussah so wie Glas und nicht wie Wasser unter kaltem Himmel« in ein Reich der Stille, des Friedens, der Unendlichkeit. Das war Dantes Paradies:
So löst sich an der Sonne auf der Schnee,
so auch verschwand einst der Sibylle Spruch,
im Wind auf leichten Blättern fortgewirbelt.
O höchstes Licht, das so weit übersteigt
die menschlichen Begriffe, leih ein wenig
von dem, wie du dich zeigtest, meinem Geist.
Ja, noch war die Sehnsucht nach der Wildnis übermächtig in mir, wie es auch nie ein weiches Bett und eine üppige Mahlzeit gewesen waren, an die ich mich später erinnerte, sondern Tage und Wochen bei Kälte und Hunger.
Meine Reisen hatten nichts mit Tourismus zu tun, diesem größten Industriezweig der Erde. Sie dienten auch nicht der Wissenschaft. Sie führten abseits aller Wege. Mir ging es beim Unterwegssein in der Wildnis nicht um die Welt draußen, sondern um die Welt in mir drin. Ich war der Eroberer meiner eigenen Seele.
Meine Reisen sollten keine Reichtümer zutage fördern noch der Menschheit irgend etwas beweisen. Vielleicht war es mir gelungen, ab und zu wenigstens, den Paradiesen im Eis, in der Wildnis des Himalaja, einen Teil jener Mythen zurückzugeben, die die Eroberer der Jahrhundertwende – Sven Hedin, Fridtjof Nansen, Roald Amundsen – mit ihrem viktorianischen Entdeckergeist zerstört hatten. Verzichtete ich doch bei meinen Reisen bewußt auf technische Hilfe. Ich wollte den Menschen das Schützenswerte an der Wildnis bewußt machen, indem ich als Mensch dorthin ging. Die Antarktis, der Himalaja, Grönland waren ja auch ein Potential für menschliche Träume. Und deshalb von unschätzbarem Wert. Trotzdem war es für mich oft nahezu unmöglich, anderen meine Motivation begreiflich zu machen.
»Die meisten Menschen denken an ›Abenteuer‹, wenn das Wort ›Entdeckung‹ fällt. Deshalb will ich den Unterschied zwischen diesen beiden Ausdrücken vom Standpunkt des Entdeckers festlegen. Für den Entdecker ist das Abenteuer nur eine unwillkommene Unterbrechung ernster Arbeit. Er sucht nicht Nervenkitzel, sondern Tatsachen, die bisher unbekannt waren. Oft ist seine Entdeckungsfahrt nichts anderes als ein Wettlauf mit der Zeit, um dem Hungertode zu entgehen. Für ihn ist ein Abenteuer bloß ein Fehler in seinen Berechnungen, den die ›Probe‹ der Tatsachen aufgedeckt hat. Oder ist es ein unglückseliger Beweis dafür, daß niemand alle zukünftigen Möglichkeiten in Betracht ziehen kann? … Jeder Entdecker erlebt Abenteuer. Sie regen ihn an, und er denkt gerne an sie zurück. Aber er sucht sie niemals.«
Schloß Juval, heute Museum
So hat der Entdecker des Südpols, Roald Amundsen, den scheinbaren Widerspruch zwischen dem »Abenteuer« und seiner »Arbeit« aufgelöst. Für mich war es umgekehrt. Ich suchte zwar auch nicht den »Nervenkitzel«, wohl aber das Ausgesetztsein, um mich als Mensch zu entdecken. Abenteuer also als Selbstzweck. Dabei bin ich kein Masochist und habe keine Anlage zum Selbstmörder, auch nicht unbewußt. Ich halte es mit Robert Edwin Peary, dem Entdecker des Nordpols:
»Eingefrorene und blutende Wangen und Ohren sind die Unannehmlichkeiten, die zu einem großen Abenteuer gehören. Schmerz und Unbequemlichkeiten sind unvermeidlich, aber im Zusammenhang mit dem Ganzen gesehen, sind sie kaum wichtig.«
Ich fühlte mich wohl auf Juval. Ich hatte das historische Gebäude nach meinen Vorstellungen ausgestaltet. Trotzdem spürte ich den Drang in die Ferne. Die Nachbarn, Bauern, beobachteten mein Kommen und Gehen mit Skepsis. Ich wußte, daß es keine Freundschaft geben konnte zwischen mir und ihnen, solange ich nicht dablieb und lebte wie sie.
In Villnöß, wo ich aufgewachsen bin, hatte ich unter der Nähe der Dorfbewohner gelitten. Die Schulfreunde, die Gastwirte, die für ihre Pensionen und Hotels mit meinem Namen warben, schickten mir bei Schlechtwetter ihre Touristen ins Haus. Sie störten mich in meiner Ruhe auf und brachten meinen Lebensrhythmus durcheinander. Auf Juval gab es eine Mauer um meinen Bereich. Ich hatte die Gewißheit, mein Leben leben zu können. Wie es meinen Vorstellungen entsprach.
Und trotzdem mußte ich gehen. Toni verstand es nicht. Toni, mein nächster Nachbar, war mir ein lieber Freund. Früher, als das Schloß langsam verfiel und die Mauern abbröckelten, hatte er die Aufsicht über das Gebäude gehabt. Dann, beim Wiederaufbau, hatte er mit Fleiß und Geschick geholfen. Er war Bergbauer, sechzig Jahre alt und ein naturbegabter Maurer. Er war immer da, wenn es galt, einen Pflasterweg anzulegen oder Mauerreste auszuflicken. Toni beriet mich, er liebte Juval. Zwischen uns war eine schweigende Freundschaft entstanden.
Als Toni hörte, daß ich zum Südpol aufbrechen wollte, wußte er nicht genau, was er sich darunter vorstellen sollte. Er beobachtete mein Training mit Kopfschütteln. Das Beladen des Wagens, mit dem ich immer wieder Teile der Ausrüstung nach München transportierte, wo das Expeditionslager war, gefiel ihm noch weniger. Sein Mißtrauen wuchs. Was hätte ich ihm sagen sollen? Wie der Südpol definiert wird?
»Der geographische Südpol ist der mathematische Punkt, den die gedachte Achse der Erdrotation durchsticht, auf dem sich die Meridiane vereinigen, auf dem es nur noch die Nordrichtung gibt, wo der Wind nur aus Norden kommt und nach Norden weht und der Magnetkompaß stets nach Norden zeigt, wo die Zentrifugalkraft der Erde aufhört und die Gestirne nicht mehr auf- und untergehen.«
Warum war die Antarktis dem »einfachen Mann« so fremd? Sicher, weil sie so weit entfernt war. So unzugänglich. Es kamen fast ausschließlich ökologische, politische und wissenschaftliche Probleme zur Sprache, wenn es in den Medien um die Antarktis ging. Wer war schon dort gewesen?
Die ersten Landexpeditionen, die um die Jahrhundertwende stattgefunden hatten, waren vergessen, wenn man vom Tod des »unsterblichen« Captain Scott absieht. Und die Nationen, die ihre wissenschaftlichen Basen dort unterhielten und damit ihre Claims absteckten,...