KAPITEL 1
EIN KIND SEINER ZEIT UND UMGEBUNG
Einer musste ja in den sauren Apfel beißen! Was blieb ihm aber anderes übrig? Schließlich hatte die Mutter ihn gebeten, nach dem kleinen Zweiggeschäft der Familie Reisch in Kitzbühel zu schauen. Sein schwerkranker Bruder Rudolf hatte es mehr schlecht als recht geführt, bis ihn die bereits während seiner Lehrzeit eingefangene Tuberkulose endgültig aufs Krankenlager zwang. Missmutig blickte Franz Reisch durch das Fenster des Erste-Klasse-Abteils der „Giselabahn“ hinaus auf das nebelfeuchte Brixental. Der hochaufgeschossene Mann in den späten Zwanzigern putzte umständlich seinen Zwicker, wodurch die Luft draußen aber auch nicht klarer wurde. Aus den tiefhängenden Wolken rann ein feiner Nieselregen. Kein Mensch war auf den abgeernteten, nassen Wiesen und Feldern zu sehen. Kurz gab eine Wolkenlücke den Blick frei auf die unteren Hänge der Hohen Salve, überzuckert vom ersten Schnee. Darunter die Häuser des Marktes Hopfgarten, zusammengedrängt um die prächtige barocke Pfarrkirche mit den hoch aufragenden Zwillingstürmen, die selbst in dieser Novemberödnis noch etwas Zuversicht verbreitete.
Franz Reisch wusste nur zu gut, dass die Menschen hier im Brixental nichts zu lachen hatten. Schließlich hatte 1875 die Eröffnung der Salzburg-Tiroler Bahn den unvermittelt mit der „großen Welt“ verbundenen Gemeinden nicht nur Gutes gebracht. Nun, 15 Jahre später, litten die fast noch mittelalterlich wirtschaftenden Bauern unter dem Preisverfall durch importierte Agrargüter, und das Kleingewerbe tat sich schwer mit den preislich günstigen und oft auch hochwertigen Industrieprodukten, die mit der Eisenbahn ins Tiroler Land kamen. Wenn er nur an die sogenannte Sensenfabrik von Johann Zimmermann in Oberndorf dachte! Da gab es außer dem wassergetriebenen Hammerwerk keine einzige Maschine. Gedengelt und geschliffen wurde noch von Hand. Und auch der unproduktive Bergbau hier im Brixental und drüben in Kitzbühel lag in den letzten Zügen.1
Der junge Kaufmann schüttelte den Kopf. Von seiner Heimatstadt Kufstein aus war er weit herumgekommen im deutschsprachigen Raum und wusste sehr wohl, wie „draußen“ gewirtschaftet wurde.
In wenigen Minuten würde er in Kitzbühel ankommen. Franz Reisch strich sich über den gepflegten Schnurrbart, hob den bewährten ledernen Reisekoffer mit den verkratzten Metallecken aus dem Gepäcknetz, drückte den flachen dunkelgrauen Hut auf seinen blonden Lockenschopf und schlüpfte in den aus schwerem britischen Tweed gefertigten Ulster-Mantel. Mit ihm stiegen drei weitere Reisende aus, Bauern und Handwerker aus dem Umland. Reisch ging durch den vornehmen klassizistischen Bahnhof und marschierte mit weit ausholenden Schritten im Nieselregen am Rande der geschotterten Hauptstraße entlang, bis eine Gasse nach rechts hineinführte zwischen die heruntergekommenen Häuser des alten Bergarbeiterstädtchens. Die wenigen Einheimischen, die dem gut gekleideten Fremden begegneten, erwiderten seinen freundlichen Gruß mit scheuer Zurückhaltung. Bald hatte Reisch den Stadtplatz passiert, dessen Pflaster große schadhafte Stellen aufwies, und das große dunkle Haus erreicht, in dem sein jüngerer Bruder Rudolf eine Lebzelterei und Konditorei betrieben hatte. Dem Kranken ging es schon sehr schlecht; er starb am 12. Dezember 1890.2
Es dauerte nicht lange, bis Franz Reisch das vom Bruder hinterlassene Geschäft wieder einigermaßen in Schwung gebracht hatte. Die Lebzelter beschäftigten sich mit dem Handel und der Verarbeitung von Honig. Sie kauften Honig und Bienenwachs bei den Bauern auf. Das Wachs, das die Bauern lieferten, schickte Franz Reisch seinem Bruder Josef nach Innsbruck zur Verarbeitung und bekam die fertigen Kerzen und Wachsstücke geliefert. Damit versorgte die Firma Reisch alle Kirchen im Umkreis, und auch die Bauern handelten für das Wachs die Kerzen ein. Hauptgeschäft war aber der aus dem Honig gefertigte Zelten, ein Lebkuchen, der in den umliegenden Dörfern besonders in der Weihnachtszeit sehr gefragt war und im Sommer auf die Almen geschickt wurde. Ein weiteres populäres Produkt der Firma Reisch war ihr in der Konditorei gebrannter Kaffee.
