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E-Book

Wer hat Angst vor Deutschland?

Geschichte eines europäischen Problems

AutorAndreas Rödder
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783104902371
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Deutschland und Europa - ein herausragendes, kluges Buch zu einem der dringlichsten Themen unserer Zeit. Vom Spiegel-Bestsellerautor Andreas Rödder, der zu den bedeutendsten deutschen Historikern zählt. Deutschland steckt in einem Dilemma. Allenthalben wird erwartet, dass es politische Führung übernimmt. Doch wenn es dies tut, ist der Vorwurf der deutschen Dominanz vorprogrammiert. Der renommierte Historiker Andreas Rödder erzählt die Geschichte, die dahintersteht: die Geschichte der »deutschen Stärke« in Europa, die alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts überlebt hat, die Geschichte deutscher Selbstbilder als Kulturnation und die Geschichte der vielen zwiespältigen Gefühle der Nachbarn gegenüber Deutschland - die bis heute immer wieder präsent sind. Wie kann Deutschland mit diesen Ambivalenzen umgehen? Wie lassen sich deutsche Stärke und europäisches Gemeinwohl vereinbaren? Und wie kann Deutschland zu einem starken Europa beitragen? Mit seinem brillanten Blick in die Geschichte erklärt Andreas Rödder überzeugend auch das aktuelle Dilemma Deutschlands in Europa - und entwickelt Vorschläge, wie das Problem zu lösen ist. Ein großer politischer Essay, ein gewichtiger Beitrag zu einer höchst kontroversen Debatte.

Andreas Rödder, geboren 1967, zählt zu den bedeutendsten deutschen Historikern. Auf brillante Weise macht er Geschichte für ein Verständnis unserer unmittelbaren Gegenwart fruchtbar. Seine Beiträge finden umfassende nationale wie internationale Resonanz. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zuletzt erschien »21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart«, das mehrere Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand.

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Leseprobe

I Furor und Feingeist: Die deutsche Frage bis 1914


1 Was ist der Deutschen Vaterland?


Was die Deutschen die »deutsche Frage« nennen, heißt in anderen Ländern das »deutsche Problem«.[8] Und was dies bedeutete, wandelte sich im Laufe der Zeit mehrfach. Im 19. Jahrhundert ging es zunächst darum, welches Territorium ein zu schaffender deutscher Nationalstaat umfassen und welche Staatsform und Verfassung er haben würde. Nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 stellte sich die Frage, ob der neue, starke Staat in der Mitte des Kontinents mit der europäischen Staatenordnung vereinbar sei. Nach dem Ersten Weltkrieg richtete sich die deutsche Frage dann auf die Möglichkeit eines deutschen Wiederaufstiegs innerhalb der Pariser Friedensordnung, bevor das nationalsozialistische Deutschland diese zertrümmerte. Nach 1949 drehte sich die deutsche Frage wieder um die territoriale Einheit des geteilten und um die verfassungsmäßige Ordnung eines vereinten Deutschlands. Beide Fragen waren mit der Wiedervereinigung von 1990 beantwortet. Nun stellte sich, wie nach 1871, die Frage der europäischen Verträglichkeit des vereinten Staates in der Mitte des Kontinents.

