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Diese Überlegungen deuten die möglichen Konsequenzen an, die sich aus der These der Endredaktion mit ihren Erweiterungen und Differenzierungen ergeben könnten. Aber wie lässt sich die Ausgangsthese über die von Trobisch genannten Argumente hinaus validieren? Wie der Eindruck vermeiden, dass in einem geschlossenen System nur jeweils die eigenen Voraussetzungen bestätigt werden? Da sich die Richtigkeit historischer Urteile nicht beweisen, sondern nur plausibilisieren lässt, liegt die wichtigste Begründung für die Tragfähigkeit der Ausgangsthese in dem Nachweis, dass sie viele – und zwar: viele verschiedene – Fragen in einem einheitlichen Modell zu beantworten in der Lage ist. Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass man sich zunächst auf die These der Kanonischen Ausgabe und ihre Weiterungen einlassen muss, um sie auf ihre Tragfähigkeit hin zu befragen. Die folgenden Beiträge machen dazu einen Anfang.
Am Anfang steht verständlicherweise Trobischs These von der Endredaktion des Neuen Testaments. 20 Jahre nach ihrer ersten Formulierung ist es notwendig, sie kritisch zu evaluieren und sie auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Dazu gibt zunächst Jan Heilmann einen auswertenden und systematisierenden Überblick über die bisherige Rezeption der These in der Forschung. Dabei stellt er auf der Grundlage einer Auswertung der relevanten patristischen Quellen, die traditionell zur Frage der Kanonentstehung herangezogen werden, außerdem die These auf, dass sich die von Trobisch in den Handschriften identifizierten Teilsammlungen auch in diesen metatextuellen Zeugnissen widerspiegeln und zieht daraus die Schlussfolgerung, dass die patristischen Zeugnisse nicht einen dynamischen Wachstumsprozess der Integration und Ausscheidung reflektieren, sondern die Diskussion über eine bereits bestehende Zusammenstellung in vier Teilsammlungen.
Wolfgang Grünstäudl diskutiert die These einer Kanonischen Ausgabe anhand der Rolle, die Trobisch dem Zweiten Petrusbrief zuweist: Er hält die Ausgangsthese in der von Trobisch vorgetragenen Form für nicht haltbar. Mit seinem Widerspruch hat Grünstäudl deutlich gemacht, an welchen Stellen und mit welchen Fragen die weitere Diskussion einsetzen müsste. Denn ähnlich wie Heilmann kann er bei seiner kritischen Würdigung entlang von Trobischs Begründungsstruktur zeigen, dass die These häufig aus unzutreffenden Gründen zurückgewiesen worden sei.
Einwände gegen die These der Kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments beruhen aber nicht nur auf der Interpretation der (handschriftlichen und patristischen) Zeugnisse, sondern auch auf alternativen Vorstellungen von der Entstehung des „Kanons“ als Resultat eines dynamischen Sammlungs- und Ausscheidungsprozesses. Am wichtigsten ist hier die von Theodor von Zahn breit begründete Theorie, die in der gottesdienstlichen Verlesung einzelner Schriften das entscheidende Movens für deren Sammlung und Kanonisierung sieht. In diesem Zusammenhang untersucht Clemens Leonhard in liturgiewissenschaftlicher Perspektive die Frage eines Zusammenhangs zwischen liturgischer Lesung und der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Evangelien. Dabei zeigt er, dass standardisierte Formen liturgischer Lesungen sich erst im 4. Jh. entwickeln und die Quellenbelege aus dem 2. Jh. und aus der ersten Hälfte des 3. Jh. viel weniger standardisierte Formen der Rezeption von biblischen Texten zeigen, als gemeinhin angenommen wird. Dieses Ergebnis entzieht dem Zahn’schen Modell die Grundlage und stellt daher auch die damit verbundene Vorannahme zur Entstehung der Sammlung in Frage.
Willy Clarysse und Pasquale Orsini, die in einem wichtigen Aufsatz theologisch motivierte Frühdatierungen neutestamentlicher Handschriften problematisiert hatten,1 führen diese Arbeit hier fort und ergänzen ihre bisherige Arbeit um Handschriften mit alttestamentlichen und patristischen Texten. Ihre Arbeit zeigt, dass der handschriftliche Befund für das 2. Jh. sehr überschaubar ist. In Bezug auf die Frage einer Kanonischen Ausgabe im 2. Jh. bedeutet dies, dass der Befund sowohl wegen der geringen Stichproben (zeitlich und regional) als auch wegen des zumeist fragmentarischen Zustandes der Papyri, die sich möglicherweise in das 2. Jh. datieren lassen, keinen Aussagewert für die Frage der Entstehung des Neuen Testamentes in Form von 27 Schriften hat. Hinsichtlich der Ausgangsthese bleibt dieser Befund ambivalent: So wenig, wie er ein dynamisches Wachstumsmodell plausibilisieren kann, so wenig erhöht er die Wahrscheinlichkeit einer Erstausgabe. Umgekehrt kann der handschriftliche Befund diese These aber auch nicht widerlegen. Denn das Alter einer Hs. sagt noch nichts über das Alter des enthaltenen Textes aus.
