1. MEINE REISE ZUR GANZHEIT
Gott ist die unendliche Sphäre, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist.
LIBER XXIV Philosophorum, Das Buch der 24 Philosophen
Als Teenager streifte ich gern über den Harvard Square, wo Studenten und Professoren durch den wuseligen Verkehr zu ihren Vorlesungen eilten. Der Platz mit Buchhandlungen, einem Lebensmittelladen, einem Eisenwarengeschäft, einem Deli, wo es riesige heiße Pastrami-Sandwiches mit Sauerteigbrötchen gab, war damals das Zentrum des Stadtteils. Dort war auch das Restaurant, in dem mein Großvater jeden Tag frischen Fisch aß, und eine Eisdiele, die das beste Pfefferminzeis überhaupt hatte – mit kleinen roten schmelzenden Pfefferminzstückchen.
Mein Großvater mütterlicherseits, früher Philosophie- und Wirtschaftsprofessor in Harvard, war schon längst im Ruhestand, aber er lebte weiterhin mit meiner Großmutter – auch Philosophin und ehemalige Professorin – in einem kleinen weißen Haus in der Willard Street 8 in Cambridge. Ich besuchte sie an Wochenenden, als ich im Internat am Stadtrand von Boston war. Es war immer eine tolle Abwechslung, aus dem Internatsschlafsaal in ihr skurriles Häuschen zu kommen: ein Haus im Kolonialstil mit unebenen Holzfußböden und griechischen Vasen, die er sammelte und die furchtbar kippelig auf einem wackeligen Tisch in dem kleinen dunklen Wohnzimmer standen.
Bei einem meiner Besuche, als ich in der Senior High School war, stieß ich in der Bücherabteilung im Harvard-Coop-Laden auf ein großes Buch mit dem Titel Der Mensch und seine Symbole, herausgegeben von C. G. Jung. Darin waren zahlreiche Abbildungen und Fotos, und das Buch war anders als alle Bücher, die ich je zuvor gesehen hatte. Den Umschlag zierte ein tibetisches Mandala, und innen im Buch waren noch viel mehr Mandalabilder. Die Mandalas übten eine solche magnetische Anziehungskraft auf mich aus, dass ich das Buch sofort kaufte.
Ich nahm es mit ins Haus meiner Großeltern, ging hinauf in das kleine Gästezimmer und lehnte mich auf der alten Rosshaarmatratze in die Kissen zurück. Ich schlug das Buch auf und fand tibetische Mandalas und jede Menge Bilder von anderen Mandalas verschiedener Kulturen aus aller Welt. Als ich mir ein tibetisches Mandala ansah, schaute ich mit konzentriertem Blick auf dessen Mittelpunkt. Da eröffnete sich eine leuchtende Dimension, und ich verspürte eine tiefe Ruhe in mir. Kein Kunstwerk hatte je zuvor eine so starke Reaktion in mir ausgelöst. Ich hatte ein leicht unheimliches Gefühl von Vertrautheit kombiniert mit der Faszination darüber, was mir da gerade geschah und was diese Bilder darstellten. In den nächsten Jahren nahm ich das Buch überallhin mit und betrachtete die Mandalas.
In dem Buch stellte Jung viele Formen von Mandalas vor, nicht nur traditionell tibetische, sondern auch Mandalas in der Architektur, Stadtplanung, in der christlichen Sakralkunst, Glasmalerei, in der Kunst und bei Zeremonien indigener Völker. Doch ich fühlte mich ganz besonders zu den tibetischen Mandalas hingezogen: Ihre Tiefe und ihre komplexe Symmetrie lösten eine Resonanz in mir aus und schienen nach mir zu rufen. Ich spürte, dass dies mehr als nur Bilder waren. Sie strahlten eine mystische Energie aus, und ich fragte mich, welche Wahrheiten wohl in diesen Bildern lagen. Ihre Kraft ergab sich nicht aus dem kognitiven Verständnis ihrer Bedeutung, die ich inzwischen kenne, sondern aus der direkten Betrachtung der Mandalas. Dies war meine erste Begegnung mit tibetischen Mandalas, und sie sollten meine gerade beginnende spirituelle Suche beschleunigen.
Innerlich fühlte ich mich zur buddhistischen Kultur hingezogen, vor allem in Richtung Tibet, doch in New England gab es darüber nur wenige Informationen. Es war die Zeit vor dem Internet, vor Google, Facebook und YouTube. Kommunikation fand nur per Telefon oder Briefpost statt. Um sich Informationen zu beschaffen, musste man ein Buch lesen, mit jemandem reden, der sich auskannte, oder selbst direkt an die Quelle gehen. Über Tibet hatte ich zwar im Lexikon meiner Eltern etwas gelesen, aber ein Buch zum Thema konnte ich nicht finden. Etwa zu dieser Zeit gab mir meine Großmutter mütterlicherseits das Buch Zen Telegrams von Paul Reps, ein Buch mit Zen-Haikus und Kalligrafie. Die kurzen Gedichte in Kombination mit den Zeichnungen aus Pinselstrichen inspirierten mich zu dem, was ich heute meine erste Meditationserfahrung nennen würde – eine Einsicht in ein »Gewahrsein des Gewahrseins«. Damals nannte ich es »das Bewusstsein des bewusst Seins«.
