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Das braune Netz

Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde

AutorWilli Winkler
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783644100626
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Sie hatten ihre Karriere im Dienste des NS-Staates begonnen - und setzten sie bruchlos in der der neuen Bundesrepublik fort. So bereitwillig sie der braunen Ideologie gedient hatten, so engagiert traten sie nun für die Demokratie ein. Kriegsgerichtsräte fällten wieder ihre Urteile, einst regimetreue Professoren lehrten und die Journalisten aus den früheren Propagandakompanien schrieben, als hätten sie sich nichts vorzuwerfen. Damit gewann der junge Staat zwar politische Handlungsfreiheit zurück, gründete seinen Erfolg aber auf einen moralischen Widerspruch, der nicht aufzulösen war: Die Demokratie wurde mitaufgebaut von ihren Feinden. Zum 70. Geburtstag der Bundesrepublik legt Willi Winkler eine schonungslose Betrachtung ihrer Frühgeschichte vor. Mitreißend und faktengesättigt beschreibt er, wie der westdeutsche Staat trotz all seiner Zerrissenheiten zum Erfolgsmodell wurde - und er zeigt, welchen Anteil vermeintlich oder tatsächlich geläuterte Nazis daran hatten. Eine Parabel über Schuld und Scham, über Bewältigung und Versöhnung, und zugleich eine zwingende Lektüre für alle, die dieses Land von Grund auf verstehen wollen.

Willi Winkler, geboren 1957, war Redakteur der «Zeit», Kulturchef beim «Spiegel» und schreibt seit vielen Jahren für die «Süddeutsche Zeitung». Er ist Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen «Luther. Ein deutscher Rebell», «Das braune Netz» und «Herbstlicht. Eine Wanderung nach Italien». Über sein Reisebuch «Deutschland, eine Winterreise» sagte Sonia Mikich: «Solch unverbrauchte Gedanken in schöner Sprachmacht sind selten geworden.» Willi Winkler wurde mehrfach für sein Schreiben ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ben-Witter-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus und dem Michael-Althen-Preis.

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Leseprobe

Einleitung: Glücklich ist, wer vergisst


Je näher man die Vergangenheit anschaut, desto ferner blickt sie zurück. Ende Februar 1946 schreibt ein siebzigjähriger Rentner an einen Geistlichen Rat, einen Schulfreund, der an St. Elisabeth in Bonn als Pfarrer wirkt. Der Schreiber ist empört. Das deutsche Volk, meint er anklagend, habe sich «fast widerstandslos, ja zum Teil mit Begeisterung (…) gleichschalten lassen. Darin liegt seine Schuld. Im übrigen hat man aber auch gewußt – wenn man auch die Vorgänge nicht in ihrem ganzen Ausmaße gekannt hat –, daß die persönliche Freiheit, alle Rechtsgrundsätze, mit Füßen getreten wurden, daß in den Konzentrationslagern große Grausamkeiten verübt wurden, daß die Gestapo, unsere SS und zum Teil auch unsere Truppen in Polen und Rußland mit beispiellosen Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung vorgingen. Die Judenpogrome 1933 und 1938 geschahen in aller Öffentlichkeit.»

Konrad Adenauer, der Autor dieser Zeilen, war in der Weimarer Republik Oberbürgermeister von Köln und auch Präsident des Preußischen Staatsrats gewesen, er hatte den Zweiten Weltkrieg und die Verfolgung durch die Nationalsozialisten unter dem Schutz der katholischen Kirche knapp überstanden. Für ihn gab es keine Zweifel an den nationalsozialistischen Verbrechen, schon gar nicht daran, dass das «deutsche Volk» mitschuldig geworden war: «Man kann also wirklich nicht behaupten, daß die Öffentlichkeit nicht gewußt habe, daß die nationalsozialistische Regierung und die Heeresleitung ständig aus Grundsatz gegen das Naturrecht, gegen die Haager Konvention und gegen die einfachsten Gebote der Menschlichkeit verstießen.»[*] Adenauer, der eben ein zweites Mal sein Amt als Bürgermeister verloren hatte, weil ihn diesmal die Engländer abgesetzt hatten, konnte sich nicht mit dem abfinden, was im «Dritten Reich» geschehen war.

