Eröffnung: Das Treffen im Urwald
Es ist lautlos in den Wäldern. Eine nie gekannte Stille hatte der Stamm noch gestern unweit der Malocas wahrgenommen. Es war, als hätte die Zeit dieses Schweigen als Gegensatz zu allem aufgeführt, was eintreffen sollte. Es ist im September 1969 – wie die Weißen ihre Zeit zählen. Oréia, der junge 23jährige Suruí-Fürst, führt den Stamm der Paiter Suruí. Sieben Jahre später wird er aus diesen Wäldern verschwunden sein; ermordet, hingerichtet. Doch diese Zeit ist seine Zeit; mit dem, was heute geschieht, beginnt sie.
In einer kleinen Gruppe an einem Flusslauf stehen die Paiter Suruí und schauen angestrengt in eine Richtung. „Wir selbst“ bedeutet ihr Name. Sie befinden sich etwa fünf Kilometer entfernt von ihren Malocas, ihren Häusern, dort, wo alle wohnen. Sie haben ein Geräusch vernommen. Dann entfernt es sich und ist verschwunden. Was war es? Wer war da? Die Füße, die diesen Laut hinterließen, waren nicht die ihren. Es war nicht von einem Tier, auch kein Zoró, einer aus dem Stamm ihrer Erzfeinde kann es gewesen sein. Sie stehen und lauschen, dann bewegen sie sich geschmeidig dorthin, wo das Geräusch verschwand. Sie sind fast nackt, tragen aber Halsketten, schönen Schmuck, den die Frauen anfertigen. Barfüßig huschen sie durch den Wald. Aber bewaffnet sind sie, wie immer, wenn sie sich von den Malocas entfernen, auf Jagd oder Erkundung gehen. Dann sehen sie auf einer Lichtung etwas, was nicht in ihr Gebiet gehört. An einem Seil befestigt, das um einen Ast geworfen ist, hängt ein blinkender Gegenstand. Es ist ein langes, großes Messer mit einer Metallklinge, wie die Paiter es nicht kennen.
Die Männer nähern sich dem Gegenstand; woher ist er? Was hat er zu bedeuten? Ist er ein Geschenk oder verbirgt sich eine Bedrohung dahinter? Was wird geschehen, wenn die Krieger auch nur mit einer Geste in irgendeiner Weise auf diese Erscheinung eingehen? „Erinnert ihr euch an Waiói?“ Oréia denkt in diesem Moment an den legendären Helden Waiói, der vor langer Zeit auf Nichtindianer traf und den Seinen dann erzählte, dass diese Weißen zu festgesetzten Zeiten Reis und Bohnen aßen und Töpfe, Pfannen und Waffen hatten, die kein Indio besaß. Die Krieger sehen sich an, aber ihre Gesichter sagen nicht alle dasselbe in Bezug auf diesen Moment und das, was hier zu tun, zu entscheiden ist. Man blickt auf Oréia, und diesen durchzuckt eine Intuition. Eine Entscheidung bahnt sich an.
Keinen Kilometer entfernt von den Paiter Suruí befindet sich die Expedition des Sertanistas Apoiena Meirelles, eine nur kleine Gruppe von etwa 15 Leuten. Ihre Mission hat eine tiefe Notwendigkeit. Unbemerkt von indianischen Spähern, was höchst selten ist, gelangten sie auf einem Marsch über etwa siebzig Kilometer von Westen durch den Dschungel bis hierher zum vermuteten Stammesgebiet der Paiter. Am vergangenen Tag hatte er selbst, Apoiena, an der Stelle, wo sich Spuren nackter Füße am sandigen Ufer des kleinen Flusslaufs zeigten, das Messer an eine Schnur gebunden, an einem Ast befestigt und sich daraufhin sofort mit seinen Männern zurückgezogen. Nun, einen Tag später, weiß er, dass es zu einer Entscheidung kommen wird – und zwar je nachdem, wie der Führer des Stammes seine Anrede, sein angebotenes Geschenk interpretieren wird. Keinesfalls durfte sich je eine Expedition im Amazonasgebiet sicher fühlen oder grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine eröffnete Kommunikation durch ausgelegte Geschenke ebenso offenherzig aufgenommen und beantwortet würde. Es konnte immer plötzlich ein quer über den Pfad gelegter Stock auftauchen, der eine Expedition unmissverständlich aufforderte, umzukehren. Und nicht alle Expeditionen bekamen solcherart klare Ansagen des unsichtbaren Gegners; wie die Geschichte der Expeditionen bewies, gab es auch Angriffe ohne ein Zeichen der Vorwarnung, wobei alle ihr Leben verlieren konnten.
Werden die Suruí sich zeigen? Hängt das Messer noch an derselben Stelle am Ast, dann haben die Suruí die Verhandlungen abgelehnt und es ist Zeit zum Rückzug. Die Expedition geht davon aus, dass sie inzwischen auch beobachtet wird. Da, wo man auf Indianerspuren stößt, ist man nicht mehr der alleinige Akteur im Gelände. Man ist so nahe dran an einem möglichen Feind, dass man diesem nun auch ausgeliefert ist – man ist selber entdeckt. Die Gruppe beschließt nun, sich zunächst vorsichtig in Richtung der erhofften Kontaktstelle zu bewegen, um zu prüfen, ob inzwischen etwas geschehen ist. Meirelles ist besorgt. Nicht um sein eigenes Leben; eher schon um das seiner Expeditionsgefährten. Nein, er hat eine Nachricht, eine dringende Botschaft an diesen Stamm. Es kommt eine Gefahr, von der die Suruí absolut noch nichts ahnen. Deshalb – es muss klappen, der Kontakt muss funktionieren, hier in der Stille des tiefen Dschungels!
