1. KAPITEL
Der große Weg fällt allen leicht,
die keine Vorlieben haben.
Wenn weder Liebe noch Hass da sind,
wird alles klar und unverstellt.
Werte auch nur ansatzweise,
und Himmel und Erde trennen Welten.
Wer die Wahrheit erkennen will,
der enthalte sich jeglicher Beurteilung …
Der Kampf zwischen Neigung und Abneigung
ist die Krankheit des Denkens.
DER VERSTAND IST IMMER ZWIESPÄLTIG
HEUTE LERNEN WIR DIE HERRLICHE WELT DES NICHTDENkens eines Zen-Meisters namens Sosan kennen. Er ist der dritte Zen-Patriarch. Wir wissen nur wenig über ihn – und so sollte es auch sein; denn die Geschichte zeichnet nur Gewalttaten auf. Geschichte zeichnet nicht die Stille auf, das kann sie nicht. Geschichte ist dazu da, Störungen aufzuzeichnen. Wer immer wirklich in tiefer Stille ist, wird in keinerlei Annalen erwähnt. Er ist nicht mehr Teil unseres Wahnsinns. Und so soll es sein.
Sosan blieb sein ganzes Leben lang ein Wandermönch. Er ließ sich nirgends nieder; er war immerzu unterwegs, auf Achse, in Bewegung. Er war ein Fluss, kein stilles Gewässer. Er war immer in Bewegung. Deswegen wollte Buddha, dass seine Schüler immer weiterwanderten. Sie sollten nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich heimatlos bleiben. Denn immer wenn du dich häuslich einrichtest, wirst du dich daran binden. Die Mönche sollten wurzellos bleiben; es gibt kein anderes Zuhause für sie als dieses ganze Universum. Sogar als Sosan bereits ein anerkannter Erleuchteter war, blieb er bei seiner alten Bettlergewohnheit. Und nichts war an ihm besonders. Er war ein gewöhnlicher Mann, ein Mann des Tao.
Ich möchte noch erwähnen … erinnert euch immer wieder daran: Zen ist eine Kreuzung. Und genauso, wie durch Kreuzungen schönere Blumen entstehen können oder schönere Kinder zur Welt kommen, ist es auch mit Zen gewesen.
Zen ist eine Kreuzung zwischen Buddhas und Laotses Vorstellungswelt. Es ist eine große Begegnung – die größte, die jemals stattgefunden hat. Darum hat Zen sowohl Buddhas wie auch Laotses Vorstellungswelten weit übertroffen.
Es ist die nie da gewesene Blüte zweier Gipfel – sowie die Begegnung von beiden Gipfeln. Zen ist weder buddhistisch noch taoistisch, sondern vereint beides in sich.
Was Religion angeht, ist Indien ein wenig humorlos – eine lange Vergangenheit, ein uralter Ballast drückt den indischen Geist nieder und seine Religion ist ernsthaft geworden. Laotse dagegen war immer eine Lachnummer: Loatse ist als „der alte Narr“ bekannt, kein bisschen ernst: Ein unernsterer Mensch ist nicht zu finden. Irgendwann trafen sich die Vorstellungswelten Buddhas und Laotses, trafen sich Indien und China – und Zen wurde geboren. Und dieser Mann Sosan stand der ursprünglichen Quelle ganz nah, als Zen sozusagen aus dem Mutterleib kam. Er ist ein Überbringer der ursprünglichen Botschaft.
Seine Biografie spielt dabei keine Rolle. Denn sobald ein Mensch erleuchtet wird, verschwindet seine Biografie. Er hat keine Form mehr, also werden die Daten seiner Geburt und seines Todes völlig bedeutungslos. Darum haben wir uns im Orient auch nie um Biografien und historische Fakten gekümmert. Diese Besessenheit war uns stets fremd. Inzwischen ist sie jedoch vom Westen aus zu uns gedrungen, und seither interessiert man sich hier zunehmend für belanglose Dinge. Was spielt es für eine Rolle, wann Sosan geboren wurde? – In welchem Jahr genau, und wann er starb? – Wieso ist das wichtig?
Sosan ist wichtig, nicht aber, wann er in diese Welt und seinen Körper eingetreten ist … oder wann er wieder gegangen ist. Ankunfts- und Abfahrtszeiten spielen keine Rolle. Es kommt einzig und allein darauf an, wer man ist! Und das hier sind die einzigen Worte, die Sosan geäußert hat. Denkt aber daran, dass es sich nicht um Wörter handelt, da sie einem Geist entspringen, der Wörter hinter sich gelassen hat. Dies sind keine Spekulationen, sondern authentische Erfahrungen. Alles, was er sagt, hat er erkannt.
Er ist kein Mann des Wissens, sondern ein Weiser.
Er ist in das Mysterium eingedrungen, und was er mitbringt, ist höchst bedeutsam. Es kann dich restlos transformieren. Man braucht ihm nur zu lauschen, und währenddessen wird man transformiert. Denn alles, was er sagt, ist reinstes Gold.
Aber das ist auch gar nicht so einfach, denn die Entfernung zwischen euch und ihm ist unermesslich groß: Ihr denkt noch, er aber denkt nicht mehr. Auch wenn er noch Worte macht, bleibt er in seinem Schweigen; ihr dagegen plappert innerlich weiter, selbst wenn ihr schweigt.
