Die Methode des Storytellings in der partizipativen Sozialforschung
Jessica Lilli Köpcke
Gefesselt
Gefesselt am eisernen Stuhl
Überfällt mich an dunklen Tagen ein kaltes Gefühl.
Überwältigt von Erinnerungen an vergangene Zeiten
Als ich noch laufen konnte und auf Pferden reiten.
Die Sehnsucht nach stundenlangem Wandern
Über riesige Steine springen von einem zum anderen
Als ich in Seen und Flüsse sprang
Und unter Wasser die Schwerelosigkeit als absolute Freiheit empfand.
Den ganzen Tag Ski fahren im Winter
Am besten Schuss und dann manchmal hin fallen auf den Hintern.
Im Frühling auf Bäume klettern und dort oben verweilen
Die Landschaften betrachten über weite Meilen.
Der Sommer ausgefüllt von Fahrrad fahren und paddeln.
Im Freibad baden und ab und zu auf einem Pferd aufsatteln.
Der bunte Herbst erinnert einen ans Leben
Wie farbentrachte Blätter fallen lassen und nach Neuem streben.
– Dirk Michelus –
Liest man dieses Gedicht von Dirk Michelus, dann wird einem schnell klar, was die Kernaussage der partizipativen Forschung bedeutet. »Nicht Forschung über Menschen und auch nicht für Menschen, sondern Forschung mit Menschen« (Bergold/Thomas 2010, S. 133). Man bedenke, wie aufwendig ein Forschungsdesign aussehen müsste, um diesen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Der Autor, der selbst seit einem Badeunfall mit einer Tetraplegie lebt, beschreibt darin sehr eindrücklich seine Gefühlswelt und gibt uns damit einen tiefen, unverfälschten Einblick. Das ist die Stärke und Qualität der partizipativen Sozialforschung.
Die Ansätze sind sehr unterschiedlich, die Gemeinsamkeit liegt in dem Aufbrechen von traditioneller Forschungsdichotomie und -hierarchie (vgl. Hedderich/Egloff/Zahnd 2015, S. 9). Über das Leben mit Beeinträchtigung herrscht auch heute noch ein defizit-orientiertes Bild im wissenschaftlichen Diskurs. »Das Vorstellungsbild eines defizitären und tief beschädigten Lebens« (Herringer 2014, S. 66). Durch eine Abkehr von diesem Blickwinkel schaffen wir es, Ressourcen zu sehen, Stärken wahrzunehmen und den Menschen in seiner ganzheitlichen Sichtweise zu betrachten (vgl. ebd.). Partizipative Forschung ist ein Oberbegriff für Forschungsansätze, die soziale Wirklichkeit partnerschaftlich erforschen und beeinflussen. Ziel ist es, soziale Wirklichkeit zu verstehen und zu verändern. Diese doppelte Zielsetzung, die Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigung als Co-Forscher/innen sowie Maßnahmen zur individuellen und kollektiven Selbstbefähigung und Ermächtigung der Partner im Sinne des Empowerment, zeichnet partizipative Forschungsansätze aus (vgl. von Unger 2014, S. 1). Ein weiteres grundlegendes Anliegen der partizipativen Forschung ist es, durch Teilhabe an Forschung mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Es handelt sich also um ein klar wertebasiertes Vorhaben: Soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, die Förderung von Demokratie und andere Wertorientierungen sind zentrale Anliegen (vgl. ebd.). Menschen mit einer Behinderung sollen die Möglichkeit erhalten und auch dazu befähigt werden, aktiv am öffentlichen Leben teilnehmen zu können, was eine Mitgestaltung beinhaltet (vgl. Thesing/Vogt, 2013, S. 157). Daraus resultieren die gleichen Rechte aber auch Pflichten, wie sie jeder in einem gesellschaftlichen Zusammenleben hat (vgl. Raichle, 2005, S. 127, zit. nach John/Jung/Lühr, 2012, S. 67). Es ist auf den Unterschied zwischen dem Begriff der »Teilnahme« und der »Teilhabe« zu achten, denn nicht immer sind diese beiden Begriffe gleichzusetzen, da eine »Teilnahme« häufig keine Möglichkeit zur Mitgestaltung beinhaltet (vgl. Wehr, 2011, S. 6, zit. nach John/Jung/Lühr, 2012, S. 67). Das Ziel der partizipativen Forschung ist es, soziale Wirklichkeit partnerschaftlich zu erschließen. Der gemeinsame Prozess bezieht sich auf das Verstehen und Verändern sozialer Wirklichkeit. Die politische Dimension liegt in der Motivation, einer gesellschaftlich marginalisierten Gruppe eine Stimme zu geben.
