Back to the roots!
Vor unserem Haus steht ein altes Weinfass mit einer Blumenschale darauf. Im letzten Mai hatte sich ein Meisenpaar das Loch im Fass als Wohnung für seine Brut ausgesucht und darin ein Nest gebaut. Wenn ich draußen saß, konnte ich das Treiben der Vogeleltern aus nächster Nähe betrachten. Mit großem Interesse habe ich das Wirken der Natur verfolgt: Als die Kleinen geschlüpft waren, hat immer einer der Großen – bei den Kohlmeisen unterscheiden sich Männchen und Weibchen nicht, deshalb wusste ich nie, welches von beiden gerade am Zuge war – die Nacht mit den Kleinen verbracht. Es war sehr spannend, zu sehen, wie sich das abspielte: Ein Elternteil verschwand im Loch, der andere blieb noch eine Weile in der Nähe auf dem Zaun und verschwand dann, um die Nacht irgendwo anders zu verbringen. Eines Abends saßen mein Mann und ich da, ohne dass Meiseneltern zur Fütterung kamen oder die Nacht mit den Jungen verbracht hatten. Was war los? War vielleicht etwas passiert? Was geschieht jetzt mit den Jungen? Wir machten uns schon Sorgen. Am nächsten Morgen flogen die Jungen aus. Uns wurde klar: Das musste so sein. Das Nicht-mehr-Füttern und Wegbleiben der Eltern waren evolutionsbiologisch das Signal für die Jungen: Raus aus dem Nest! Es ist Zeit, auszufliegen.
Ein solcher Evolutionsplan gilt auch für den Menschen, den Homo sapiens, und je besser Eltern ihn kennen, desto besser kann sich der kleine Homo sapiens entwickeln. Denn nur so können sie dem Kind die richtigen Impulse zur richtigen Zeit geben. Wären wir die Vogeleltern, könnten wir nicht einfach aufhören, die Jungen zu füttern, denn wir empfänden das als grausam. Aber die Biologie wertet nicht. Wir fühlten uns verantwortlich, alles Mögliche zu unternehmen; wir würden warten, Zeit geben, verbal auffordern usw. Dieses Verhalten der Eltern ist aber in der Natur so nicht vorgesehen und wäre eine Irritation für die Jungvögel, die ihre Entwicklung stören würde. Auch für uns Menschen gilt: Je kleiner der Nachwuchs, desto mehr ist er darauf angewiesen, dass seine Eltern sich richtig verhalten. Wir wissen, wie heikel und störungsanfällig die Entwicklung im Mutterleib ist. In der Natur nicht vorkommende Substanzen, Medikamente, Chemikalien, aber auch Suchtmittel, können massiven Schaden anrichten.
Nach der Geburt geht es für den kleinen Homo sapiens darum, das sensible Nervensystem aufzubauen, die Körperfunktionen in Gang zu bringen, sich selbst wahrzunehmen, sich zu erfahren. Zudem ist es wichtig, zu wissen, dass wir auch ein soziales und regulatives Nervensystem haben, welches das Miteinander und die Gefühlsebene kontrolliert, reguliert und steuert. Das gelingt aber nur, wenn der kleine Homo sapiens von seinen Eltern verständliche Signale bekommt, die auf seinen genetischen Bauplan abgestimmt sind.
Die Eltern tun also am besten nur so viel wie jeweils nötig – nur so viel, dass es das Baby allein schafft. Und nicht nur das: Gleichzeitig sorgen sie für die entsprechenden Signale und Impulse, die das Kind anregen, sich zu entwickeln. »Hilf mir, es selbst zu tun!«, formulierte bereits Maria Montessori den Leitgedanken ihrer Pädagogik. Als eine der Ersten erkannte sie auch, dass Kinder anders sind und wir Erwachsenen mit unseren Maßstäben kindliche Entwicklung und kindliches Lernen nicht angemessen verstehen und fördern können.
Der genetische Bauplan
Was aber ist bei Kindern anders? Worauf und in welcher Art reagieren sie? Was löst was bei ihnen aus? Wo liegen die biologischen Ursachen und entwicklungspsychologischen Gründe, warum der kleine Homo sapiens so und nicht anders reagiert? Welche Signale und Impulse braucht er von seinen Eltern, damit er sich gut entwickeln kann?
Betrachten wir einmal den genetischen Bauplan, der uns Menschen von Beginn des Lebens an zugrunde liegt und nach dem sich jeder Mensch verhält. So wird das gesunde Baby nach der Geburt, wenn es auf den Bauch der Mutter gelegt wird, die Brustwarze suchen, und zwar völlig selbstständig. Das Einzige, was der kleine Homo sapiens dazu braucht, ist die Mutter. Haben Sie sich noch nie gewundert, dass frisch geborene Säugetiere haargenau wissen, was sie zu tun haben? Sie alle finden die Zitzen der Mutter, ohne dass man sie durch Signale leitet. Eltern vertrauen darauf, dass sich das Baby bei Hunger meldet. Es wird aber sicher nicht die Hand ausstrecken und sagen: »Ich habe Hunger!«, sondern hat eine evolutionsbedingte Ausdrucksweise. Auf diese gilt es zu achten, diese gilt es zu verstehen und zu interpretieren. Denn nur dann kann der kleine Homo sapiens verständliche Signale zurückschicken.
