DAS MIKROBIOM – EINE KOMPLEXE LEBENSGEMEINSCHAFT
»Kommt herein, groß und klein!« Überall auf und in unserem Körper beherbergen wir mikroskopisch winzige, mit dem bloßen Auge nicht zu erkennende Wesen. Sie tummeln sich unter anderem auf der Haut, in der Mundhöhle, in der weiblichen Scheide und im Darm.
DIE ENTSCHLÜSSELUNG
Das Staunen in der Medizin über das Volk in unserem Darm lässt nicht nach. Die Entdeckung der Darmmikroben hat das Verständnis von Gesundheit und Krankheit in fast allen Fachdisziplinen durcheinandergewirbelt und tut es immer noch. Vor einigen Jahren besaß man nur die Möglichkeit, bei Erkrankungen des Darms Stuhlproben zu entnehmen und auf einem Nährmedium im Labor einige wenige, im Kot vorhandene Keime anzuzüchten und nachzuweisen. Durch neuartige Methoden, das sogenannte next generation sequencing, ist jedoch die Analyse des sehr großen Keimspektrums des Darms möglich geworden. Vor zehn Jahren startete man analog zum Humangenomprojekt, in dessen Rahmen von 1990 bis 2003 das menschliche Erbgut vollständig entschlüsselt wurde, das Human Microbiome Project (HMP). Das HMP war eine Initiative des amerikanischen National Institute of Health, für das 5 000 menschliche Darmproben untersucht wurden. Ziel des Projekts war es, alle auf dem und im Körper lebenden Mikroorganismen zu identifizieren und ihre Funktion zu analysieren. Dazu entnahm man Mikroben von der Haut, aus Mund, Verdauungstrakt, Urogenital- und Atmungstrakt. Von Interesse waren in diesem Zusammenhang auch die Fragen, wie uns die Mikroben helfen, gesund zu bleiben, und wie sie uns nützlich sein können bei der Behandlung von Krankheiten.
Im Jahr 2012 war es dann so weit. Den Forschern war es innerhalb von nicht einmal fünf Jahren gelungen, die Gene der Mikroben, die sich im menschlichen Körper befinden, zu entschlüsseln, darunter Bakterien und Einzeller wie Hefen und Protozoen. Bakterien finden sich eindeutig in der Überzahl: Fast 99 Prozent der entschlüsselten Gene gehören zu ihnen, genauer gesagt sind sie den ca. 1 000 verschiedenen Bakterienarten zuzuordnen. Die Zahl der unterschiedlichen Stämme wird allerdings permanent nach oben korrigiert. Die Gesamtheit der Gene aller Mikroben, also eigentlich der Bakterien, im menschlichen Körper wird als Mikrobiom bezeichnet. Weil fast alle Bakterien im Darm leben, setzt man im allgemeinen Sprachgebrauch das Wort Mikrobiom mit den Darmbakterien gleich.
Vor allem in der Medizin ist das Interesse groß, neue Erkenntnisse zur Darmflora zu gewinnen, die eines Tages für die Behandlung von chronischen Krankheiten nützlich sein oder vielleicht sogar den Durchbruch zum Beispiel in der Alzheimerforschung bringen könnten (siehe >).
Inzwischen sind im zentralen Studienregister der US-nationalen Gesundheitsinstitute mehr als 2 000 Studien zum Thema Mikrobiom registriert. Hierzu zählen aktuelle Studien zu Mikrobiom und Schwangerschaft (Frühgeburt), zu Mikrobiom und Entstehung von Diabetes Typ 2 sowie zu Mikrobiom und dem Verlauf von entzündlichen Darmerkrankungen. Molekulargenetische Methoden wendet man heute auch im Rahmen von labordiagnostischen Untersuchungen bei Darmerkrankungen an (zum Beispiel bei Morbus Crohn, Pilzerkrankungen etc.).
EINE WUNDERBARE FREUNDSCHAFT
Zwischen uns und unseren winzigen Gästen besteht eine Symbiose: Wir geben ihnen Kost und Logis sowie ein für sie optimal warmes Milieu im dunklen Darm – denn die Dunkelheit lieben sie ganz besonders. Im Gegenzug zersetzen die Bakterien unsere Nahrung, spalten Zuckermoleküle, produzieren kurzkettige Fettsäuren (siehe >), Vitamine (B1, B2, B6, B12, K2, H) und gewinnen alle essenziellen und nicht-essenziellen Aminosäuren. Sie beseitigen giftige Schadstoffe, die bei der Verdauung wie zum Beispiel beim Gallensäureabbau entstehen, und sorgen mit ihren eigenen Stoffwechselprodukten für einen sauren pH-Wert im Darm. Dieser schützt vor vielen gefährlichen Durchfallerregern wie Salmonellen oder Kolibakterien, die nur in einem weniger sauren Milieu gedeihen und sich vermehren können.
Darüber hinaus üben die Bakterien im menschlichen Darm noch weitere Berufe aus. Tatsächlich scheint die Arbeit der Mikrobiota Auswirkungen zu haben auf fast alle körperlichen und auch auf viele geistige und psychische Vorgänge. So wie das Herz das Blut in jede Körperregion verteilt, indem es schlägt, oder die Nieren Giftstoffe aus dem Blut filtern und ausscheiden, ist auch das Mikrobiom ein Global Player:
Es reguliert den Energiehaushalt über das Herz-Kreislauf-System.
Es bestimmt das Gewicht.
Es stärkt die Immunabwehr.
