2 Ausgangslage
2.1 Verluste
Bewohnerinnen, die in einer Institution für betagte Menschen leben, haben viele Verluste hinter sich. Der Beruf musste aufgegeben werden, Hobbys wie Wandern und Reisen wurden immer weniger möglich. Die schwere Erkrankung oder der Tod von Verwandten und Freunden musste miterlebt werden. Schließlich musste das eigene Zuhause aufgegeben werden. Die eventuelle Trennung von einem Haustier hinterlässt ebenfalls schmerzliche Lücken.
Der Rücken meldet sich schon bei geringen Belastungen oder die schmerzenden Gelenke machen immer mehr zu schaffen.
So viele Verluste! Aber das wohl Schlimmste kommt oft noch. Am meisten Angst macht es betagten Menschen, wenn sie realisieren, dass sie immer mehr vergessen, die einfachsten Gegenstände dauernd suchen müssen und nichts mehr reibungslos klappt. Diese Menschen realisieren, dass sie die Kontrolle über sich selber verlieren.
2.2 Vergangenes und Gegenwärtiges
… vermischt sich bei beginnender Verwirrung
Beispiel aus der Praxis – Frau Gehrig
Frau Gehrig kommt in ein Alters- und Pflegeheim im mittleren Stadium ihrer Demenz. Teilweise ist sie noch orientiert, oft lebt sie aber in ihrer eigenen Welt. Durch genaues Hinhören konnte eine Situation aus ihrer Sicht evaluiert werden:
Frau Gehrig erwacht aus tiefem Schlaf. Sie überlegt (bzw. ihre nur zum Teil verständlichen Worte und Gesten ergeben Folgendes): »Warum ist es so hell, ich lasse doch immer die Rollläden herunter? … Und wo sind denn meine Vorhänge? Diese sind ja gelb!«
Suchend schaut sie im Zimmer umher. »Das ist der Gipfel, da liegt ein fremder Mensch in meinem Zimmer. So eine Frechheit!« Erschrocken schüttelt sie den Kopf. Dann liegt sie einen Moment lang ruhig da, beginnt aber bald wieder zu reden.
»Ach so, ich bin ja nicht zu Hause, ich bin …??? … Ja, wo bin ich eigentlich??? … Bin ich im Krankenhaus oder bin ich zur Erholung hier??? … Aber es geht mir ja schon besser. Heute gehe ich nach Hause. … Ich rufe Brigitte (die Tochter) an.« Frau Gehrig greift mit der Hand neben das Bett, tastet suchend umher.
»Wo ist denn die Kommode mit dem Telefon, sie war doch immer neben dem Bett? … Alles ist durcheinander … Wenigstens lege ich den Schlüssel bereit, damit ich ihn dann gleich zur Hand habe.« Sie sucht unter dem Kissen und unter der Bettdecke, findet aber nichts. »Nein, wo ist jetzt der Schlüssel? Es ist zum Verzweifeln!« Erneut schüttelt sie seufzend den Kopf.
Es kann hilfreich sein, eine Bewohnerin einige Minuten lang zu beobachten, um ihr gezielt helfen zu können. Mit wenig Übung gelingt es aber nach einigen Augenblicken, die Stimmung einer Bewohnerin wahrzunehmen und dementsprechend auf sie zuzugehen, wie später in diesem Buch beschrieben wird.
Es ist nicht verwunderlich, wenn Menschen, die sich so fühlen wie Frau Gehrig im Beispiel oben, oft aufgebracht sind. Vielleicht schimpfen sie viel, um den Frust loszuwerden oder beschuldigen andere, ihr Kleid gestohlen zu haben, das sie so liebten, das aber schon lange nicht mehr vorhanden ist.
Menschen in dieser Phase sind auf einen verständnisvollen, empathischen Umgang angewiesen. Die 12 Schwerpunkte, welche in diesem Buch beschrieben sind, werden das unterstützen.
2.3 Bedürfnisse
… die sich hinter Verhaltensauffälligkeiten verstecken
Ich gehe davon aus, dass alle Menschen ähnliche Grundbedürfnisse haben, nämlich:
• Wertschätzung
• Ernst-genommen-Werden
• Selbstwertgefühl
• Selbstbestimmung
• Sicherheit
• sinnvolles Dasein
Es gibt viele Gründe, warum Menschen Mankos in einigen dieser Bedürfnisse aufweisen. Sehr oft hat das mit Umständen, die sich in ihren Leben ergeben haben, zu tun. Auch reagieren verschiedene Menschen auf dieselben Umstände sehr unterschiedlich.