Wenn dabei von der deutschen »Mittellage« die Rede ist, dann bedeutet dies zunächst, dass Deutschland so viele Nachbarländer hat – heute sind es neun – wie kein anderes Land in Europa. Österreich und Frankreich haben immerhin acht, Polen sieben und Italien sechs, das Vereinigte Königreich hingegen hat nur eines. Im Zusammenhang mit dem Raum in der Mitte Europas, der heute Deutschland heißt, entluden sich immer wieder militärische Konflikte: die Varusschlacht der Germanen gegen das römische Imperium, die Kriege Karls des Großen und Friedrich Barbarossas oder die Schlacht zwischen dem Heer des Deutschen Ordens und Polen-Litauen 1410. Im 17. Jahrhundert eskalierte der Dreißigjährige Krieg unter Beteiligung von Dänemark, Schweden, Spanien und Frankreich. Mit Frankreich wurden in den folgenden Jahrhunderten der Pfälzische Erbfolgekrieg, der Siebenjährige Krieg, die Koalitionskriege zwischen 1792 und 1815 sowie der Krieg von 1870/71 ausgefochten. Dieser beendete die Serie der sogenannten Einigungskriege, die Bismarcks Preußen 1864 gegen Dänemark und 1866 gegen Österreich geführt hatte. Preußen und Österreich wiederum hatten im Bunde mit Russland zwischen 1772 und 1795 Polen unter sich aufgeteilt, das erst nach dem Ersten Weltkrieg wieder als eigenständiger Staat entstand. Zwanzig Jahre später wurde Polen durch den Hitler-Stalin-Pakt abermals geteilt und zum Schauplatz eines Vernichtungskrieges, den Deutschland auch gegen die Sowjetunion führte. Als der Zweite Weltkrieg schließlich durch Bomben und Armeen der Alliierten auf deutsches Territorium zurückschlug, wurde Deutschland erneut zu jenem zentralen europäischen Kriegsschauplatz, der es bis 1813 immer wieder gewesen war: vom Dreißigjährigen Krieg, der das Land »doch nunmehr gantz, ja mehr denn gantz verheeret« hatte, wie Andreas Gryphius 1636 beklagte, über die systematischen Verwüstungen im Pfälzischen Erbfolgekrieg bis zur französischen Besetzung, zunächst durch Revolutionstruppen und dann unter Napoleon, die nach der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 zu Ende ging.

All dies hatte auch daran gelegen, dass die deutschen Lande nicht wie andere Länder eine zentralstaatliche, sondern eine partikulare Entwicklung genommen hatten. Der Investiturstreit, die große Auseinandersetzung zwischen römisch-deutschen Königen und Päpsten im späten 11. und frühen 12. Jahrhundert, hatte die Zentralgewalt im Reich geschwächt und die Fürsten gestärkt. Dies wiederholte und verstärkte sich mit dem zweiten großen Religionskonflikt, der Reformation im 16. Jahrhundert. Dass die neue Konfession von den Fürsten adoptiert wurde, war die entscheidende Voraussetzung für ihre Verbreitung. Umgekehrt stärkte die Reformation die Stellung der einzelnen Landesherren zumal in den protestantischen Territorien, in denen sie bis 1918 die Leitungsgewalt über das evangelische Kirchenwesen besaßen.

Demgegenüber hatte das Haus Habsburg Anfang des 17. Jahrhunderts versucht, ein vom Kaiser dominiertes, gesamtstaatlich organisiertes Reich in der Mitte Europas zu errichten.[9] Dieses Reich hätte mit seiner Lage und seiner Größe aber eine hegemoniale Position in Europa eingenommen, die den Interessen Frankreichs und Schwedens zuwiderlief. Dies ist der Hintergrund für den Dreißigjährigen Krieg, der als Religions- und Bürgerkrieg im Reich begann und als europäischer Macht- und Staatenkrieg endete – und den Weg zu einem deutschen Zentralstaat blockierte.

Stattdessen schrieb der Westfälische Friede von 1648 das Grundgesetz des Alten Reiches fest: die Landeshoheit der Einzelstaaten nach innen und das Bündnisrecht der Landesherren nach außen. Damit war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, im Gegensatz zu seinem pompös klingenden Namen, ein Bund gleichberechtigter Territorien mit einem Kaiser an der Spitze. Es bildete eine »befriedete, aber entdynamisierte Mitte des Kontinents«[10] – und war zugleich ein zentraler Faktor der »Westfälischen Ordnung« Europas. Die europäische Mitte »war der Puffer, der die aggressiven Anstrengungen anderer Mächte auffing und neutralisierte«.[11] Schon 1648 galt: Die deutsche Geschichte war in besonderem Maße Teil der europäischen, und immer hatten die europäischen Geschicke besondere Auswirkungen auf Deutschland.