Es hat ein Wörtchen mitzureden, ob wir an Diabetes oder an einer Fettstoffwechselstörung erkranken und beantwortet auch die Frage, ob ein Tumor wächst oder nicht.
Vor allem für ein funktionierendes Immunsystem sind die Darmbakterien und ihre Arbeit unersetzlich, denn die Zellen des Immunsystems sind abhängig von verschiedenen Substanzen, die im Darm hergestellt werden. Ohne Mikrobiom würde sich das enterische Immunsystem nicht normal entwickeln (siehe auch >).
Doch der Einfluss des Mikrobioms ist noch größer: Es entscheidet, ob wir ein Medikament vertragen und welche individuelle Dosis wir von diesem benötigen. Und selbst Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer können laut neuesten Studien ihren Ursprung im Darm haben. Eines ist klar: Ohne Mikrobiom geht im Körper nichts (gut). Wissenschaftler betrachten es darum mittlerweile als ein eigenständiges Organ. Der Begriff »Darmorgan« ist inzwischen geläufig.
Zusammensetzung der Darmflora – von null auf hundert
Erstaunlicherweise kommt ein Neugeborenes mit nur ganz wenigen Bakterien im Darm auf die Welt. Erst bei der Geburt erhält es Keime über den Geburtskanal aus der Scheide der Mutter, aus ihrer Blase und auch Bakterien von der Haut der Hebamme und der Krankenschwester oder dem Arzt. Entbindet die Mutter per Kaiserschnitt, dann stammen die Bakterien von ihrer Haut. Auch beim Stillen gibt die Mutter Bakterien von ihren Brustwarzen an den Säugling weiter. Die ersten wenigen Keime im Darm des Neugeborenen vermehren sich in den folgenden Wochen und Monaten rasant. Später lässt sich an der Zusammensetzung der Darmflora immer noch erkennen, ob ein Kind per Kaiserschnitt geboren und ob es gestillt wurde. Kaiserschnittkinder besitzen grundsätzlich weniger Bakterien der Gattungen Bacteroides und Bifidobacterium.
Darmbakterien sind auch die Antwort auf ein Rätsel, das die Wissenschaft lange Zeit in Zusammenhang mit der Muttermilch beschäftigte. Die Muttermilch enthält Kohlenhydrate aus zwei Einfachzuckern, sogenannte Oligosaccharide. Ein Säugling kann Oligosaccharide in seinem Darm aber gar nicht aufnehmen und verstoffwechseln. Die große Frage lautete: Wozu sind sie dann überhaupt in der Muttermilch enthalten?
VITAMINE AUS DEM DARM
Vitamin | wofür hilfreich? | enthalten |
Vitamin B1 (Thiamin) | für starke Nerven (Erregungsübertragung von Nerv zu Muskel, dient als Coenzym) | in Getreideprodukten, Hülsenfrüchten, Walnüssen |
Vitamin B2 (Riboflavin) | für Eiweiß- und Energiestoffwechsel | in Milch- und Vollkornprodukten |
Vitamin B6 (Pyridoxin) | für starke Nerven und Abwehrkräfte | in Fleisch, Kartoffeln, Kohlgemüse, Avocado |
Vitamin B12 (Cobalamin) | für Abbau von Fettsäuren, Blutbildung | in Fleisch, Fisch, Eiern, Milchprodukten, Sauerkraut |
Vitamin K2 (Menachinon) | für kräftige Knochen und durchlässige Arterien | in Grünkohl, Sojaöl, Kichererbsen |
Vitamin H (Biotin) | für gesunde Haut und Nägel | in Nüssen, Haferflocken, Sojabohnen |
Im Rahmen der Mikrobiomforschung fand man heraus, dass diese Oligosaccharide gar nicht für das Baby selbst bestimmt sind, sondern den Laktobazillen im Darm des Kindes als Nahrung dienen. Dank der Muttermilch vermehren sich diese speziellen Keime in den ersten Lebenswochen sehr rasch, und das wiederum ist überlebensnotwendig für das Kind. Die von den Bakterien produzierte Milchsäure sorgt für einen sauren pH-Wert im Darm – der ultimative Immunschutz gegen gefährliche Krankheitskeime von außen.
Beim Abstillen oder wenn von Fläschchennahrung auf feste Nahrung umgestellt wird, besitzt der Säugling ein erstes Mikrobiom mit einer kleinen Anzahl von verschiedenen Bakterienstämmen. Erst wenn ein Kind zwei Jahre alt ist, ähnelt sein Mikrobiom dem eines Erwachsenen.
Sie ahnen es bereits: Im Lauf des Lebens verändert sich die Zusammensetzung der Darmflora beim Menschen. Das gilt allerdings nicht nur für die ersten Lebensjahre, sondern sogar bis ins hohe Alter hinein. Das ist zum Beispiel erkennbar am Verhältnis der zwei häufigsten Bakterienstämme im Darm: Firmicutes und Bacteroides. Französische Forscher fanden heraus, dass dieses Verhältnis in Abhängigkeit vom Lebensalter unterschiedlich ist. Es liegt in der Kindheit bei 0,4, beim Erwachsenen bei 11 und im Alter wieder bei 0,6. Inzwischen nutzt man dieses Wissen für labordiagnostische Untersuchungen. Ein höherer Firmicutes-Anteil lässt eine mögliche Gewichtszunahme von jährlich zehn Kilogramm vermuten.
Wissenschaftler rätseln noch, warum sich das Mikrobiom beim Erwachsenen im Alter noch einmal deutlich in der Zusammensetzung verändert. Bei älteren Menschen werden...