HUNDEHALTUNG FRÜHER UND HEUTE
Die Hundehaltung, wie wir sie heute kennen, unterscheidet sich ganz massiv von der Hundehaltung, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten praktiziert wurde. Für sehr viele Hunde ist das ein großes Glück, da es zumindest in Deutschland wohl kaum noch reine Zwingerhunde oder Kettenhunde gibt. Andererseits hatten die Hunde vor 20 bis 30 Jahren gerade in ländlichen Regionen oft noch bedeutend mehr Freiheiten als ihre heute lebenden Artgenossen. Es gab wesentlich weniger Verkehr, sodass viele Hunde jederzeit selbstständig nach draußen gehen konnten, um ihr „Geschäft“ zu verrichten oder einfach mal etwas herumzustreunen. Die Hunde eines Dorfes kannten sich gut, Beißereien waren selten, und falls es doch einmal zu einer Auseinandersetzung kam, gingen die jeweiligen Besitzer eher entspannt damit um, statt, wie es heute oft zu beobachten ist, ebenfalls in Streit zu geraten und mit Anklage zu drohen.
Inzwischen sieht vieles anders aus. Hunde haben in unserer modernen Welt (ähnlich wie Kinder) weniger Freiheiten und Möglichkeiten zur Selbstbestimmung. Im Hinblick auf das stark gestiegene Verkehrsaufkommen dient das selbstverständlich ihrem eigenen Schutz, aber auch die gesamte Einstellung der Menschen hat sich verändert. Sie neigen dazu, mehr zu kontrollieren, wodurch sie absichern, aber auch einschränken.
Der Verlust der Freiräume brachte es mit sich, dass die Hunde von heute weniger Gelegenheit haben, ihre eigenen Routinen zu entwickeln, die ihnen Sicherheit geben. Das wiederum äußert sich nicht selten in mangelnder Ausgeglichenheit und Souveränität. Die Folgen davon sind häufig Dinge wie Unverträglichkeit mit Artgenossen, fehlende Frustrationstoleranz beziehungsweise Selbstbeherrschung und zahlreiche weitere problematische Verhaltensweisen.
Wild lebende Hunde und Hunde von Obdachlosen
Betrachten wir zunächst einmal Hunde, die in südlichen Ländern in halbwilden Rudeln leben. Ihre Hauptbeschäftigung sind die Wasser- und Nahrungssuche sowie die Nahrungsaufnahme. Meistens sind sie dabei nicht in ihrer Gruppe, sondern allein oder zu zweit unterwegs, denn sie machen lediglich auf kleine Tiere Jagd und stöbern im Abfall. Darüber hinaus kommt es gelegentlich zur Verteidigung von Ressourcen und anderen Rangeleien. Wenn der Futterzustand es erlaubt, gibt es, vor allem bei jüngeren Hunden, zwischendurch auch kurze Spieleinheiten. Fortpflanzung sowie Markieren und ruhiges Durchstreifen des Reviers sind ebenfalls zu beobachten. Was wild lebende Hunde jedoch die meiste Zeit über tun, nämlich immer dann, wenn sie kein anderes Bedürfnis befriedigen müssen, ist ruhen. Wie lang genau ist individuell verschieden, fest steht jedoch, dass Hunde im Allgemeinen ein deutlich höheres Schlaf- und Ruhebedürfnis haben als Menschen. Experten zufolge liegt es bei ungefähr 16 bis 18 Stunden pro Tag! Hier spielt auch das Alter eine Rolle. Welpen und Senioren brauchen mehr Ruhe als Hunde in ihren besten Jahren. Es bleiben jedenfalls nur ungefähr 6 bis maximal 8 Stunden übrig, in denen ein Hund tatsächlich aktiv wäre, wenn er sich frei entscheiden könnte. Wie diese freiwillige Aktivität aussehen kann, werden wir uns später noch genauer ansehen.
Wild lebende Hunde ruhen die meiste Zeit des Tages. (Foto: Shutterstock.com/Bilanol)
Bei Hunden von Wohnungslosen kann man oft Ähnliches beobachten. Sie liegen einen großen Teil des Tages mehr oder weniger regungslos bei ihren Besitzern – und das sehr häufig ohne Leine. Noch dazu haben diese Hunde oft eine ausgesprochen hohe soziale Kompetenz und verhalten sich keinesfalls streitlustig oder in anderer Weise reaktiv. Sie wirken in der Regel gesund und zufrieden.
Betrachtet man im Gegensatz dazu quantitativ stark ausgelastete Hunde, wird man nicht selten etwas ganz anderes beobachten: Sie weisen oftmals eine vergleichsweise niedrige Frustrationstoleranz auf, vertragen sich schlecht mit anderen Hunden, können schnellen Bewegungen nicht widerstehen, sondern hetzen Auslösern wie Inlineskatern, Joggern, Fahrradfahrern, Autos oder sogar Zügen unkontrolliert hinterher, neigen zum Kläffen, sind insgesamt nervös und leiden zudem unter Verdauungs- und/oder Hautproblemen.
Wenn Hunde, wie dieser Hofhund, ihren Tagesablauf weitgehend selbst bestimmen dürfen, verhalten sie sich ebenso ruhig wie ihre wild lebenden Verwandten. (Foto: Steffi Rumpf)
Wer nun bedenkt, dass viele „Hundeprofis“ Beschäftigung und Auslastung als ultimative Problemlösungen empfehlen, der wird sich zu Recht fragen, wie das mit dem gerade Beschriebenen zusammenpasst.