Wir alle werden durch Stimulation, Reize, Impulse und Signale geleitet, das Richtige zu tun – das ist die Sprache der Evolutionsbiologie. Das Richtige heißt in der Biologie immer »was dem Leben dient«. Die Haut der Mutter, auf der das Kleine liegt, ist die Stimulation, sich vorwärts in Richtung Brustwarze zu bewegen. Die Brustwarze, die es an seiner Wange spürt, ist der Reiz, den Mund in diese Richtung zu drehen und sie mit dem Mund zu fassen. Die Händchen, die gegen die Brust stoßen, geben den Impuls, der den Milchfluss anregt, usw.
Die Mutter folgt ebenfalls einem natürlichen Impuls, wenn sie ihr Baby darin unterstützt, die Brustwarze zu erreichen. Sie sollte aber nicht mehr machen, als dazu tatsächlich erforderlich ist. Denn von Geburt an entsteht eine Wechselwirkung zwischen Säugling und Mutter. Biologie ist nie nur eine Einbahnstraße, sondern basiert immer auf Wechselwirkung.
Das Baby löst bei uns ein Verhalten aus, das auf Hilfe, Unterstützung und Schutz ausgerichtet ist, damit findet Bonding (Bindung) statt. Bonding ist wichtig, denn es führt zu sicher gebundenen Kindern. Und nur ein sicher gebundenes Kind kann sich stressfrei und optimal entwickeln. Das biologische Prinzip der Wechselwirkung dürfen wir aber nicht vergessen, d. h., Eltern sollten immer auch bedenken, was sie mit ihrem Handeln beim Säugling oder Kind auslösen. Da sich der kleine Homo sapiens entwickeln soll, dürfen Sie ihm nicht die ganze »Arbeit« abnehmen. Denn er muss – und will! – sich seine Erfahrungen selbst erarbeiten. Zudem ist es interessant, zu wissen, dass er dabei klar nach seinem genetischen Bauplan vorgeht. Kommt der Plan ins Stocken, wird der kleine Homo sapiens sofort unsicher. Häufen sich die Irritationen, bereitet es ihm großen Stress und er beginnt zu schreien. Das wiederum verunsichert die Eltern, da sie doch meinen, ihr Kind maximal unterstützt zu haben. Es ist also wichtig, zu verstehen, dass die biologischen Wechselwirkungen am Anfang des Lebens höchst sensibel reagieren und der kleine Homo sapiens darauf angewiesen ist, die richtigen evolutionsbiologischen Signale zu bekommen.
Auf die Signale kommt es an
Seit vielen Jahren arbeite ich auch als Craniosacral-Therapeutin in eigener Praxis. Ich behandle mit dieser achtsamen Körpertherapie Menschen jeden Alters, auch Neugeborene. Die Craniosacral- Therapie ist eine Körperarbeit, bei der mit größtmöglicher Sorgfalt, Achtsamkeit und Neutralität der Persönlichkeit des Klienten begegnet wird. Mit feinen manuellen Impulsen unterstützt die Therapeutin »das System« des Klienten, damit die Eigenregulation einsetzen und Selbstheilung stattfinden kann. Um es mit einfachen Worten auszudrücken: Die Craniosacral-Therapie ebnet den Weg zum Gesunden in jedem Körper und öffnet die Türen für die persönlichen Ressourcen. Vor allem Eltern von Schreibabys und Kinder mit emotionalen und körperlichen Spannungen kommen zu mir, und ich erlebe die große Not auf beiden Seiten.
Viele Kinder haben einen permanent gespannten Muskeltonus. Zu Beginn der Therapie fühlen sie sich oft an wie Holz – so erstarrt sind sie bereits. Sie überstrecken den Rücken, gehen in den sogenannten Opisthotonus, symptomatisch ist auch ihr häufiges Schreien. Bei diesen Kindern dient das Schreien in der Therapie der Entladung. Selbst wenn das Kind während der ganzen Behandlung geschrien hat, stellen die Eltern meist fest, dass es sich schon unmittelbar danach deutlich weicher anfühlt.
Eltern wissen meist nicht, wie sie mit dem Verhalten ihres Kindes umgehen sollen. Kinder, die viel weinen, schreien, immerzu quengeln, oft Wutausbrüche haben und sich den Eltern widersetzen, sie womöglich sogar herumkommandieren oder gar schlagen, sind in meiner Praxis schon lange keine Ausnahme mehr. Die Eltern dieser Kinder schwanken meist...