Es ist oft nicht möglich und aus meiner Sicht auch nicht sehr wesentlich, bei hochbetagten Menschen die Gründe von Verhaltensauffälligkeiten zu erkennen. Viel wichtiger scheint mir das Verständnis der Betreuenden, dass sich hinter der Verhaltensauffälligkeit ein bestimmtes Bedürfnis versteckt. Der Unterschied zu früheren Lebensabschnitten ist, dass hochbetagte Menschen (besonders mit beginnender Demenz) kaum mehr die Möglichkeit haben, Zusammenhänge zwischen ihrem Verhalten und der Reaktion der Mitmenschen zu erkennen.
Dafür sind sie offener, es anzunehmen, wenn Mitmenschen (z. B. Pflegende) auf ihre Bedürfnisse eingehen, welche sich hinter ihren Verhaltensauffälligkeiten verbergen.
Unterschiedliche Bedürfnisse
In einer Praxisbegleitung lerne ich an einem Tag zwei sehr verwirrte Frauen kennen. Beide reden vorwiegend in aneinandergehängten Silben, die keinen erkennbaren Zusammenhang ergeben (Neuwortbildung). Beide wehren sich massiv verbal und tätlich gegen die Pflege.
In der Emp-Pflege bestimmt nicht die Verhaltensweise einer pflegebedürftigen Person (in diesem Beispiel die tätliche Abwehr) das Vorgehen in der Pflege, sondern die Bedürfnisse, die sich hinter diesem Verhalten verbergen.
Bei der ersten Frau zeigt die Körpersprache Unsicherheit und Verkrampfung. Im Tonfall sind klagende und weinerliche Laute zu hören. Einzelne Worte, die verstanden werden können, bestätigen diese Beobachtung: »Ich weiss nicht … wo ist … nein, das …« usw.
Bei der Pflege scheint diese Frau nicht zu verstehen, was mit ihr passiert, was sie sehr verunsichert. Sie braucht Sicherheit und Bestätigung. Das scheinen ihre momentanen Bedürfnisse zu sein.
Bei der zweiten Person, welche die gleichen Verhaltensauffälligkeiten zeigt wie die erste Bewohnerin, kann aus der Körpersprache Abwehr und aus dem Tonfall Empörung und Ärger wahrgenommen werden. Sie scheint nicht zu erkennen, dass sie Hilfe braucht und findet es eine Frechheit, dass etwas an ihr gemacht wird, was ihre Privatsache ist. Sie braucht Wertschätzung und möchte ernst genommen werden.
Das gleiche Verhalten gründet also auf ganz verschiedenen Bedürfnissen.
Auch hinter Forderungen sind tiefe Bedürfnisse verborgen
Fordernde Menschen, denen es die Pflegeperson (in der Folge PP) kaum recht machen kann, haben oft das tiefe Bedürfnis, ernst genommen zu werden und Wertschätzung zu erfahren. Mit ihren Forderungen, die an Schikane grenzen können, verhindern sie häufig genau das, was sie brauchen würden.
Erfahren diese Menschen, dass jemand wirklich mit Empathie auf ihre Bedürfnisse eingeht (die sie zwar in sich tragen, aber gar nicht bewusst formulieren können), ist ihr unbewusstes Ziel erreicht.
Betagte Menschen können Verhaltensauffälligkeiten erstaunlich schnell ablegen, wenn sie Werte erfahren, die sie unbewusst suchen.
Ich kann sehr gut verstehen, wenn diese Aussage Stirnrunzeln auslöst.
Wie oft haben PP mir in Praxisbegleitungen berichtet, dass sie bei Frau X oder Herrn Y immer wieder versucht haben, auf deren vielfältigen Wünsche einzugehen. Die Betroffenen seien danach aber kein bisschen zufriedener gewesen. Meine Antwort war jeweils : »Angenommen, Sie erfüllen alle Wünsche, die solche Bewohnerinnen äußern, (was ja aus Zeitgründen kaum möglich ist), wäre die betroffene Person danach zufrieden?« Die Pflegenden sind sich mit mir einig, ein solches Verhalten würde diese Menschen nicht zufriedenstellen. Und doch ist es möglich, Bewohnerinnen mit sehr vielen Wünschen und Forderungen während der alltäglichen Pflege und dem alltäglichen Umgang, Zufriedenheit zu vermitteln und das ohne vermehrten Zeitaufwand.
Zur Veranschaulichung möchte ich die Pflege während einer Praxisbegleitung beschreiben, wie ich das bei den Erklärungen der verschiedenen Schwerpunkte in der Folge immer wieder tun werde.
Beispiel aus der Praxis – Frau Leitner
Frau Leitner ist orientiert und teilweise gelähmt. Sie ist auf den Rollstuhl angewiesen und hat viele Sonderwünsche. Ich informiere sie, dass ich heute mit zwei weiteren PP bei ihrer Pflege im Hintergrund anwesend sein werde, dies wegen einer Weiterbildung. Damit ist Frau Leitner einverstanden. Wir im Hintergrund verhalten uns ruhig, nehmen...