Partizipation und wissenschaftliche Forschungsmethoden scheinen einander zu widersprechen. Das Ideal einer Forschung, so wie sie im Rahmen der Naturwissenschaften entwickelt wurde, drückt sich in den sogenannten »Qualitätskriterien« von Objektivität, Reliabilität und Validität aus. Das heißt, die Ergebnisse sollen vom Forschenden unabhängig, wiederholbar und wahr sein, im besten Fall sind sie allgemeine Gesetze, die quasi immer gültig sind. Erkenntnissubjekt bei wissenschaftlicher Forschung sind die Forschenden. Auch in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen sind die untersuchten Menschen »Forschungsobjekt« (vgl. Bergold 2013). Die partizipative Forschung hingegen versucht alle Menschen in den Forschungsprozess mit einzubeziehen, die von dem jeweiligen Thema und der Fragestellung betroffen sind. Mit diesem Forschungsansatz wird eine Nähe zum akademischen Wissenschaftsbetrieb hergestellt, der sich den Anliegen der Disability Studies verwandt fühlt und den Beforschten zu einer Stimme verhelfen will (vgl. Graf 2015, S. 32).
Das vorliegende Forschungsvorhaben schließt sich einer Sichtweise der partizipativen Forschung an, die das Ziel hat, die Sicht der beteiligten Menschen offen zu legen, ihnen eine Stimme zu geben, sodass ihre Interessen, Wünsche und auch Probleme öffentlich werden und in gemeinsames politisches Handeln einfließen können (vgl. Bergold 2013). Im sozialen Miteinander auf Partizipation zu setzen bedeutet anzuerkennen, dass alle Teilnehmenden ihre jeweils eigene Perspektive und Sichtweise haben und dass jede dieser Perspektiven ihre Berechtigung hat; es bedarf also einer gemeinsamen Aushandlung. Bei der Partizipation in Bezug auf Forschung, ändert sich die Situation grundlegend. Es gibt kein privilegiertes Erkenntnissubjekt mehr, sondern alle Beteiligten gewinnen im Forschungsprozess Erkenntnisse. Es gibt in diesem Prozess wissenschaftliche Experten, die über methodisches Wissen verfügen, ihnen stehen aber Experten der Lebenswelt gleichwertig gegenüber (vgl. ebd.).
Daraus ergibt sich die Nähe zwischen Subjekt und Objekt der Forschung, wie sie Graf (2015) beschreibt.
»Partizipative Forschung ist eine Praxis der Forschung, die anders vorgeht. Sie geht davon aus, dass sie die Trennung zwischen ForscherIn und Forschungsgegenstand nicht im strikten Sinne vornehmen kann, weil der Forschungsgegenstand selbst auch ForscherIn ist« (Graf 2015, S. 33).
Häufig wird wie bei Graf (2015) dargestellt dafür ein Zugang gewählt, in dem Interviews mit Menschen mit Beeinträchtigung geführt werden und diese Aussagen dann als Statements in den Forschungsprozess mit einbezogen werden. Durch die Verwendung der Methode des Storytellings ist es möglich, die ForscherInnen mit Beeinträchtigung unmittelbar zu Autoren werden zu lassen, ohne dass diese das wissenschaftliche Schreiben beherrschen müssen. Dadurch wird eine Authentizität erlangt, die bei ausgewählten Ausschnitten aus Interviews dem wissenschaftlichen und kritischen Blick des Wissenschaftlers ausgesetzt werden und somit eine Selektion nach Relevanz für den Diskurs aus Sicht des Wissenschaftlers stattfindet. Andererseits ist diese Beibehaltung der individuellen Tonalität der Autoren auch eine Herausforderung, da keine Vergleichbarkeit der Geschichten stattfinden kann und die Autoren einzelne Abschnitte und Themen, zu denen sie biografisch berichten wollten, unterschiedlich stark in den eigenen Lebensverlauf einbetten und somit manche Geschichten einen tieferen Einblick in die gesamte Lebensgeschichte bieten, während andere nur biografische Ausschnitte ausführlich darlegen.
Die präsentierten Lebensbereiche der Autoren sind autobiografisch. Noch stärker als die »Biografie« impliziert die »Autobiografie« die schriftliche Niederlegung lebensgeschichtlicher Erfahrungen. Es liegt somit entsprechend deutlicher die Intention des Subjekts zugrunde, seine Erinnerungen, d. h. die von ihm hergestellten Sinn- und Bedeutungszusammenhänge seines Lebens mit der sozialen Außenwelt zu kommunizieren (vgl. Brems 2002).
Den Autoren wurde eine kurze Handreichung gegeben, an der sie sich im Schreibprozess orientieren konnten. Die zentralen Fragen dabei lauteten:
• Warum erzähle ich meine Story?
• Wem erzähle ich meine Story?
• Wie erzähle ich meine Story?
Zudem sollte sich an der klassischen Heldenreise im Storytelling nach Joseph Campbell (1949)...