Folgende Geschichte …
Mulla Nasruddin musste vor Gericht erscheinen. Er war wegen Polygamie, Vielweiberei angeklagt. Alle wussten Bescheid, aber keiner konnte es nachweisen.
Sein Anwalt hatte Nasruddin gewarnt: „Halt einfach den Mund, mehr nicht. Wenn du auch nur ein Wort sagst, bist du geliefert. Schweig du also, und lass mich alles regeln.“ Mulla Nasruddin bleibt still aber innerlich kocht er, will eingreifen, was sagen, aber letztlich schafft er es, sich zusammenzureißen.
Äußerlich gleicht er einem Buddha, innerlich einem Irren. Das Gericht kann ihm nichts nachweisen. Obwohl der Richter genau weiß, dass dieser Mann in der Stadt viele Frauen hat, kann er ohne Beweise nichts ausrichten.
Er muss ihn freisprechen und sagt: „Mulla Nasruddin, Sie sind ein freier Mann. Sie können nach Hause gehen.“ Mulla Nasruddin, etwas verdattert, sagt: „Äh… Euer Gnaden, welches Zuhause meinen Sie?“
Wer viele Frauen hat, ist überall zu Hause.
Jedes Wort von euch verrät den Verstand in eurem Innern; ein einziges Wort genügt, um euer ganzes Dasein bloßzustellen. Man braucht noch nicht einmal ein Wort zu sagen: Eine bloße Geste verrät, wes Geistes Kind man ist. Und selbst wenn ihr still seid, zeigt eure Stille nichts anderes als das Plappermaul in euch. Wenn ein Sosan etwas sagt, spricht er auf einer absolut anderen Ebene. Er ist gar nicht am Sprechen interessiert; er will ja niemanden beeinflussen oder gar von irgendeiner Theorie oder Philosophie oder durch irgendeinem „ismus“ überzeugen. Nein, wenn er spricht, blüht sein Schweigen auf. Wenn er spricht, sagt er etwas über das, was er erkannt hat, und das möchte er euch gern mitteilen. Und wenn du auch nur ein Wort davon verstehst, spürst du die immense Stille, die in dir da ist.
Wir werden uns mit Sosan und seinen Worten befassen. Wenn ihr aufmerksam zuhört, werdet ihr plötzlich spüren, wie sich in euch Stille ausbreitet. Diese Worte sind voller Energie. Wann immer ein Erleuchteter etwas sagt, ist sein Wort ein Saatkorn, das über Jahrmillionen hinweg sein Potenzial bewahren und nach einem Herzen suchen wird.
Wenn du bereit bist, bereit zum Erdreich zu werden, dann werden diese Worte – diese ungeheuer starken Worte Sosans–zur Saat. Sie sind Saatkörner, die, wenn du sie einlässt, dein Herz befruchten und aus dir einen absolut anderen machen werden.
Hört ihnen nicht mit dem Verstand zu, denn für den haben sie keinerlei Bedeutung; der Verstand ist absolut impotent, er kann sie nicht verstehen. Sie kommen nicht aus dem Verstand, also kann er sie auch nicht verstehen. Sie kommen aus einem Nichtverstand. Also können sie nur von einem verstanden werden, der sich auch im Zustand des Nichtverstands befindet.
Versucht also nicht zu interpretieren, während ihr hier zuhört. Lauscht nicht den Worten, sondern den Lücken zwischen den Zeilen, nicht dem, was er sagt, sondern dem, was er meint – der Bedeutung.
Lasst euch von dieser Bedeutung umhüllen wie von einem Duft. Er wird in euch einfließen, ihr werdet davon geschwängert. Aber interpretiert nicht; sagt nicht: „Aha, dies oder jenes meint er also!“ Denn so bleibt ihr nur im eigenen Verstand. Interpretiert nicht – hört zu. Und wer interpretiert, kann nicht zuhören, weil das Bewusstsein nicht zwei verschiedene Dinge gleichzeitig tun kann. Wenn ihr anfangt zu denken, hört das Zuhören automatisch auf. Hört zu, so wie ihr einer Musik zuhört – es ist eine andere Art des Hörens, weil ihr nicht interpretiert dabei. In den Klängen liegt keine Bedeutung. Hier haben wir es auch mit Musik zu tun.
Dieser Sosan ist ein Musiker, kein Philosoph. Dieser Sosan spricht nicht nur Worte, er hat viel mehr zu sagen … mehr als nur Worte. Sie haben zwar eine Bedeutung, machen aber keinen Sinn. Sie sind wie musikalische Töne.
Setz dich neben einen Wasserfall: Du lauschst ihm, aber interpretierst du etwa, was der Wasserfall sagt? Er sagt nichts… und dennoch sagt er etwas. Er sagt viel – Dinge, die man nicht sagen kann. Was machst du neben einem Wasserfall? Du lauschst, du wirst ruhig und still, du bist empfänglich. Du erlaubst dem Wasserfall, immer tiefer und tiefer in dich einzudringen. Dann wird in dir alles still und schweigsam. Du wirst zum Tempel...