In den Jahren 1893 bis 1895 investierte Reisch einen guten Teil des ihm zustehenden Erbes in ausgedehnte Reisen. Der Grund dafür, dass er aus der elterlichen Firma ausbezahlt wurde, mag in seiner kränklichen Verfassung gelegen haben. Später scheint es ihm gelungen zu sein, die ihn heimsuchenden Migräneattacken durch Alpenfahrten einigermaßen in den Griff zu bekommen.3 Franz Reischs erste Auslandsreise führte über Mainz, Köln und Rotterdam nach New York und weiter über Pittsburg zur Weltausstellung in Chicago. Im folgenden Jahr ging es über Triest zunächst nach Damaskus, von dort nach Jerusalem und Ägypten und zurück über Venedig, Mailand und das Berner Oberland. Hier konnte Reisch den bereits blühenden Schweizer Fremdenverkehr in Augenschein nehmen. Die letzte große Reise führte über Norwegen nach Spitzbergen. Nach und nach eignete er sich eine gut sortierte Materialsammlung zu den Themen Tourismus, Verkehrswesen und Sport an.4
Der großgewachsene junge Kaufmann kleidete sich stets korrekt nach der in Deutschland üblichen Herrenmode der Gründerzeit mit Stehkragenhemd, Krawatte, Weste, dunklem Sakko und dunkelgrauer Hose. Einen Hut trug Reisch nur selten. Kein Wunder, dass diese urbane Erscheinung in der kleinen Bauern- und Knappenstadt anfangs skeptisch beäugt wurde. Den Haushalt des Junggesellen führte eine Wirtschafterin, die auch für ihn kochte. Die Abende verbrachte der lebenslustige Reisch in den verschiedenen Wirtshäusern der Stadt. Bald war er besonders im Gasthaus Tscholl in der Hinterstadt (heute Hotel Harisch) ein gerngesehener Gast, der mitreißend von seinen Erlebnissen erzählen konnte. Beim Tscholl trafen sich die Honoratioren – die Mitglieder des Stadtrats, die leitenden Beamten des Forstamts, des Gerichts, des Bergamts und der Bezirkshauptmannschaft, die Ärzte, Apotheker, Notare und Anwälte sowie die Geistlichkeit.
Schnell erkannte Franz Reisch, dass diese Herrschaften zwei unterschiedlichen politischen Lagern angehörten. Dass der Geist des Vormärz – trotz des gescheiterten Oktoberaufstandes – in Kitzbühel noch immer zahlreiche Anhänger hatte, war auf den damaligen Bürgermeister Joseph Traunsteiner zurückzuführen. Der war nicht nur Apotheker in Kitzbühel gewesen, sondern auch ein international anerkannter Botaniker. Traunsteiner hatte in Wien studiert und sorgte dafür, dass sich das damals wirklich noch freiheitliche Gedankengut von 1848 – dem Ideal eines demokratisch regierten großdeutschen Staates verpflichtet – in der Tiroler Kleinstadt fest verankerte. Als Zeichen dieser deutschnationalen Gesinnung soll 1848 über dem Kitzbüheler Rathaus die schwarz-rot-goldene Fahne geweht haben. Wie ein Zeitzeuge berichtete, wurde sie bis ins Jahr 1933 bei besonderen Anlässen gehisst.5
Die Kirche beobachtete die Verbreitung des bürgerlich-liberalen Gedankenguts mit erheblichem Unbehagen und versuchte nicht nur von der Kanzel aus gegenzusteuern. Auch in Kitzbühel wurde ein konsequent monarchistisch orientierter Meisterverein gegründet, um einem Abdriften der Handwerker ins „freiheitliche“ oder gar ins sozialdemokratische Lager entgegenzuwirken. Bei den von jeher eher links eingestellten Bergleuten war da so oder so Hopfen und Malz verloren. Denn die dachten und wählten aus tiefster Überzeugung sozialdemokratisch.
Franz Reisch war Peter Aufschnaiters Förderer und väterlicher Freund.
Obwohl auch Franz Reisch – wie die meisten studierten Herren beim Tscholl – aus seiner Sympathie für die „freiheitlich“-großdeutsche Sache keinen Hehl machte, war er kein Freund des Lagerdenkens, sondern suchte den Ausgleich zwischen den Parteien. Reisch war als Handelsvertreter und Reisender schon weit in der Welt herumgekommen und ein hervorragender Unterhalter. Wenn er von seinen Erlebnissen erzählte, hingen die Zuhörer an seinen Lippen. Bald engagierte sich Franz Reisch auch im örtlichen Männergesangsverein und bei den Turnern. Sein Frohsinn war ansteckend und die Kameraden hatten viel Spaß an seinen ungewöhnlichen Einfällen, mit denen er die Vereinsveranstaltungen würzte. Um es kurz zu machen: Ursprünglich hatte Franz Reisch nur so lange in Kitzbühel bleiben wollen, bis er einen qualifizierten Geschäftsführer für den örtlichen Filialbetrieb seiner Familie gefunden hatte. Aber es gefiel ihm so gut in Kitzbühel, dass der junge Kaufmann beschloss, das Städtchen zum dauerhaften Lebensmittelpunkt zu machen.
Als sich Franz Reisch im Januar 1893 zwei lange Bretter, die vorn in hochgezogenen Spitzen ausliefen, unter die Stiefel schnallte, um mit ihnen über verschneite Hänge zu Tal zu rutschen, dachten die meisten Einheimischen, der wunderliche Neubürger sei endgültig übergeschnappt. Dabei hatte...