Ich war in unserem Sommerhaus an einem See in New Hampshire und hatte Reps’ Buch oben in meinem Zimmer gelesen – einer rustikalen Kammer mit Wänden aus rohem Kiefernholz und mit offen liegenden Balken. Ich beschloss, aus dem Schlafzimmerfenster meiner Schwester hinauszuklettern und mich von dort auf das Dach über der Veranda zu setzen. Vor dem Haus standen vier hochgewachsene Weymouthkiefern. Vom See wehte ein sanfter Wind herüber, und ich saß still. Dann hörte ich die Kiefernnadeln auf das Dach fallen, ein kaum hörbares Geräusch. In diesem Moment war ich mir zur gleichen Zeit meines Bewusstseins bewusst und nahm wahr, wie es den sanften Wind und die auf das Dach fallenden Kiefernnadeln erlebte. Ich begriff nicht ganz, was ich da gerade für eine Erfahrung machte; ich kannte den Zusammenhang nicht, hatte keinen spirituellen Lehrer. Es war auch nichts, was meine Freunde verstanden hätten, und doch war es etwas, das ich nie vergessen sollte: ein tiefes Gefühl von Gewahrsein und Frieden.
Diese und einige andere frühe Erfahrungen inspirierten mich dazu, mich auf die spirituelle Suche zu begeben – eine Sehnsucht, die schließlich mein Leben beherrschte. Nach meinem Highschoolabschluss ging ich zur University of Colorado, doch in der Hochschule fand ich nichts, was mich zu der inneren Weisheit führte, die ich suchte. Dann, eines Tages im Herbst meines zweiten Studienjahres, als ich durch die Magazine der Universitätsbibliothek streifte, fand ich ein Buch, das sofort meine Aufmerksamkeit weckte. Es war eines der ersten Bücher über Yoga, das es auf Englisch gab: The Hidden Teaching Beyond Yoga [deutsch: Die Philosophie der Wahrheit, tiefster Grund des Yoga] von Paul Brunton. Ich lieh es schnell aus und nahm es mit in mein Zimmer im Wohnheim.
Nachdem ich eine Weile darin gelesen hatte, wurde ich müde, legte das Buch weg und drehte mich auf den Bauch, um ein paar Minuten zu schlafen. Als ich so dalag, hatte ich das Gefühl, dass mein Körper vom Bett hochgehoben wurde und ich hoch über dem Bett auf Höhe der Zimmerdecke schwebte. Ich habe das als echte Erfahrung erlebt. Dass ich schwebte, war so real und machte mir eine solche Angst, dass ich mich zwang, die Augen zu öffnen, und dann lag ich wieder auf dem Bett. Durch die Erfahrung, den eigenen Körper verlassen zu haben, intensivierte ich meine spirituelle Suche noch und sprach mit meiner besten Freundin, Vicki Hitchcock, darüber. Ihr Vater war damals amerikanischer Generalkonsul in Kalkutta. Seit wir uns im ersten Studienjahr getroffen und als Seelenverwandte erkannt hatten, teilten wir nun unsere Suche und unser Interesse am »mystischen Osten«, wie wir es nannten. Wir sind tatsächlich unser Leben lang Freundinnen geblieben und folgen letzten Endes beide dem tibetischen Pfad, seit wir 19 Jahre alt waren.
Im Sommer 1967, dem »Summer of Love«, wurde unsere Suche aufregender. Wir brachen beide die Uni in Colorado ab und reisten nach Indien und Nepal. Wir flogen nach Hongkong, wo wir einen esoterischen Buchladen fanden und jedes Buch über Tibet kauften, das es dort gab. Wir wechselten uns beim Lesen ab und segelten auf einem italienischen Schiff nach Bombay. Dann flogen wir nach Kalkutta, wo Vickis Eltern in einem großen alten Kolonialhaus neben dem amerikanischen Konsulat lebten. Nachdem wir dort eine Zeitlang in einem Heim von Mutter Teresa für ledige Mütter und verlassene Babys gearbeitet hatten, brachen Vicki und ich auf nach Nepal.
Abb. 1: Lama Tsültrim vor der Abreise aus Indien, 1967.
SWAYAMBHU
Eines Morgens, als wir gerade bei einer nepalesischen Familie im Stadtzentrum von Kathmandu zu Besuch waren, durften wir auf die Dachterrasse, um die Aussicht zu genießen. Das Tal war mit tief liegendem Nebel bedeckt, aber in der Ferne erhoben sich die kristallenen Gipfel des Himalaya. Viel näher, etwa anderthalb Kilometer von uns entfernt, sahen wir eine strahlend weiße Halbkugel mit einer funkelnden goldenen Spitze – wie eine Art vergänglicher Palast, der auf einer Insel in einem See treibt. Es war einer der mystischsten Anblicke, die ich je gesehen hatte. Als ich mich genauer danach erkundigte, sagte man mir, dass dies Swayambhu sei, der Affentempel. Man nannte ihn so, weil eine Horde wilder Affen dort auf dem Berg lebte, und es sei einer der heiligsten Orte der Stadt.
Einige Tage später hatten wir die Gelegenheit, uns einer Prozession anzuschließen, die vor Sonnenaufgang diesen Berg hinaufzog. Durch die dunklen Straßen von Kathmandu zu gehen war so, als ob man uns zurück ins Mittelalter katapultiert hätte. Schweine, Hunde und Kühe suchten den Müll, den die Menschen auf die Straße geworfen hatten, nach Nahrung durch – eine Art mittelalterliche Abfallentsorgung!
Wir gingen durch das Tal, überquerten eine alte Brücke über den Fluss, die uns auf einen schmalen Feldweg brachte, der zwischen Reisfeldern hindurchführte. Allmählich gelangten wir auf den Berg. Der Pfad wurde immer steiler, und am Schluss wurde er zu einer Treppe,...