Einleitung
Meine Mutter starb mitten im Sommer, als alles in voller Blüte stand. Sechzehn Monate waren seit dem Nachmittag vergangen, an dem sie vom Arzt nach Hause gekommen war und erfahren hatte, dass sie Brustkrebs hatte, sechzehn Monate mit Chemotherapie, Ultraschall-Untersuchungen und verzweifelten Versuchen, an den Ritualen festzuhalten, die Normalität bedeuteten. Wie immer tranken wir morgens unseren Orangensaft und nahmen unsere Vitamintabletten, nur dass sie zusätzlich die weißen, ovalen Tabletten nahm, die angeblich die Verbreitung der Krebszellen verhinderten. Nach der Schule fuhr ich sie zu ihren Untersuchungsterminen, und auf dem Weg nach Hause versprach sie mir, dass sie weiterleben würde. Weil ich ihr unbedingt glauben wollte, glaubte ich ihr, auch als sie erst ihr Haar, dann ihre Würde und schließlich die Hoffnung verlor. Das Ende kam schnell, und wir waren nicht darauf vorbereitet. Am 1. Juli hatte sie sich noch im Garten gesonnt, am 12. Juli, vor Tagesbeginn, war sie tot.
Meine Mutter war zweiundvierzig Jahre alt, als sie starb, und hatte gerade die Hälfte ihres Lebens erreicht. Ich war kurz zuvor siebzehn geworden. Meine Schwester war vierzehn, mein Bruder neun, und mein Vater hatte keine Vorstellung, wie er die Aufgabe, für uns drei zu sorgen, zusätzlich zu seiner eigenen Trauer bewältigen sollte. Bevor der Krebs uns auf vier reduzierte, waren wir in meinen Augen eine völlig typische Familie aus den Vororten New Yorks: Ein Vater, der zu seiner Arbeitsstelle in Manhattan pendelte, eine Mutter, die bei den Kindern zu Hause blieb, ein Haus in einer sorgfältig gepflegten Siedlung, ein Hund, zwei Autos, drei Fernseher. Tragische Ereignisse sollten ein Haus wie unseres verschonen und nicht mit Wucht zur Tür hereinplatzen.
Wie die meisten anderen Familien, in denen die Mutter stirbt, kamen wir so gut wie möglich damit zurecht, indem wir nämlich jedes Gespräch über den Verlust mieden und genau da weitermachten, wo wir aufgehört hatten. Wir hatten unsere Gefühle nie besonders gezeigt, und jetzt hatten wir keine Ahnung, wie wir trauern sollten. Wir hatten weder Freunde noch Verwandte, die etwas Ähnliches durchgemacht hatten, es gab keine Verhaltensmuster, kein bereitstehendes Hilfssystem. Im ersten Jahr machten wir weiter mit Schule, Ferien und alle zwei Monate einem Friseurbesuch, als wäre unsere Mutter, das zentrale Mitglied unserer Familie, so entbehrlich, dass ihr Fehlen kaum mehr als eine Neuordnung der Aufgaben im Haushalt erforderte. Wut, Schuldgefühle, Verzweiflung, Trauer – all diese Gefühle unterdrückten wir, sie brachen nur in kurzen Entladungen hervor, wenn wir sie nicht länger unter Verschluss halten konnten.
Als ich im Herbst 1982 auszog, um mein Studium zu beginnen, ging ich in den Mittleren Westen mit dem Wunsch, Journalistin zu werden, und der Entschlossenheit, das Leben so auszukosten, wie meine Mutter es nie getan hatte. Sie war 1960 mit einem Abschluss in Musikwissenschaften und einem Verlobungsring vom College abgegangen, und kurz darauf wurde ein Familienhaus in einem Vorort ihr neues Fachgebiet. Mein Fachgebiet, beschloss ich, würde die Welt sein. In den Jahren nach ihrem Tod durchstreifte ich Amerika im Auto, studierte Kafka und de Beauvoir, hatte Verhältnisse mit Männern der unterschiedlichsten ethnischen Herkunft, reiste als Rucksacktouristin allein durch Europa. Aber wo immer ich auf Reisen war, trug ich eine Traurigkeit in mir, die ich nicht abschütteln konnte, sosehr ich mich auch bemühte. Jemand stirbt, man weint, dann geht das Leben weiter: Das war kein Geheimnis. Viel schwerer zu verstehen war es, dass dieser Verlust den Rest meines Lebens prägen würde.
Sieben Jahre vergingen, bis mir eine wesentliche Wahrheit über die Trauer klar wurde – je mehr man sie vermeidet, desto heftiger bleibt sie in einem. Man setzt sie nur frei, wenn man die Zähne zusammenbeißt und den Schmerz zulässt.
Als ich das verstanden hatte, lag mein College-Abschluss schon ein paar Jahre zurück, und ich arbeitete für eine Zeitschrift in Knoxville, Tennessee, die ihre Büros in einem zwölfstöckigen Block aus rotem Backstein hatte.