Im 18. Jahrhundert wandelte sich die Ordnung der europäischen Mächte. Spanien, die Niederlande und Schweden fielen als Großmächte nach und nach aus, dafür kamen Russland und Preußen hinzu. Unmittelbar nach seinem Regierungsantritt im Jahr 1740 annektierte Friedrich II. von Preußen das von den Habsburgern regierte Schlesien und begründete damit den preußisch-österreichischen Gegensatz. So legte er einen deutschen Sprengsatz, der sich bis 1866 mehrfach entzündete.

Unter dem Ansturm der Französischen Revolution und vor allem Napoleons zeigte sich, dass ein Pfeiler des Alten Reiches von 1648 porös geworden war: dass es nämlich den Bestand seiner einzelnen Mitglieder garantierte. 1803 hielten sich die mittleren und größeren deutschen Territorien an den Kleinen und Schwächeren schadlos, um ihre linksrheinischen Verluste an Frankreich zu kompensieren, das in den Friedensverträgen zwischen 1795 und 1801 den Rhein als Grenze durchgesetzt hatte. Geistliche Fürstentümer und Klöster, Reichsritterschaften und freie Reichsstädte wurden aufgelöst und den mittleren und großen Territorialstaaten zugeschlagen. Das Großherzogtum Baden beispielsweise vergrößerte sich zwischen 1803 und 1805 um rechtsrheinische Teile der Kurpfalz sowie der Bistümer Konstanz, Basel, Straßburg und Speyer. Es erhielt fünf freie Reichsstädte, die Gebiete vieler Abteien und Stifte, den Breisgau mit Freiburg und die Stadt Konstanz. Mit dieser historischen Besitzumschichtung war das Alte Reich am Ende und seine Auflösung im Jahr 1806 nur noch Formsache.

Der Wiener Kongress, der oft als »Restauration« bezeichnet wird, machte diese revolutionäre Veränderung allerdings gerade nicht rückgängig. Was er wiederherstellte, ja deutlich stärker verankerte als zuvor, war das Prinzip des europäischen Gleichgewichts.[12] Und diese europäische Ordnung setzte abermals eine befriedete, aber politisch schwache Mitte voraus, damit sich das Gleichgewicht der Mächte von den Rändern her austarieren konnte. So errichtete der Wiener Kongress den Deutschen Bund aus zunächst 41 Einzelstaaten. Darunter befanden sich mit Preußen und Österreich zwar zwei europäische Großmächte, zudem saßen der britische König für Hannover, der dänische für Holstein und Lauenburg sowie der niederländische für Luxemburg und Limburg bzw. ihre Gesandten mit am Tisch der Frankfurter Bundesversammlung. Gerade deshalb kam aber keine handlungsfähige Zentralgewalt zustande.

Die Wiener Ordnung von 1815 wurde also, ebenso wie die Westfälische von 1648, im Zeichen von Stabilität und Gleichgewicht gegen die potentielle Stärke eines einheitlichen deutschen Staates in der Mitte Europas gebaut. Die Väter des Wiener Kongresses besaßen zwar die Ressourcen und die Institutionen, um diese Ordnung aufrechtzuerhalten. Auf der Ebene der Ideen aber standen ihre Vorstellungen von monarchischer Legitimität und Solidarität den Zeichen der Zeit entgegen. Denn neben dem Prinzip der Volkssouveränität wurde vor allem die Nation zur politischen Leitidee des 19. Jahrhunderts schlechthin.

Nationen sind, so die klassische Definition von Ernest Renan, keine materiellen Phänomene, sondern geistige Prinzipien. Sie beruhen darauf, dass eine Gruppe von Menschen sich aufgrund bestimmter Merkmale wie Staatsangehörigkeit, gemeinsamer Sprache, Kultur oder Geschichte als zusammengehörig begreift.[13] Der Realitätsgehalt dieser Vorstellungen gemeinsamer Geschichte und Kultur ist in aller Regel begrenzt, vielmehr beruhen sie oftmals auf Mythen...

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