Gedanken zu den Grundbedürfnissen von Hunden
Im Folgenden möchte ich die Grundbedürfnisse unserer Hunde einmal genauer betrachten und ein bisschen näher darauf eingehen, was es bedeutet, sie zu erfüllen, und wozu es führt, wenn sie nicht erfüllt werden. Letzteres passiert übrigens häufig nicht aus böser Absicht, sondern sehr oft auch dann, wenn der Mensch es für seinen Hund eigentlich besonders gut meint.
DAS PRINZIP DER SELBSTBESTIMMUNG
Die Bedeutung der Selbstbestimmung für das Wohlbefinden eines Lebewesens wird häufig unterschätzt. Wenn man allerdings ein wenig darüber nachdenkt, fällt es vermutlich nicht besonders schwer, sich vorzustellen, wie eingeschränkt man sich fühlt, wenn man sein Leben nicht mehr selbst in der Hand hat. Unsere Hunde müssen mit diesem Zustand in vielen Bereichen ihres Lebens zurechtkommen: Wir kontrollieren, wann sie fressen, was sie fressen, wann sie nach draußen dürfen und wohin sie gehen, wie lange sie draußen sind, wann sie allein zu Hause bleiben müssen, wann sie eine möglichst hohe Leistung in einer von uns ausgewählten Hundesportart erbringen sollen, wann sie schmusen, wann und mit wem sie spielen und mit wem sie sich vertragen sollen und so weiter.
Noch wesentlich stärker nehmen wir Einfluss darauf, was unsere Hunde NICHT tun dürfen: nicht an der Leine ziehen, nicht kläffen, nicht jagen, keine Menschen verbellen, keine anderen Hunde attackieren (auch nicht, wenn diese ins eigene Revier „eindringen“), nichts (in ihren Augen verlockendes) Fressbares vom Boden aufnehmen, nicht winseln, wenn es ihnen langweilig ist, nicht betteln, niemanden anspringen, nicht auf die Couch/nicht aufs Bett springen, keine nervigen Kinder in ihre Schranken weisen und vieles mehr.
Hunde waren im Lauf ihrer Evolution wahrscheinlich noch nie so stark eingeschränkt wie aktuell, und sie kommen mit vielen dieser Einschränkungen erstaunlich gut zurecht. Das ändert aber nichts daran, dass sie, wie jedes Säugetier, weiterhin ein Bedürfnis nach Selbstbestimmung haben. Es ist also wichtig, dass wir dem Hund im Zusammenleben mit uns und im Verlauf seiner Ausbildung das Gefühl vermitteln, dass er seinen Zustand aktiv beeinflussen kann. Der Schlüssel ist hier Training mit positiver Motivation, beispielsweise Clickertraining, bei dem der Hund die Erfahrung macht, dass er in der Lage ist, durch sein Verhalten etwas zu erreichen.
Das früher vorherrschende und heute leider immer noch häufig praktizierte Training mit negativen Konsequenzen, Zwangsmaßnahmen und -mitteln führt zum Gegenteil. Es versetzt den Hund früher oder später in den Zustand der sogenannten erlernten Hilflosigkeit. Nach außen hin wirken solche Hunde sehr brav und fügsam, tatsächlich zeigen sie jedoch keinerlei Eigeninitiative mehr, weil sie gelernt haben, dass diese ohne Aussicht auf Erfolg ist. Dies ist sicherlich etwas, was sich kein Leser dieses Buches für seinen Hund wünscht.
Das dürfen Hunde heute viel zu selten: einfach tun, wozu sie gerade Lust haben. (Foto: Sylvia Steiner)
DAS SCHLAF- UND RUHEBEDÜRFNIS
Schlaf dient der Regeneration, der Verarbeitung von Erlerntem und von gemachten Erfahrungen. Nur wenn ein Säugetier ausreichend Ruhe und Schlaf bekommt, kann es sich optimal an seine Umwelt anpassen und aus Erfahrungen oder durch Training lernen. Positive Erlebnisse werden abgespeichert, negative Erlebnisse im Idealfall relativiert. Zu wenig Ruhe oder ein Mangel an Tiefschlafphasen erhöht hingegen die Gefahr, dass das Tier schlechter lernt sowie nervös, unruhig und unkonzentriert wird, wodurch es überdurchschnittlich stark auf Außenreize reagiert und leichter ablenkbar ist.
Die verschiedenen Säugetierarten haben ein sehr unterschiedliches Schlaf- und Ruhebedürfnis. Das des Menschen, der ebenfalls zu dieser zoologischen Klasse zählt, ist deutlich niedriger als das von Hunden. Dies wird leider häufig außer Acht gelassen. Bedenken Sie: Überbeschäftigung gefährdet die Gesundheit und Ausgeglichenheit eines Hundes mindestens ebenso sehr wie Unterbeschäftigung, oft sogar mehr!
TRINKEN, NAHRUNGSBESCHAFFUNG UND FRESSEN
Frisches Wasser steht wohl den meisten Hunden jederzeit zur freien Verfügung. Ein weiteres Grundbedürfnis, die Nahrungsbeschaffung, wird jedoch in...