1. Die Bestandsaufnahme: Weiter so bis zur Rente?
1.1 Wie geht es mir in meinem Job?
Es ist 20:30 Uhr an einem Montagabend. Gestatten wir uns einen Blick durchs Schlüsselloch eines Fachteams von Psychotherapeuten im deutschen Gesundheitswesen. Nach Feierabend schließt man sich pflichtgemäß zum Zwecke der Qualitätssicherung seiner Arbeit regelmäßig zu fachlichen Themen kurz. „Ich weiß gar nicht, wie ich das noch all die Jahre bis zur Rente schaffen soll!“ Der Kollege, Ende 30, schaut blass in die Runde. Mit dunklen Augenringen und eingefallenen Wangen wirkt er nicht gerade gesund. Familiengründung, Hausbau, Approbation, all das liegt gerade hinter ihm. Er hat alles erreicht. Jetzt ist er erschöpft, muss aber in seiner Kraft bleiben, um das Erreichte aufrechtzuerhalten. „Wie macht ihr das?“ Er schaut sich im Kreis der „alten Hasen“ seines Fachteams fragend um. Die Kollegen zucken wortlos und schmunzelnd die Schultern. Einer neckt ihn freundlich: „Wie, du glaubst noch an die Rente? Hey, du bist selbstständig. Das heißt: selbst und ständig und immer. Hat dir das keiner gesagt?“ Alles lacht. „Nein, jetzt mal ernsthaft, wie macht ihr das?“, will er es genauer wissen.
Wir wissen nicht, was die netten Kolleginnen und Kollegen ihm empfehlen. Fest steht, der Kollege ist nicht allein mit dieser Frage. Verlagern wir dieses Thema doch einmal dorthin, wo ebenfalls gearbeitet wird: in Großraumbüros, Krankenhäuser, Altenheime, in Linienbusse, Speditionen, Chemielabore, auf (Straßen-)Baustellen, in Supermärkte, Friseursalons oder in Polizeiautos … Egal, ob angestellt oder selbstständig, die meisten Menschen im Arbeitsprozess werden sich diese Frage mindestens einmal schon gestellt haben. Zumindest in Zeiten körperlicher oder mentaler Erschöpfung. Und viele haben darauf schon eine Antwort, denn wie bereits im „Index gute Arbeit“ (Deutscher Gewerkschaftsbund 2010) beschrieben, glauben 36 Prozent der befragten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht, dass sie ihren Beruf bis zur Rente durchhalten können.
Im Jahr 2016 erhalten in Deutschland im Schnitt Frauen 23 und Männer 19 Jahre lang ihre Rentenbezüge. Manche Politiker fordern eine sukzessive Anhebung des Rentenalters von 67 auf bis zu 73 Jahre. Bei den heute schon erschöpften und resignierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern werden diese zusätzlichen Jahre nicht unbedingt einen Sturm der Begeisterung hervorrufen. Egal, ob mit 67 oder mit 73 Jahren: Es wird sich lohnen, bis zum Renteneintritt möglichst lange fit zu bleiben, auch weil bei vielen Erwerbstätigen die Rentenbezüge nicht reichen werden, wie aktuelle Berechnungen bereits belegen.
Da ist es gut zu wissen, dass es auch die andere Seite der Arbeit gibt: Ein erfüllendes Berufsleben wirkt sich positiv auf unsere Gesundheit und auf unsere Persönlichkeitsentwicklung aus. Der Beruf dient bekanntlich der Sicherung der Existenz und der Teilhabe am sozialen Miteinander. Unsere Arbeit fördert unsere Fähigkeiten, unser Selbstvertrauen und unsere Selbstwirksamkeit. Die Berufsrolle ist eine zentrale Grundlage für unser Selbstwertgefühl und somit auch für unsere Identität. Der Beruf ermöglicht uns Kontakte über unsere familiären Zusammenhänge hinaus. Auch gibt uns Arbeit Struktur, indem sie unseren Tag, die Woche und den Jahresrhythmus in Arbeits- und Ruhephasen aufteilt. Unsere berufliche Tätigkeit trägt zur Sinnstiftung bei, und wir können über sie Wertschätzung und Anerkennung erfahren.
Es gibt also tatsächlich Wege aus der Erschöpfung und der Resignation. Jedoch greifen viele Betroffene nicht auf Lösungsmöglichkeiten zurück, obwohl es die gäbe. Manche sind zu erschöpft für die Selbstfürsorge, andere hoffen, dass diese Phase von allein wieder vorübergeht.
1.2 Mit dem Kopf unter dem Arm: Krank zur Arbeit?
In Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung und der damit einhergehenden Veränderung der Arbeitswelt, die sich nicht nur in Arbeitsverdichtung bemerkbar macht, gehen Menschen trotz Krankheit und körperlicher sowie psychischer Beeinträchtigungen zur Arbeit. Dafür gibt es vielfältige Ursachen. Die Kollegen nicht im Stich lassen zu wollen oder auch die Angst vor Kündigung mögen nur zwei von vielen Gründen sein. Jedenfalls begeben sich viele trotz depressiver Verstimmungen, Rückenschmerzen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Arthrose, Reizdarm, Allergien, Diabetes, Bluthochdruck, Erkältungen, Erschöpfung etc. an ihren Arbeitsplatz. Jenseits von Krankheit sind da noch die anderen Beeinträchtigungen, die das Leben mit sich bringt: Ein naher Angehöriger ist verstorben, die Ehe liegt in Trümmern, der Partner oder die Partnerin ist ernsthaft krank, die Kinder bereiten Sorgen etc.