Als meine Mutter starb, kannte ich kein anderes junges Mädchen, das seine Mutter verloren hatte. Ich fühlte mich entsetzlich und unwiderruflich alleingelassen. Auf dem College, wo meine neuen Freunde nur so viel von mir erfuhren, wie ich bereit war mitzuteilen, wussten nur einige wenige, dass meine Mutter gestorben war. Abgesehen davon, dass ich nicht über ihren Tod sprechen konnte, ohne in Tränen auszubrechen, fürchtete ich mich vor dem Mitleid der anderen. Durch den Verlust war ich als andersartig gezeichnet, als Außenseiterin, eine Waise, der das Mitleid der anderen gebührte, wo ich mich doch verzweifelt nach der Anonymität der Menge sehnte. In meinem Schlafraum und meiner Studentinnengruppe hatte ich das Gefühl, mir hafte ein glutrotes Stigma an, ein Zeichen, das nur ich sehen konnte, als persönliche Erinnerung an die Quelle meiner Scham. Die anderen neuen Studenten hatten Mütter, die Briefe schrieben, Pakete schickten und jeden Sonntagnachmittag anriefen. Wenn meine Kommilitoninnen sich mit dem Telefon in eine ungestörte Ecke zurückzogen, saß ich im Schneidersitz auf meinem Bett und tat so, als sei ich in ein Buch über die Menschheitsgeschichte vertieft. In Gesprächen drückte ich mich so ausweichend aus wie ein Politiker, der in die Enge gedrängt wird, erzählte von »meiner Familie«, um nicht »meine Eltern« sagen zu müssen, und bastelte mit großer Sorgfalt Sätze, in denen meine Mutter nie in der Vergangenheitsform erwähnt wurde.
Doch wenn ich allein war, durchforstete ich die Uni-Bibliothek und die Buchläden in der Umgebung nach Büchern, die über den Verlust der Mutter etwas zu sagen hatten. In jedem Buch über die Beziehung zwischen Mutter und Tochter schlug ich schnell das Kapitel auf, in dem es um den Tod der Mutter ging, um dann festzustellen, dass die Autoren annahmen, die Leserin wäre bereits zwischen vierzig und fünfzig, wenn ihre Mutter starb. Ich hingegen war achtzehn. Mit diesen Büchern konnte ich nicht viel anfangen. Dasselbe traf auch auf wissenschaftliche Texte über Kinder zu, die ihre Eltern verloren hatten, wobei die Gruppen nicht nach dem Geschlecht unterschieden wurden. Ich fand nichts über Mädchen, die ohne Mutter heranwuchsen, und auch nichts über die Probleme, die – wie ich langsam merkte – dadurch auf sie zukamen.
Im Jahr 1986, als ich in meinem letzten Studienjahr war, schnitt mir eine Freundin aus der Chicago Tribune die Spalte »Life in the 30’s« von Anna Quindlen aus. Das war kurz vor dem fünften Todestag meiner Mutter, und ich las den Artikel auf der S-Bahnfahrt zu meinem Aushilfsjob viermal.
»Meine Mutter starb, als ich neunzehn war«, schrieb Anna Quindlen. »Lange Zeit reichte es, wenn man das über mich wusste. Es war eine knappe Beschreibung meiner emotionalen Verfassung: ›Wir treffen uns in zehn Minuten in der Halle – ich habe langes braunes Haar, bin ziemlich klein, trage einen roten Mantel und habe mit neunzehn meine Mutter verloren.‹«1 Das war das erste Mal, dass ich von einer Frau hörte, die die Gefühle offen eingestand, die ich auch hatte – haargenau dieselben Gefühle.
Vor diesem Ereignis hatte ich an eine frühere Schulfreundin geschrieben: »In letzter Zeit habe ich das fast unwiderstehliche Verlangen, auf Leute, die ich kaum kenne, zuzugehen und zu sagen: ›Meine Mutter starb, als ich siebzehn war.‹ Natürlich mache ich das nicht, aber der Drang ist da. Ich möchte es sagen, als wäre damit alles, was es über mich zu wissen gibt, erklärt, und manchmal denke ich, dies ist tatsächlich der Fall.«
In einem Punkt hatte ich recht: Der Tod meiner Mutter war das entscheidendste, eindrücklichste und einflussreichste Ereignis in meinem Leben. Darum herum organisierte ich mein Leben, es war der Brennpunkt meiner Identität und der Standard, an dem ich alle anderen Schwierigkeiten des Lebens maß. Eine schlechte Note für ein Referat konnte mich nicht aus dem Gleis werfen, wenn ich daran dachte, was ich mit siebzehn schon erlebt hatte. Doch der Verlust einer Beziehung, einer Arbeitsstelle oder eines Gegenstandes konnte meine Welt gefährlich ins Wanken bringen.
Als ich nach und nach lernte, über den Tod meiner Mutter zu sprechen, begegnete ich anderen Frauen, die ihre Mutter als Kinder oder als Jugendliche verloren hatten. In unseren offenen und ausführlichen Gesprächen erkannten wir Gemeinsamkeiten, die uns von anderen Freundinnen unterschieden: ein deutliches Gefühl des Mangels einer Familie; ein kleines Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit; das allgemeine Gefühl, in der emotionalen Entwicklung »stecken geblieben« zu sein, als wären wir dem Alter, in dem wir unsere Mutter verloren haben, nie entwachsen; der Wunsch, in einer Beziehung vom Partner bemuttert zu werden, der unsere Bedürfnisse unmöglich erfüllen konnte; und das Bewusstsein, dass der frühe Verlust uns geprägt, gestählt und auch frei gemacht hat, Veränderungen vorzunehmen und Entscheidungen zu treffen, die wir sonst nicht getroffen hätten. Diese Frauen verstanden, warum mein Zug plötzlich, als ich siebzehn war, entgleist war und mich in einer fremden Umgebung ausgeladen hatte, ohne Landkarte und ohne Rückfahrkarte nach Hause, denn sie hatten genau dasselbe erlebt.
Wenn wir über die Einzelheiten hinausblicken – Krebs, Selbstmord, Flucht der Mutter vor der Familie –, ähneln sich unsere Erfahrungen auf bedrückende Weise. Manchmal benutzen wir sogar dieselben Worte, um sie zu beschreiben: Meine Mutter war die Kraft, die die Familie zusammengehalten hat. Früher hatte ich ein Zuhause, aber nachdem meine Mutter gestorben war, war es...