Am 1. Oktober 1949, zwei Wochen nachdem Adenauer zum Bundeskanzler gewählt worden war, wandte sich Heinrich Nordhoff in einer großen Rede an seine zehntausend Arbeiter und Angestellten. Das Volkswagenwerk, das er seit Anfang 1948 leitete, war eben aus dem Protektorat der britischen Besatzungsmacht entlassen und in deutsche Hände zurückgegeben worden. Trotz des «Entsetzlichen, das wir durchgemacht haben», verkündete der Generaldirektor, könne man glücklich sein, «daß in unserem Lande wieder gearbeitet wird, mit dem ganzen Fleiß und der ganzen Emsigkeit, die den Deutschen zu eigen sind».

Arbeiten können sie, die Deutschen, sie konnten es immer, gerade noch hatten sie für den Endsieg gearbeitet und gekämpft. Nordhoff will diese elende Geschichte erledigt haben und fordert auch seine Mitarbeiter auf, sie hinter sich zu lassen. «Wir haben aufgehört, nach rückwärts zu sehen, wir haben ein Ziel vor uns, wir träumen nicht von der Vergangenheit, wir schaffen für die Zukunft.»[*] Die Zukunft hat eben begonnen: Die «Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben» bekam jetzt erst einen richtigen Namen – Wolfsburg –, und wie vom Führer versprochen, rollten, wenn auch um einige Jahre verspätet, die Volkswagen massenhaft vom Band. Schließlich hatte der Prototyp des Kübelwagens seine Eignung im Einsatz an der Ostfront bewiesen.

Allein 1949, im Gründungsjahr der Bundesrepublik, wurden 46154 Volkswagen gebaut; ein halbes Jahr nach Nordhoffs Rede rollte der einhunderttausendste Käfer vom Band. Am 5. August 1955 kam bereits der einmillionste Wagen aus dem Werk. Der Käfer wurde ein Welterfolg, weiter verbreitet und langlebiger als das Model T Henry Fords. Begleitet von dem Werbeslogan «Er läuft und läuft …», war der Volkswagen bald das Symbol der deutschen Wirtschaft: Es ging immer weiter aufwärts und vor allem nach vorn, vorwärts ins Wirtschaftswunder. Der Staatsbetrieb Volkswagen wurde der Indikator für den Erfolg Westdeutschlands – statt der Siegesmeldungen aus Frankreich, Norwegen und Russland jetzt Produktionsrekorde.

Einige wenige mussten noch an die alte Schuld erinnern, für die meisten hatte eine großartige Zeit begonnen. Ganz neu war sie dennoch nicht, denn der wirtschaftliche Erfolg, überhaupt der Wiederaufstieg, war auf das Personal von gestern angewiesen. Nordhoff hatte dem «Dritten Reich» gedient und war Wehrwirtschaftsführer gewesen. Vor der Spruchkammer galt er zunächst als «Hauptschuldiger» und wurde von den Amerikanern bei der Adam Opel AG deshalb abgelehnt. Der Kriegsverbrecher Friedrich Flick besprach bereits in der Haft in Landsberg die Umstrukturierung seines Konzerns, ehe er am 25. August 1950 vorzeitig entlassen wurde. Flick wurde gebraucht, denn ohne ihn war die Wiederaufrüstung nicht möglich. Nordhoff übernahm die Arbeit bei Volkswagen Anfang 1948 und konnte jetzt der Welt, die von den Deutschen nur Panzerangriffe und Blitzkrieg kannte, beweisen, dass es ein neues demokratisches Land gab. Die deutsche Emsigkeit hatte auch das geschafft, die Niederlage im Krieg in eine Friedensdividende umzuwandeln.

Die deutsche Vergangenheit war fürs Erste tot und begraben. In den sechziger Jahren bei den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt wurde sie exhumiert, aber da hatte die Bundesrepublik längst ihr Wirtschaftswunder erlebt, waren dank Ludwig Erhard all die Versprechen der Nazizeit eingelöst worden: Urlaubsreise, Eigenheim, Fortschritt, Moderne. Nicht mehr Kraft durch Freude (KdF), sondern Wohlstand für alle. Der Kaufhausbesitzer meinte es gewiss ironisch, aber es lag ihm halt von früher auf der Zunge, wenn er 1949 in sein Schaufenster ein Bild des Wirtschaftsministers hängte und es mit einem Satz versah, der den Kunden bekannt vorkam: «Erhard befiehlt, wir folgen!» (Eine weitere Tafel ergänzte: «und senken die Preise».) Von Schuldeinsicht keine Spur, bloß kein Blick zurück, sondern im Käfer flott voran, das war die Rettung für die Bundesrepublik vor den Schatten der Vergangenheit. Was wäre denn die Alternative gewesen? Gab es überhaupt eine?