Die Intuition Oréias ist inzwischen einer vollkommenen Klarheit gewichen. Er vertraut seiner Eingebung, weiß, was zu tun ist. Hatte Waiói nicht auch einmal den Übertritt in die Welt der Weißen gewagt, ohne dass ein Massaker geschah? Den Weißen geht niemals ein guter Ruf voraus, aber irgendwo mag eine schmale Öffnung sein zu ihnen, eine Tür, durch die man eintreten kann und es einen Sinn hat. Diese Weißen, die diesen Gegenstand hier hingehängt haben, verstecken sich nicht. So viel ist klar. Sie schleichen nicht im Dickicht umher, um ihnen aufzulauern. Oréia spürt das Angebot, das von der anderen Seite ausgeht. Eine Ahnung sagt ihm, dass sich jemand ihm gegenüber befindet, der wichtig für seinen Stamm sein könnte, sonst hätte sich dieser Unbekannte nicht so weit vor gewagt. Was Oréia nicht ahnt, ist, dass seine Entscheidung, die er im nächsten Moment an seine Krieger weitergeben wird, den Lugar do Contato, den „Platz des Kontaktes“, den Pawentiga schaffen wird, einen Ort, an dem Geschichte geschrieben werden wird, weit über seinen Tod hinaus. „Nimm es ab!“, nickt er einem der Suruí zu. Dieser legt seinen mannshohen Bogen und die Pfeile ab, durchschneidet mit einem scharfen Stein die Schnur und überreicht das fremde Messer seinem Häuptling. Oréia befiehlt, sich vollkommen zu verbergen und zu tarnen, den Ort zu beobachten und nicht zu weichen, solange, bis etwas geschehen werde.
Und es geschieht. Die FUNAI-Expedition hat sich am darauffolgenden Tag vorsichtig zurück begeben zu diesem Ort, von dem man sich den gewünschten Kontakt erhofft. Zwei ihrer Späher melden schließlich, dass das Messer tatsächlich entfernt worden ist. Würde es sich noch an derselben Stelle befinden, hätte dies Ablehnung und Zurückweisung, möglicherweise auch Gefahr bedeutet. Der Wald ist jetzt lebendig. So viel ist der gesamten Gruppe um Apoiena klar, dass sie im Fokus indianischer Augen steht, die das Blätterdickicht des Waldes durchdringen – schärfer, als es ein Weißer vermag. Der Sertanista weiß aber auch, dass er nun den nächsten Schritt wagen und aus der Deckung, die ohnehin keine mehr ist, in angemessener Gebärde hervortreten kann. Er entschließt sich, keinen weiteren Gegenstand – etwa einen Topf – auf die Lichtung zu legen, sondern den direkten Kontakt nun zu wagen.
Hatte man im Morgendunst noch den Ruf eines Tukan und das ferne Gebrüll einer Affenhorde gehört, so ist der Wald jetzt wieder still; nur der unvermeidliche Dreiklang des Mineiro, der typische, sozusagen der rhythmische Grundton, den dieser Vogel dem Großen Wald gibt, ist in der Szene zu hören. Apoiena bewegt sich mit einigen seiner Männer offen in die Lichtung zum „Baum des Austausches“. Er streckt dabei ohne Theatralik oder Ängstlichkeit die rechte Hand mit seiner Innenfläche aus, auf der ein weiteres, kleineres Messer liegt. Selbstverständlich trägt niemand eine Waffe mit sich. Auch der Rest der Expedition, die sich noch im Verborgenen hält nicht – alle Männer haben ihre Waffen niedergelegt. Sie wissen, dass sie beobachtet werden. Weit darüber hinaus wissen sie, dass der Sertanista Apoiena seine Expeditionen in der Spur des Marschalls Candido Rondon (1865-1958) weiterführt, der als Gründer des Indianer-Schutzdienstes im vergangenen Jahrhundert die Losung für jede Begegnung mit Indianern während einer Expedition in die Worte fasste: „Sterben, wenn nötig – töten nie!“ Von dem jungen Waldläufer Apoiena kennt von diesen Männern hier, die ihn begleiten und ihre Haut ebenfalls riskieren, jeder die Einstellung, die ihn antreibt und die ihn schon im Alter von 17 Jahren zu einer Anstellung bei der FUNAI führte: „Ich bevorzuge im Kampf an der Seite der Indianer zu sterben in Verteidigung ihres Landes und ihrer Rechte, als noch bis morgen Abend zusehen zu müssen, wie sie alle als Bettler auf dem eigenen Land zugrunde gehen“.
Die Suruí haben währenddessen zwar ihre Bögen keinesfalls aus der Hand gegeben. Aber alles Weitere geht jetzt sehr schnell, da die gesamte Handlung im Grunde von zwei so besonderen wie besonnenen Männern – Oréia und Apoiena – die Regieführung...