Ein zentraler Aspekt der Annahme einer einheitlichen Kanonischen Redaktion liegt in den Konsequenzen für die Textkritik, weil die Entstehung von Varianten nicht auf sekundäre Veränderungen reduziert werden kann. Wenn ein Prätext des kanonischen Neuen Testaments im Marcionitischen Evangelium vorliegt, ist es von zentraler Bedeutung, wie sich der rekonstruierte Text digital erschließen lässt und welche Vorteile damit verbunden sind. Das ist eines der Ergebnisse des Beitrags von Juan Garcés. Er führt aus, dass die textkritische Forschung und damit auch die Forschungsbemühungen um die These einer Kanonischen Ausgabe und deren Vorgeschichte im Zeitalter des digitalen Medienwandels vor neuen Herausforderungen stehen; umgekehrt eröffnen sich aber auch ganz neue Möglichkeiten. Garcés analysiert, wie die bisherige textkritische Forschung trotz fortgeschrittener Implementierung digitaler Methoden medientechnisch noch immer durch das Druckzeitalter beeinflusst ist, und zeigt auf, wie sich sowohl die Forschungsmethodik als auch die Repräsentation von Texten im digitalen Zeitalter wandelt.
Der Beitrag von Jan Heilmann und Peter Wick fragt danach, wie mit redaktionellen Varianten umgegangen werden soll, bei denen einerseits aus der Sicht der traditionellen textkritischen Kriteriern nur schwer eine eindeutige Entscheidung getroffen werden kann und die andererseits große Auswirkungen auf das narrative Gefüge des Johannesevangeliums haben. Sie nehmen explizit das heuristische Modell der Unterscheidung eines vorkanonischen und eines kanonischen Johannesevangeliums auf und untersuchen anhand exemplarischer Textvarianten, ob in der handschriftlichen Textüberlieferung des Johannesevangeliums Spuren eines vorkanonischen Johannesevangeliums zu identifizieren sind. Sie zeigen, dass sich im Rahmen des Modells durchaus plausible Erklärungen für die Entstehung einzelner redaktioneller Varianten finden lassen.
Wenn die These von der Kanonischen Redaktion zutrifft, dann hat sie ihre Spuren nicht nur in der handschriftlichen Überlieferung hinterlassen, sondern auch das redaktionelle Gesamtkonzept des Neuen Testaments gestaltet. In diesem Sinn analysiert David Trobisch das Johannesevangelium und identifiziert mögliche Passagen eines editorischen Eingreifens in den Text. Davon ausgehend vergleicht er die Figur des Jüngers Johannes in der für Marcion bezeugten Sammlung mit dem Konzept in der Kanonischen Ausgabe. Während Johannes in der für Marcion bezeugten Sammlung ein farbloser Nebencharakter ist, wird er durch den (die) Herausgeber der Kanonischen Ausgabe als Gegengewicht zu Paulus deutlich aufgewertet.
Die Identifizierung der Kanonischen Redaktion korreliert zwingend mit einer bestimmten Gestalt des Prätextes; da dessen Rekonstruktion auch immer umstritten ist, liegt hier die Gefahr einer zirkulären Argumentation nahe. Markus Vinzent diskutiert in seinem Beitrag am Beispiel des Vaterunsers die Bedeutung der methodologischen Vorannahmen für die Rekonstruktion des für Marcion bezeugten Evangeliums, das er für ein Produkt von Marcion hält. Vinzent zeigt, welche Auswirkungen die Bestimmung des Bearbeitungsgefälles zwischen dem für Marcion bezeugten Evangelium und dem kanonischen Lukasevangelium für die Rekonstruktionsentscheidungen hat, bzw. wie die Einschätzung, ob Marcion selbst der Verfasser des Evangeliums war oder nicht, sich auf die Rekonstruktion auswirkt.
Die Kanonische Redaktion hat ihr gestalterisches Potential auch mit umfangreichen und komplexen Ergänzungen unter Beweis gestellt. Matthias Klinghardt zeigt anhand der neutestamentlichen Abrahamüberlieferung, dass sich ihr Wachstum in mehreren Überlieferungsschritten nachvollziehen lässt. Auf der letzten Ebene der Kanonischen Ausgabe wird die vielgestaltige Abrahamtradition gezielt zur Klärung des Verhältnisses zwischen Paulus und Jakobus eingesetzt: Die mit dem Abrahambeispiel verbundene Redaktion erklärt einerseits die Spannungen zwischen beiden, dient andererseits aber dem Nachweis, dass sie in den fundamentalen Fragen völlig übereinstimmen.
Trotz der Unterschiedlichkeit der einzelnen Beiträge und der notwendigen Differenzierungen hat der Ansatz seine Validität und Fruchtbarkeit in sehr verschiedenen Bereichen gezeigt. Was die neuen Perspektiven, die sich hier ergeben, methodologisch und theologisch bedeuten, untersucht Günter Röhser. Er skizziert und systematisiert in seinem Beitrag die Konsequenzen der These einer Kanonischen Ausgabe für die neutestamentliche Wissenschaft. Dabei unterscheidet er zwischen exegetisch-historischen und theologisch-hermeneutischen Konsequenzen und kommt zu dem Ergebnis, dass die These der Kanonischen Ausgabe vor allem in historischer Hinsicht ein „Altering of the Default Setting“ (Dunn) bedeute, insofern sich insbesondere die Grundlagen für die neutestamentliche Textkritik veränderten. Aus hermeneutischer Sicht habe die These das Potential, neutestamentliche Theologie bzw....