Keiner wäre auf die Idee gekommen, so zu handeln, wie sich der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger ausdrückte: «Wir wollen etwas Neues machen, und dazu bedarf es der Liquidation des Alten.» Filbinger sprach 1968 von der Schließung der Ulmer Hochschule für Gestaltung, einer mustergültigen Einrichtung der fortschrittsbegeisterten Moderne, 1953 begründet von Inge Aicher-Scholl, der Schwester der unter Hitler hingerichteten Sophie Scholl, unterstützt durch den Bankier Hermann Josef Abs, der das «Dritte Reich» mit Arisierung und der Beschäftigung von Zwangsarbeitern überstanden hatte. Aber hätte Filbinger nicht auch besser geschwiegen, er, der noch nach der Kapitulation des Hitler-Reiches an Todesurteilen gleich gegen mehrere Deserteure beteiligt war, also dafür gesorgt hatte, dass sie liquidiert wurden? Als ihm sehr spät, 1978, seine juristische Willfährigkeit vorgehalten wurde, verteidigte sich Filbinger mit einem Satz, der seine ganze Halsstarrigkeit offenbarte: «Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein!»

Von Adenauer ist nicht ohne Grund der Spruch überliefert: «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?» Deshalb konnte er, der 1946 so deutlich wie sonst vielleicht nur Karl Jaspers von Schuld gesprochen hatte, für «Tabula rasa», für das große Vergessen plädieren. 1952 sprach der Kanzler im Bundestag die erlösenden Worte gegen die Kritiker seiner Personalpolitik: «Man kann doch ein Auswärtiges Amt nicht aufbauen, wenn man nicht wenigstens zunächst an den leitenden Stellen Leute hat, die von der Geschichte von früher her etwas verstehen.»[*] Das Personal der vorigen Epoche war einfach zu wichtig. Man könnte auch sagen: Es herrschte ein eklatanter Mangel an Leuten, die nicht mitgemacht hatten.

Die Leute, die von der Sache von früher her etwas verstanden, verstanden auch die neue. Ohne Hans Globke, der den Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen verfasst hatte, als seine rechte und linke Hand hätte Adenauer gar nicht regieren können. Mit Ausnahme von Gustav Heinemann waren alle Bundespräsidenten von Theodor Heuss bis Roman Herzog vom Nationalsozialismus kontaminiert, aber sie waren wie vom Grundgesetz vorgeschrieben jeweils älter als vierzig Jahre und kamen aus der Mitte eines Mitläufervolkes. Eduard Dreher, im Zweiten Weltkrieg beteiligt an mindestens drei Todesurteilen für Bagatelldelikte, brachte es nicht bloß zum maßgeblichen Strafrechtskommentator, er konnte sogar persönlich Hand anlegen, als 1968 im Rahmen der Großen Strafrechtsreform auch die Beihilfe zum Mord, also auch sein rechtswidriges Wirken amnestiert wurde. Schon deshalb wurde kein einziger Richter – was gestern Recht war, konnte doch nicht plötzlich Unrecht sein – von einem deutschen Gericht dafür verurteilt, dass er eben noch alles andere als Recht gesprochen hatte.

Das Grundgesetz kommentierte ein Verfassungsfeind (Theodor Maunz), das Bundeskriminalamt leitete ein CIA-Agent, der sich bereits in der Feindbekämpfung im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) bewährt hatte (Paul Dickopf), und Albert Speer avancierte zum Star der Vergangenheitsbewältigung: Heldenhaft wollte er Hitlers Nero-Befehl der verbrannten Erde missachtet haben, sodass praktisch ihm ganz allein der wirtschaftliche Wiederaufstieg der Bundesrepublik zu verdanken war.

In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien erschienen. Das Außen-, das Justiz- und zuletzt das Innenministerium wurden auf ihre Geschichte hin durchleuchtet, und überall fanden sich, o Wunder: Nazis. Nazis saßen im Bundestag, in den Länderparlamenten, in sämtlichen Behörden...

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