Eigentlich ist man so gar nicht in seiner Kraft; zu gesund, um krank zu sein, und zu krank, um gesund zu sein. Trotzdem befindet man sich an seinem Arbeitsplatz. Experten nennen dies Präsentismus und verstehen darunter das Phänomen, dass Mitarbeiter zwar anwesend, durch gesundheitliche Probleme jedoch in ihrem Wohlbefinden und ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind. Präsentismus ist tägliche Realität in Unternehmen.
Abbildung 1: Präsentismus und Absentismus in Unternehmen
In Konzernen geht man im Schnitt von folgendem Zahlenverhältnis aus: 50 Prozent der Belegschaft geht es wirklich gut (happy well). Diese Arbeitnehmer sind in ihrer Kraft und gehen ihrer Arbeit engagiert und motiviert nach. Dann gibt es 25 Prozent, die niedergestimmt, lustlos oder relativ unmotiviert sind (unhappy well) und ihre Arbeit dementsprechend verrichten. Weitere 20 Prozent befinden sich krank am Arbeitsplatz (krank – nicht AU). Sie gehören eigentlich zum Arzt, der ihnen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung attestieren und sie ins Bett schicken würde. Fünf Prozent der Arbeitnehmer sind arbeitsunfähig krankgeschrieben (AU) und tatsächlich abwesend (Absentismus).
Ob „unhappy well“, krank und nicht arbeitsunfähig geschrieben oder arbeitsunfähig und abwesend, im Schnitt liefern 50 Prozent der Arbeitnehmer eine nicht hundertprozentige Arbeit ab. Für den Arbeitgeber sind das deutliche Produktivitätseinbußen. Nicht nur Absentismus, auch Präsentismus kostet die Unternehmen viel Geld. Weil Krankheiten und sonstige Gründe für Präsentismus Produktivitätskiller sind, versuchen immer mehr Firmen gegenzusteuern. Sie implementieren ein betriebliches Gesundheitsmanagement, beziehen betriebliche Gesundheitsberater mit ein, veranstalten Gesundheitstage, organisieren Vorträge und Workshops zu speziellen gesundheitsrelevanten Themen oder ermöglichen den Betriebssport. Es gibt ein betriebliches Wiedereingliederungsmanagement, und es werden Entspannungs- und Ruheoasen geschaffen. Auch wird den Arbeitnehmern davon abgeraten, abends noch dienstliche Mails abzurufen u.v.m.
All diese Maßnahmen hängen in der Regel vom Budget ab und vom Wissen und der Bereitschaft der beteiligten Entscheidungsträger, das Thema gesundes Arbeiten und somit die Produktivitätssteigerung in den Fokus zu nehmen. Durch den Wandel der Arbeitswelt entstehen plötzlich auch im Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements Bedarfe, die eine schnelle Reaktion und eine ständige Evaluation der getroffenen Maßnahmen erfordern. Gesundheitsfördernde Maßnahmen sind in der Mehrzahl standardisiert, und so fehlt oft der Blick auf den Einzelnen. Deshalb raten Gesundheitsexperten den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausdrücklich zu mehr Selbstverantwortung und Selbstfürsorge.
Warum sich viele Betroffene mit dieser Selbstfürsorge so schwertun und wie ein selbstbewusstes persönliches Gesundheits- und Wohlfühlmanagement gerade am Arbeitsplatz gelingen kann, darüber erfahren Sie mehr in den folgenden Kapiteln.
1.3 Kündigen oder bleiben? – Wie entscheiden wir uns?
Es gibt viele gute Gründe zu kündigen. So mancher wechselt seine Arbeitsstelle aus der Überzeugung heraus, dass sich nichts ändern wird. Vielleicht hat die Karriereleiter ihr Ende oder man kommt allen Bemühungen zum Trotz fachlich nicht weiter. Arbeitsverdichtung und fehlende Mitbestimmung liefern den Grund zum Wechsel genauso wie die wahrgenommene Sinnlosigkeit des eigenen Tuns. Bei manchen liegen private Gründe vor wie Kinderzuwachs oder Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen. Andere wollen nicht mehr so weit zur Arbeit fahren müssen.
Fragt man Menschen, warum sie kündigen, so ist es hauptsächlich die Hoffnung auf einen besseren, wertschätzenden Vorgesetzten und nette Kollegen. Die Bezahlung spielt erstaunlicherweise eine sekundäre Rolle. Seit 2001 wird eine Umfrage zur Arbeitshaltung von Beschäftigten durchgeführt. Der an 1400 Beschäftigten in deutschen Betrieben so ermittelte „Gallup Engagement Index“ von 2015 zum Beispiel weist aus, dass mindestens jeder sechste Arbeitnehmer bereits innerlich gekündigt haben soll. Und glaubt man den 230 Personalverantwortlichen, die im Rahmen einer Studie der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) befragt wurden, so schätzen diese die Lage noch weit dramatischer ein. Nach ihren Beobachtungen scheint bundesweit schon jeder fünfte Angestellte die innere Kündigung vollzogen zu haben.1
Das ist dramatisch für die Betroffenen und dramatisch für die Arbeitgeber. Denn Arbeit, die den Ansprüchen nicht genügt, macht krank, und die Beschäftigten liefern unter solchen Bedingungen „schlechte“ Resultate ab, was die Freude am Beruf sicher nicht erhöht.
Bleiben oder gehen: Wie treffe ich nur die richtige Entscheidung?
„In diesen Zeiten segeln auch Unternehmenslenker vorwiegend auf Sicht.“
(Peter Kruse)
Diesen Satz...